Manche osteuropäischen und russischen Dissidenten aus der Sowjetzeit mutierten bald danach zu Nationalisten. Das traf auf den 1974 mit seiner Familie in den Westen ausgewanderten Mstislaw Rostropowitsch zu, der zwar nach dem Mauerfall nach Berlin eilte, um am Checkpoint Charlie demonstrativ sein Cello auszupacken – aber bald darauf für die westlichen Meinungsmacher tabu wurde, weil er unter anderem der ZEIT (2006) mitgeteilt hatte, dass er Putin schätze, »weil dieser wisse, wie man mit Russland umgehen müsse«. Mehr noch verkörperte eine solche persönliche Entwicklung Alexander Solschenizyn, der zwar ursprünglich als Leninist gelten konnte, für den aber die Betonung des »Vaterlandes« im »Großen Vaterländischen Krieg« bald zu einer Rückbesinnung auf »das Russische« führte, was – solange die Sowjetunion existierte – aus Sicht westlicher Kommentatoren seinen Stalinismus-Kritiken nur eine pikante Note verlieh. Danach allerdings galt er für die Propagandisten der westlichen Länder als verirrt, für ihre Zwecke unbrauchbar, und verschwand aus den Medien. Auch anderswo konnte man sehen, dass das Scheitern dessen, was als Sozialismus angestrebt wurde, bei manchen Intellektuellen in der Rückkehr zur »Nation« endete.
Bei berühmten Dissidenten in den USA ist das in der Regel anders. Entweder werden sie umgebracht, vor allem, wenn sie schwarz sind wie Martin Luther King oder Malcolm X, oder sie werden als Spinner abgetan und ignoriert und sind der öffentlichen Wahrnehmung weitgehend entzogen. Noam Chomsky gilt da eher als exotische Ausnahme, der noch dann und wann mit einem Zitat von angeblich kritischen Leuten benutzt wird, während andere mit Blick auf sein biblisches Alter offenbar nur noch auf seinen Tod warten, um ihm in ihren längst vorbereiteten Nachrufen geheuchelte Kränze zu flechten, damit sie ihn dann in der Versenkung verschwinden lassen können.
Gore Vidal, der vor 100 Jahren, am 3. Oktober 1925 geboren wurde (und 2012 verstarb), ist dieser Versenkung schon so gut wie anheimgefallen. Dabei war er wie kaum ein Intellektueller im US-Establishment verankert, verwandt mit dem ehemaligen US-Vizepräsidenten Al Gore und Stiefbruder von Jacqueline Kennedy-Onassis und daher eine Zeit lang eng mit dem Kennedy-Clan verbandelt. Aber er war nicht nur als Schriftsteller, Drehbuchautor und Schauspieler ein Außenseiter in dieser Hautevolee, sondern auch durch seine offen gelebte und in manchen Büchern thematisierte Homosexualität.
Der Politaktivist (Parteigründer, Präsidentschaftskandidat), Drehbuchautor, Schriftsteller verschiedener Genres und Mitglied der American Academy of Arts and Letters soll hier eines einzigen dünnen Buches wegen vor den Vorhang geholt werden: »Ewiger Krieg für ewigen Frieden. Wie Amerika den Hass erntet, den es gesät hat«. Es handelt sich um eine Sammlung von Aufsätzen, die 2002 in New York und 2003 in deutscher Sprache in Hamburg erschien.
Das schmale Bändchen besteht aus Aufsätzen, die zwei Ereignisse in den USA mit der US-Außenpolitik in Beziehung setzen und umgekehrt; einerseits das Attentat vom 19. April 1995 in Oklahoma City, als der hoch dekorierte Infanteriesoldat Timothy McVeigh ein Bundesgebäude in die Luft sprengte und dabei 168 Frauen, Kinder und Männer tötete. Als zweites Ereignis diente der Anschlag vom 11.September 2001 auf das World Trade Center. Mit einem Text zu Letzterem beginnt das Buch, wobei dieser Beitrag zunächst auf dem Umweg über Brasilien und Mexiko in Italien erschien, bevor er ein Jahr danach die Publikationsverweigerung in den USA durchbrach.
Gore Vidal spricht häufig von der »Pentagon-Junta«, die 2002 »die Zerstörung Afghanistans durch unsere hochfliegende Luftwaffe als großen Sieg verkaufte (dass die Afghanen nicht mit den Vereinigten Staaten verfeindet waren, erwähnt in diesem Zusammenhang niemand – als würde man Palermo zerstören, um die Mafia auszulöschen)«. Und er erinnert die »amnesischen Medien« daran, dass »unser Angestellter« (gegen den Iran), Saddam Hussein, »über Nacht zum Satan wurde«, in der Hoffnung, dass dessen Bevölkerung ihn stürzt – »so wie man von den Kubanern angesichts ihrer von den USA aufgezwungenen Armut erwartete, dass sie Castro aus dem Amt jagten, als er sich hartnäckig weigerte, von den Kennedy-Brüdern in ihrer sogenannten Operation Mongoose ermordet zu werden. Unsere imperialistische Verachtung für die von Geburt weniger Begünstigten blieb der jüngsten Generation gebildeter Saudis nicht verborgen«, wie Osama bin Laden. Und die Verachtung des Rests der Welt scheint Programm zu sein: »Die Regierung Bush (…) hat einen Großteil der Verträge, denen sich zivilisierte Nationen verpflichtet fühlen, beiläufig in Stücke gerissen – wie etwa das Kyoto-Abkommen oder den Atomwaffenvertrag mit Russland.«
Für viele Staaten und Völker liegt dies immer offener auf der Hand, wie Vidal aus eigener Recherche vier Jahrzehnte davor wusste. Für eine US-Zeitschrift war er damals nach Kairo gefahren, um den damaligen Präsidenten Nasser zu interviewen, dessen Unabhängigkeitspolitik von den westlichen Ländern angegriffen wurde. Vidal erreichte aber lediglich Nassers engsten Berater Mohammed Hekal: »Wir haben etwas Seltsames festgestellt«, erklärte Hekal: »Die jungen Männer vom Lande – die klugen, die wir zu Ingenieuren, Chemikern und so weiter ausbilden wollen, wenden sich mit der Religion gegen uns.« Vidal fragte: »Eine Bewegung von rechts?« – »Sehr weit rechts«, so Hekal, die das angriff, was »für Nassers modernen Staat Modell gestanden hatte«. Weltoffene Befreiungsbewegungen und Eigenstaatlichkeiten waren gelegentlich zu Kompromissen mit imperialen Mächten gezwungen, was zu religiös-fundamentalistischer Abneigung beitrug.
Vidal warf den Mächtigen seines Landes immer wieder »vorsätzliches Vergessen« vor. Denn sie ließen Erklärungen für das Handeln von Gegnern nicht zu. Diese seien »die Bösen«, und damit basta. Der Anschlag vom 9.11.2001, so bringt er die US-Innenpolitik ins Spiel, »ist nichts im Vergleich zu dem Todesstoß, der unseren ohnehin schon schwindenden Freiheiten versetzt wurde – durch das Antiterrorgesetz von 1996 im Verbund mit den (…) Sondervollmachten, die erlauben, dauerhaft bei uns lebende Menschen (…) ohne ordentliches Gerichtsverfahren auszuweisen usw.« Und das Lager auf Guantanamo nennt er »Konzentrationslager«. Dem stellt er ein Zitat gegenüber und fragt: »Stammt es von Clinton? Von Bush?« – Um dann Hitler als Autor mit seiner Rede zum Ermächtigungsgesetz zu nennen. Vidal beschließt den Beitrag mit zwölf Seiten einer Auflistung all jener militärischen »Operationen« der USA in aller Welt vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zum Jahr 2000, um sein Bonmot von »unserem Feind des Monats« zu untermauern. Und er zitiert den Historiker Charles A. Beard (1874-1948), von dem die titelgebende Diagnose vom »ewigen Krieg für ewigen Frieden« stammt.
Zwei Jahre nach dem Anschlag McVeighs in Oklahoma City schrieb Vidal für die Zeitschrift Vanity Fair einen längeren Essay, in dem er im Detail nachwies, dass im Verlauf der letzten Jahrzehnte »die Bill of Rights, die aus den zehn 1791 verabschiedeten Verfassungszusätzen besteht«, ausgehöhlt und gegenstandslos gemacht wurde. »Der ständige Ausnahmezustand ist so schlimm, dass wir uns Mätzchen wie den Schutz der Privatsphäre oder ordentliche Gerichtsverfahren nicht mehr leisten können.« Eigentums-, Steuer-, Finanzrechte und der zentrale Vorwand der Anti-Drogenpolitik (während »diese mitfühlenden Wächter unseres Wohlergehens (…) uns seit Jahren standhaft verweigern, was in jedem anderen Industrieland schlichtweg selbstverständlich ist, nämlich eine allgemeine Krankenversicherung«) richten sich gegen jene 99 Prozent der Bevölkerung, die sich die Befreiung davon nicht erkaufen können. »Prompt erblühen Verschwörungstheorien (…), und die Menschen in ihrem Bann machen sich unweigerlich zum Gespött der (…) wirklichen Verschwörer.« Wie McVeigh, dem Vidal einen übersteigerten Gerechtigkeitssinn attestierte und der medial schließlich in eine Mischung aus »das Böse« und geistesgestört verwandelt wurde.
Bushs Golfkrieg »öffnete ihm die Augen, wie die meisten Kriege denen die Augen öffnen, die sie ausfechten müssen«, so dass »McVeigh im Irak überrascht feststellt, ›die sind ja genauso normal wie du und ich. Man hat uns fanatisiert, um sie abzuknallen. (…) Der Krieg hat mich wachgerüttelt.‹« Zum Tod verurteilt liest er im Gefängnis Vidals Artikel und nimmt Kontakt zu ihm auf. Über die daraus folgenden Begegnungen verfasste Vidal schließlich einen weiteren Text: »Über die Bedeutung von Timothy McVeigh«, in dem er diagnostiziert: »Nachdem schon seit einem halben Jahrhundert die Russen kommen, gefolgt von den Terroristen der immer zahlreicher werdenden Schurkenstaaten und dem anhaltenden Gespenst der Drogenkriminalität, lässt man der Bevölkerung, die so regelmäßig – so eindringlich – desinformiert wird, kaum eine Pause zum Durchatmen.« Und weiter zitiert er den Attentäter selbst: »Die Bombardierung des Murrah-Gebäudes (in Oklahoma City) entspricht moralisch und strategisch der von den Vereinigten Staaten durchgeführten Zerstörung eines staatlichen Gebäudes in Serbien, im Irak oder in anderen Ländern. Gestützt auf die Beobachtung, wie meine eigene Regierung handelt, erschien mir diese Tat als eine annehmbare Option.«
Das Buch wird abgeschlossen von einem offenen Brief an George Bush jun., der im Dezember 2000 vor dessen Amtsantritt in Vanity Fair erschien. Wie die übrigen Texte ist er durchzogen von einem beißenden Zynismus, der die auf das Kommando der eigenen Oligarchie hörende »Pentagon-Junta« verhöhnt: »Wir, das unrepräsentierte Volk der Vereinigten Staaten, sind ebenso Opfer dieser militarisierten Regierung wie die Panamaer, die Irakis oder die Somalis (…); wir selbst sind zum größten Schurkenstaat überhaupt geworden.«
Solche Texte würden heute in Europa, insbesondere in Deutschland und bei der EU-Kommissionsbürokratie, wohl als Auswurf eines Terrorismus-Verstehers an den Pranger gestellt.