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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Gore Vidal: Ewiger Krieg zum ewigen Frieden

Man­che ost­eu­ro­päi­schen und rus­si­schen Dis­si­den­ten aus der Sowjet­zeit mutier­ten bald danach zu Natio­na­li­sten. Das traf auf den 1974 mit sei­ner Fami­lie in den Westen aus­ge­wan­der­ten Mst­is­law Rostro­po­witsch zu, der zwar nach dem Mau­er­fall nach Ber­lin eil­te, um am Check­point Char­lie demon­stra­tiv sein Cel­lo aus­zu­packen – aber bald dar­auf für die west­li­chen Mei­nungs­ma­cher tabu wur­de, weil er unter ande­rem der ZEIT (2006) mit­ge­teilt hat­te, dass er Putin schät­ze, »weil die­ser wis­se, wie man mit Russ­land umge­hen müs­se«. Mehr noch ver­kör­per­te eine sol­che per­sön­li­che Ent­wick­lung Alex­an­der Sol­sche­ni­zyn, der zwar ursprüng­lich als Leni­nist gel­ten konn­te, für den aber die Beto­nung des »Vater­lan­des« im »Gro­ßen Vater­län­di­schen Krieg« bald zu einer Rück­be­sin­nung auf »das Rus­si­sche« führ­te, was – solan­ge die Sowjet­uni­on exi­stier­te – aus Sicht west­li­cher Kom­men­ta­to­ren sei­nen Sta­li­nis­mus-Kri­ti­ken nur eine pikan­te Note ver­lieh. Danach aller­dings galt er für die Pro­pa­gan­di­sten der west­li­chen Län­der als ver­irrt, für ihre Zwecke unbrauch­bar, und ver­schwand aus den Medi­en. Auch anders­wo konn­te man sehen, dass das Schei­tern des­sen, was als Sozia­lis­mus ange­strebt wur­de, bei man­chen Intel­lek­tu­el­len in der Rück­kehr zur »Nati­on« endete.

Bei berühm­ten Dis­si­den­ten in den USA ist das in der Regel anders. Ent­we­der wer­den sie umge­bracht, vor allem, wenn sie schwarz sind wie Mar­tin Luther King oder Mal­colm X, oder sie wer­den als Spin­ner abge­tan und igno­riert und sind der öffent­li­chen Wahr­neh­mung weit­ge­hend ent­zo­gen. Noam Chom­sky gilt da eher als exo­ti­sche Aus­nah­me, der noch dann und wann mit einem Zitat von angeb­lich kri­ti­schen Leu­ten benutzt wird, wäh­rend ande­re mit Blick auf sein bibli­sches Alter offen­bar nur noch auf sei­nen Tod war­ten, um ihm in ihren längst vor­be­rei­te­ten Nach­ru­fen geheu­chel­te Krän­ze zu flech­ten, damit sie ihn dann in der Ver­sen­kung ver­schwin­den las­sen können.

Gore Vidal, der vor 100 Jah­ren, am 3. Okto­ber 1925 gebo­ren wur­de (und 2012 ver­starb), ist die­ser Ver­sen­kung schon so gut wie anheim­ge­fal­len. Dabei war er wie kaum ein Intel­lek­tu­el­ler im US-Estab­lish­ment ver­an­kert, ver­wandt mit dem ehe­ma­li­gen US-Vize­prä­si­den­ten Al Gore und Stief­bru­der von Jac­que­line Ken­ne­dy-Onas­sis und daher eine Zeit lang eng mit dem Ken­ne­dy-Clan ver­ban­delt. Aber er war nicht nur als Schrift­stel­ler, Dreh­buch­au­tor und Schau­spie­ler ein Außen­sei­ter in die­ser Haute­vo­lee, son­dern auch durch sei­ne offen geleb­te und in man­chen Büchern the­ma­ti­sier­te Homosexualität.

Der Polit­ak­ti­vist (Par­tei­grün­der, Prä­si­dent­schafts­kan­di­dat), Dreh­buch­au­tor, Schrift­stel­ler ver­schie­de­ner Gen­res und Mit­glied der Ame­ri­can Aca­de­my of Arts and Let­ters soll hier eines ein­zi­gen dün­nen Buches wegen vor den Vor­hang geholt wer­den: »Ewi­ger Krieg für ewi­gen Frie­den. Wie Ame­ri­ka den Hass ern­tet, den es gesät hat«. Es han­delt sich um eine Samm­lung von Auf­sät­zen, die 2002 in New York und 2003 in deut­scher Spra­che in Ham­burg erschien.

Das schma­le Bänd­chen besteht aus Auf­sät­zen, die zwei Ereig­nis­se in den USA mit der US-Außen­po­li­tik in Bezie­hung set­zen und umge­kehrt; einer­seits das Atten­tat vom 19. April 1995 in Okla­ho­ma City, als der hoch deko­rier­te Infan­te­rie­sol­dat Timo­thy McV­eigh ein Bun­des­ge­bäu­de in die Luft spreng­te und dabei 168 Frau­en, Kin­der und Män­ner töte­te. Als zwei­tes Ereig­nis dien­te der Anschlag vom 11.September 2001 auf das World Trade Cen­ter. Mit einem Text zu Letz­te­rem beginnt das Buch, wobei die­ser Bei­trag zunächst auf dem Umweg über Bra­si­li­en und Mexi­ko in Ita­li­en erschien, bevor er ein Jahr danach die Publi­ka­ti­ons­ver­wei­ge­rung in den USA durchbrach.

Gore Vidal spricht häu­fig von der »Pen­ta­gon-Jun­ta«, die 2002 »die Zer­stö­rung Afgha­ni­stans durch unse­re hoch­flie­gen­de Luft­waf­fe als gro­ßen Sieg ver­kauf­te (dass die Afgha­nen nicht mit den Ver­ei­nig­ten Staa­ten ver­fein­det waren, erwähnt in die­sem Zusam­men­hang nie­mand – als wür­de man Paler­mo zer­stö­ren, um die Mafia aus­zu­lö­schen)«. Und er erin­nert die »amne­sischen Medi­en« dar­an, dass »unser Ange­stell­ter« (gegen den Iran), Sad­dam Hus­sein, »über Nacht zum Satan wur­de«, in der Hoff­nung, dass des­sen Bevöl­ke­rung ihn stürzt – »so wie man von den Kuba­nern ange­sichts ihrer von den USA auf­ge­zwun­ge­nen Armut erwar­te­te, dass sie Castro aus dem Amt jag­ten, als er sich hart­näckig wei­ger­te, von den Ken­ne­dy-Brü­dern in ihrer soge­nann­ten Ope­ra­ti­on Mon­goo­se ermor­det zu wer­den. Unse­re impe­ria­li­sti­sche Ver­ach­tung für die von Geburt weni­ger Begün­stig­ten blieb der jüng­sten Gene­ra­ti­on gebil­de­ter Sau­dis nicht ver­bor­gen«, wie Osa­ma bin Laden. Und die Ver­ach­tung des Rests der Welt scheint Pro­gramm zu sein: »Die Regie­rung Bush (…) hat einen Groß­teil der Ver­trä­ge, denen sich zivi­li­sier­te Natio­nen ver­pflich­tet füh­len, bei­läu­fig in Stücke geris­sen – wie etwa das Kyo­to-Abkom­men oder den Atom­waf­fen­ver­trag mit Russland.«

Für vie­le Staa­ten und Völ­ker liegt dies immer offe­ner auf der Hand, wie Vidal aus eige­ner Recher­che vier Jahr­zehn­te davor wuss­te. Für eine US-Zeit­schrift war er damals nach Kai­ro gefah­ren, um den dama­li­gen Prä­si­den­ten Nas­ser zu inter­view­en, des­sen Unab­hän­gig­keits­po­li­tik von den west­li­chen Län­dern ange­grif­fen wur­de. Vidal erreich­te aber ledig­lich Nas­sers eng­sten Bera­ter Moham­med Hekal: »Wir haben etwas Selt­sa­mes fest­ge­stellt«, erklär­te Hekal: »Die jun­gen Män­ner vom Lan­de – die klu­gen, die wir zu Inge­nieu­ren, Che­mi­kern und so wei­ter aus­bil­den wol­len, wen­den sich mit der Reli­gi­on gegen uns.« Vidal frag­te: »Eine Bewe­gung von rechts?« – »Sehr weit rechts«, so Hekal, die das angriff, was »für Nas­sers moder­nen Staat Modell gestan­den hat­te«. Welt­of­fe­ne Befrei­ungs­be­we­gun­gen und Eigen­staat­lich­kei­ten waren gele­gent­lich zu Kom­pro­mis­sen mit impe­ria­len Mäch­ten gezwun­gen, was zu reli­gi­ös-fun­da­men­ta­li­sti­scher Abnei­gung beitrug.

Vidal warf den Mäch­ti­gen sei­nes Lan­des immer wie­der »vor­sätz­li­ches Ver­ges­sen« vor. Denn sie lie­ßen Erklä­run­gen für das Han­deln von Geg­nern nicht zu. Die­se sei­en »die Bösen«, und damit basta. Der Anschlag vom 9.11.2001, so bringt er die US-Innen­po­li­tik ins Spiel, »ist nichts im Ver­gleich zu dem Todes­stoß, der unse­ren ohne­hin schon schwin­den­den Frei­hei­ten ver­setzt wur­de – durch das Anti­ter­ror­ge­setz von 1996 im Ver­bund mit den (…) Son­der­voll­mach­ten, die erlau­ben, dau­er­haft bei uns leben­de Men­schen (…) ohne ordent­li­ches Gerichts­ver­fah­ren aus­zu­wei­sen usw.« Und das Lager auf Guan­ta­na­mo nennt er »Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger«. Dem stellt er ein Zitat gegen­über und fragt: »Stammt es von Clin­ton? Von Bush?« – Um dann Hit­ler als Autor mit sei­ner Rede zum Ermäch­ti­gungs­ge­setz zu nen­nen. Vidal beschließt den Bei­trag mit zwölf Sei­ten einer Auf­li­stung all jener mili­tä­ri­schen »Ope­ra­tio­nen« der USA in aller Welt vom Ende des Zwei­ten Welt­kriegs bis zum Jahr 2000, um sein Bon­mot von »unse­rem Feind des Monats« zu unter­mau­ern. Und er zitiert den Histo­ri­ker Charles A. Beard (1874-1948), von dem die titel­ge­ben­de Dia­gno­se vom »ewi­gen Krieg für ewi­gen Frie­den« stammt.

Zwei Jah­re nach dem Anschlag McV­eighs in Okla­ho­ma City schrieb Vidal für die Zeit­schrift Vani­ty Fair einen län­ge­ren Essay, in dem er im Detail nach­wies, dass im Ver­lauf der letz­ten Jahr­zehn­te »die Bill of Rights, die aus den zehn 1791 ver­ab­schie­de­ten Ver­fas­sungs­zu­sät­zen besteht«, aus­ge­höhlt und gegen­stands­los gemacht wur­de. »Der stän­di­ge Aus­nah­me­zu­stand ist so schlimm, dass wir uns Mätz­chen wie den Schutz der Pri­vat­sphä­re oder ordent­li­che Gerichts­ver­fah­ren nicht mehr lei­sten kön­nen.« Eigen­tums-, Steu­er-, Finanz­rech­te und der zen­tra­le Vor­wand der Anti-Dro­gen­po­li­tik (wäh­rend »die­se mit­füh­len­den Wäch­ter unse­res Wohl­erge­hens (…) uns seit Jah­ren stand­haft ver­wei­gern, was in jedem ande­ren Indu­strie­land schlicht­weg selbst­ver­ständ­lich ist, näm­lich eine all­ge­mei­ne Kran­ken­ver­si­che­rung«) rich­ten sich gegen jene 99 Pro­zent der Bevöl­ke­rung, die sich die Befrei­ung davon nicht erkau­fen kön­nen. »Prompt erblü­hen Ver­schwö­rungs­theo­rien (…), und die Men­schen in ihrem Bann machen sich unwei­ger­lich zum Gespött der (…) wirk­li­chen Ver­schwö­rer.« Wie McV­eigh, dem Vidal einen über­stei­ger­ten Gerech­tig­keits­sinn atte­stier­te und der medi­al schließ­lich in eine Mischung aus »das Böse« und gei­stes­ge­stört ver­wan­delt wurde.

Bushs Golf­krieg »öff­ne­te ihm die Augen, wie die mei­sten Krie­ge denen die Augen öff­nen, die sie aus­fech­ten müs­sen«, so dass »McV­eigh im Irak über­rascht fest­stellt, ›die sind ja genau­so nor­mal wie du und ich. Man hat uns fana­ti­siert, um sie abzu­knal­len. (…) Der Krieg hat mich wach­ge­rüt­telt.‹« Zum Tod ver­ur­teilt liest er im Gefäng­nis Vidals Arti­kel und nimmt Kon­takt zu ihm auf. Über die dar­aus fol­gen­den Begeg­nun­gen ver­fass­te Vidal schließ­lich einen wei­te­ren Text: »Über die Bedeu­tung von Timo­thy McV­eigh«, in dem er dia­gno­sti­ziert: »Nach­dem schon seit einem hal­ben Jahr­hun­dert die Rus­sen kom­men, gefolgt von den Ter­ro­ri­sten der immer zahl­rei­cher wer­den­den Schur­ken­staa­ten und dem anhal­ten­den Gespenst der Dro­gen­kri­mi­na­li­tät, lässt man der Bevöl­ke­rung, die so regel­mä­ßig – so ein­dring­lich – des­in­for­miert wird, kaum eine Pau­se zum Durch­at­men.« Und wei­ter zitiert er den Atten­tä­ter selbst: »Die Bom­bar­die­rung des Mur­rah-Gebäu­des (in Okla­ho­ma City) ent­spricht mora­lisch und stra­te­gisch der von den Ver­ei­nig­ten Staa­ten durch­ge­führ­ten Zer­stö­rung eines staat­li­chen Gebäu­des in Ser­bi­en, im Irak oder in ande­ren Län­dern. Gestützt auf die Beob­ach­tung, wie mei­ne eige­ne Regie­rung han­delt, erschien mir die­se Tat als eine annehm­ba­re Option.«

Das Buch wird abge­schlos­sen von einem offe­nen Brief an Geor­ge Bush jun., der im Dezem­ber 2000 vor des­sen Amts­an­tritt in Vani­ty Fair erschien. Wie die übri­gen Tex­te ist er durch­zo­gen von einem bei­ßen­den Zynis­mus, der die auf das Kom­man­do der eige­nen Olig­ar­chie hören­de »Pen­ta­gon-Jun­ta« ver­höhnt: »Wir, das unre­prä­sen­tier­te Volk der Ver­ei­nig­ten Staa­ten, sind eben­so Opfer die­ser mili­ta­ri­sier­ten Regie­rung wie die Pana­maer, die Ira­kis oder die Soma­lis (…); wir selbst sind zum größ­ten Schur­ken­staat über­haupt geworden.«

Sol­che Tex­te wür­den heu­te in Euro­pa, ins­be­son­de­re in Deutsch­land und bei der EU-Kom­mis­si­ons­bü­ro­kra­tie, wohl als Aus­wurf eines Ter­ro­ris­mus-Ver­ste­hers an den Pran­ger gestellt.