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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Im Namen des Volkes – ohne das Volk

Amts­ge­richt Rudol­stadt an einem trü­ben Vor­mit­tag. Der Saal: stickig, holz­ver­tä­felt, schwer von Akten­staub. Auf der Ankla­ge­bank: ein Mann, dem Kör­per­ver­let­zung und Bedro­hung vor­ge­wor­fen wur­den. Er hat­te eine Frau attackiert, die einer Mut­ter mit Kind zu Hil­fe eil­te – ein Fall, bei dem man ein kla­res Signal gegen Gewalt erwar­ten durfte.

Doch noch vor Beginn der Ver­hand­lung griff der Rich­ter zum Han­dy des Ange­klag­ten. Dar­auf: ein heim­lich auf­ge­nom­me­nes Video, das den Klä­ger bela­sten soll­te. Anstatt den Mit­schnitt als unzu­läs­sig zurück­zu­wei­sen und ein Ermitt­lungs­ver­fah­ren ein­zu­lei­ten, schau­te der Rich­ter inter­es­siert zu, stell­te Fra­gen und mach­te das Mate­ri­al zum Bestand­teil des Ver­fah­rens. Die Staats­an­wäl­tin neben ihm blieb unge­rührt. Am Ende stand kein Urteil mit Gewicht, son­dern ledig­lich ein erho­be­ner Zei­ge­fin­ger. Und das obli­ga­to­ri­sche Schluss­wort: »Im Namen des Volkes.«

Die­ser Vor­fall steht exem­pla­risch für die Kri­se des Rechts­staats. Die aktu­el­le ARA­G/Ip­sos-Stu­die (2025) belegt das Miss­trau­en mit Zah­len: Nur 62 Pro­zent der Deut­schen geben an, ihrem Rechts­staat »viel« oder »sehr viel« zu ver­trau­en – Nor­we­gen liegt bei 81 Pro­zent, Groß­bri­tan­ni­en bei 74, die USA bei 71 Pro­zent. Nur gut die Hälf­te der Deut­schen glaubt noch, dass alle vor dem Gesetz gleich sind. 61 Pro­zent hal­ten ihre Rich­ter für unbe­fan­gen. Und nicht ein­mal 40 Pro­zent mei­nen, recht­li­che Pro­ble­me lie­ßen sich zügig lösen. Jeder Vier­te ver­zich­te­te bereits auf eine Kla­ge, obwohl er sich im Recht fühl­te – aus Angst vor Kosten, Dau­er oder Belastung.

Was hier sicht­bar wird, ist kein Stim­mungs­pro­blem, son­dern ein syste­mi­sches Defi­zit. In der reprä­sen­ta­ti­ven Demo­kra­tie bleibt der Bür­ger Zuschau­er. Ein Kreuz­chen alle vier Jah­re – mehr Ein­fluss ist nicht vor­ge­se­hen. Geset­ze ent­ste­hen im par­tei­po­li­ti­schen Maschi­nen­raum, Frak­ti­ons­zwang ersetzt Debat­te, Koali­ti­ons­dis­zi­plin das Gewissen.

Auch die Justiz spie­gelt die­se Logik. In den unte­ren Instan­zen urteilt ein ein­zel­ner Rich­ter. Schöf­fen sind sel­ten, ech­te Bür­ger­be­tei­li­gung gibt es nicht. Den­noch wird jedes Urteil mit dem Eti­kett »im Namen des Vol­kes« ver­se­hen. Ein Volk, das in Wahr­heit weder gefragt noch anwe­send ist.

Histo­risch gese­hen war die deut­sche Justiz sel­ten Garant der Gerech­tig­keit. In Wei­mar war sie berüch­tigt für ihre Mil­de gegen­über rech­ten Put­schi­sten und ihre Här­te gegen Lin­ke. Im Natio­nal­so­zia­lis­mus wur­de sie zur Exe­ku­to­rin der Dik­ta­tur. Nach 1945 blie­ben vie­le alte Kader im Amt, obrig­keits­staat­li­che Men­ta­li­tä­ten über­dau­er­ten die Systemwechsel.

Heu­te repro­du­ziert die Justiz vor allem sozia­le Ungleich­heit. Wer Geld hat, kauft sich Recht: mit Anwäl­ten, Gut­ach­ten, lan­gen Ver­fah­ren. Wer arm ist, bleibt drau­ßen, abge­schreckt von Gebüh­ren und Risi­ken. So ver­wan­delt sich der Rechts­staat in ein Klas­sen­sy­stem – Erste-Klas­se-Recht für Besit­zen­de, Holz­klas­se für den Rest.

Der Gerichts­saal wirkt wie ein Thea­ter. Der Rich­ter in Robe mar­kiert Sou­ve­rä­ni­tät. Die Staats­an­wäl­tin nickt, das Opfer kommt am Rand vor, der Ange­klag­te spielt sei­ne Rol­le. Und das Volk, in des­sen Namen angeb­lich ent­schie­den wird, bleibt ausgeschlossen.

So ent­puppt sich das Pathos des »Rechts­staats« als Herr­schafts­for­mel. Der Bür­ger ist nicht Teil der Recht­spre­chung, son­dern ihr Objekt.

Soll der Rechts­staat nicht voll­ends zum toten Ritu­al ver­kom­men, braucht es grund­le­gen­de Ver­än­de­run­gen, die an meh­re­ren Stel­len zugleich anset­zen. Eine Demo­kra­ti­sie­rung der Justiz ist unab­ding­bar. Schöf­fen und Lai­en­ju­rys müs­sen eine deut­lich stär­ke­re Rol­le spie­len, nicht als schmücken­des Bei­werk, son­dern als rea­le Kor­rek­tur des Rich­ter­mo­no­pols. Denk­bar wäre auch die Zufalls­aus­wahl von Bür­gern als Kon­troll­in­stanz, die ein Gegen­ge­wicht zu rich­ter­li­cher Will­kür bil­det. Trans­pa­renz­pflich­ten für Rich­ter – etwa die Offen­le­gung von Neben­tä­tig­kei­ten – könn­ten zusätz­lich Ver­trau­en schaffen.

Eben­so wich­tig ist eine ech­te Zugangs­ge­rech­tig­keit. Gerichts­ko­sten müs­sen so gestal­tet wer­den, dass sie Men­schen mit gerin­gem Ein­kom­men nicht aus­schlie­ßen. Die Pro­zess­ko­sten­hil­fe gehört aus­ge­baut und kol­lek­ti­ve Kla­ge­rech­te könn­ten struk­tu­rel­le Unge­rech­tig­kei­ten vor Gericht brin­gen, die das Indi­vi­du­um allein nie­mals durch­set­zen könn­te. Rechts­schutz darf nicht län­ger ein Ver­si­che­rungs­pri­vi­leg sein, son­dern muss als Grund­recht begrif­fen werden.

Auch die Zivil­ge­sell­schaft selbst ist gefor­dert. Rechts­be­ra­tungs­in­itia­ti­ven, Gewerk­schaf­ten und Mie­ter­ver­ei­ne kön­nen nicht nur Ein­zel­fäl­le unter­stüt­zen, son­dern durch stra­te­gi­sche Kla­gen poli­ti­sche Miss­stän­de sicht­bar machen. NGOs könn­ten auf die­sem Feld zur eigent­li­chen Oppo­si­ti­on wer­den – dort, wo Par­tei­en und Par­la­men­te ver­sa­gen. Ergänzt wer­den muss das durch einen star­ken Schutz für Whist­le­b­lower und eine Bür­ger­rechts­be­we­gung, die die Justiz kri­tisch begleitet.

Und schließ­lich braucht es eine brei­te Rechts­bil­dung. Schon in den Schu­len soll­ten Kin­der ler­nen, wie Geset­ze ent­ste­hen, wie man sie anfech­ten kann, wie man Grund­rech­te ver­tei­digt. Das Wis­sen um juri­sti­sche Abläu­fe darf nicht das Pri­vi­leg von Juri­sten blei­ben, son­dern muss Teil einer demo­kra­ti­schen All­tags­kul­tur wer­den. Nur dann wird der Rechts­staat nicht län­ger als unnah­ba­re Instanz emp­fun­den, son­dern als gemein­sa­mes Projekt.

Das Pro­blem: Der Rechts­staat sichert Ver­fah­ren, nicht Gerech­tig­keit. Er garan­tiert Para­gra­fen und Fri­sten, aber kei­ne mate­ri­el­le Gleich­heit. Ein Staat, der auf Form ach­tet, aber sozia­le Schief­la­gen hin­nimmt, ver­liert Legi­ti­mi­tät. Des­halb braucht es eine Umco­die­rung: Rechts­staat nicht als for­ma­le Ord­nung, son­dern als Gerech­tig­keits­staat. Maß­stab muss sein, ob Urtei­le den Bür­gern tat­säch­lich Gerech­tig­keit brin­gen – nicht nur, ob sie for­mal kor­rekt sind.

Im Saal des Amts­ge­richts sind die Stüh­le inzwi­schen leer. Der Rich­ter hat sei­ne Akten geschlos­sen, der Ange­klag­te ver­lässt den Raum, die Staats­an­wäl­tin nickt. Das Opfer bleibt zurück, mit dem Gefühl, dass Recht und Gerech­tig­keit nicht die­sel­be Spra­che sprechen.

»Im Namen des Vol­kes«, lau­te­te das Urteil. Doch das Volk stand drau­ßen, rat­los, ohn­mäch­tig, erschöpft.

Wenn die­ser Rechts­staat über­le­ben will, muss er die Bür­ger end­lich hin­ein­las­sen. Sonst wird er, was er in Rudol­stadt schon war: eine Farce.