Amtsgericht Rudolstadt an einem trüben Vormittag. Der Saal: stickig, holzvertäfelt, schwer von Aktenstaub. Auf der Anklagebank: ein Mann, dem Körperverletzung und Bedrohung vorgeworfen wurden. Er hatte eine Frau attackiert, die einer Mutter mit Kind zu Hilfe eilte – ein Fall, bei dem man ein klares Signal gegen Gewalt erwarten durfte.
Doch noch vor Beginn der Verhandlung griff der Richter zum Handy des Angeklagten. Darauf: ein heimlich aufgenommenes Video, das den Kläger belasten sollte. Anstatt den Mitschnitt als unzulässig zurückzuweisen und ein Ermittlungsverfahren einzuleiten, schaute der Richter interessiert zu, stellte Fragen und machte das Material zum Bestandteil des Verfahrens. Die Staatsanwältin neben ihm blieb ungerührt. Am Ende stand kein Urteil mit Gewicht, sondern lediglich ein erhobener Zeigefinger. Und das obligatorische Schlusswort: »Im Namen des Volkes.«
Dieser Vorfall steht exemplarisch für die Krise des Rechtsstaats. Die aktuelle ARAG/Ipsos-Studie (2025) belegt das Misstrauen mit Zahlen: Nur 62 Prozent der Deutschen geben an, ihrem Rechtsstaat »viel« oder »sehr viel« zu vertrauen – Norwegen liegt bei 81 Prozent, Großbritannien bei 74, die USA bei 71 Prozent. Nur gut die Hälfte der Deutschen glaubt noch, dass alle vor dem Gesetz gleich sind. 61 Prozent halten ihre Richter für unbefangen. Und nicht einmal 40 Prozent meinen, rechtliche Probleme ließen sich zügig lösen. Jeder Vierte verzichtete bereits auf eine Klage, obwohl er sich im Recht fühlte – aus Angst vor Kosten, Dauer oder Belastung.
Was hier sichtbar wird, ist kein Stimmungsproblem, sondern ein systemisches Defizit. In der repräsentativen Demokratie bleibt der Bürger Zuschauer. Ein Kreuzchen alle vier Jahre – mehr Einfluss ist nicht vorgesehen. Gesetze entstehen im parteipolitischen Maschinenraum, Fraktionszwang ersetzt Debatte, Koalitionsdisziplin das Gewissen.
Auch die Justiz spiegelt diese Logik. In den unteren Instanzen urteilt ein einzelner Richter. Schöffen sind selten, echte Bürgerbeteiligung gibt es nicht. Dennoch wird jedes Urteil mit dem Etikett »im Namen des Volkes« versehen. Ein Volk, das in Wahrheit weder gefragt noch anwesend ist.
Historisch gesehen war die deutsche Justiz selten Garant der Gerechtigkeit. In Weimar war sie berüchtigt für ihre Milde gegenüber rechten Putschisten und ihre Härte gegen Linke. Im Nationalsozialismus wurde sie zur Exekutorin der Diktatur. Nach 1945 blieben viele alte Kader im Amt, obrigkeitsstaatliche Mentalitäten überdauerten die Systemwechsel.
Heute reproduziert die Justiz vor allem soziale Ungleichheit. Wer Geld hat, kauft sich Recht: mit Anwälten, Gutachten, langen Verfahren. Wer arm ist, bleibt draußen, abgeschreckt von Gebühren und Risiken. So verwandelt sich der Rechtsstaat in ein Klassensystem – Erste-Klasse-Recht für Besitzende, Holzklasse für den Rest.
Der Gerichtssaal wirkt wie ein Theater. Der Richter in Robe markiert Souveränität. Die Staatsanwältin nickt, das Opfer kommt am Rand vor, der Angeklagte spielt seine Rolle. Und das Volk, in dessen Namen angeblich entschieden wird, bleibt ausgeschlossen.
So entpuppt sich das Pathos des »Rechtsstaats« als Herrschaftsformel. Der Bürger ist nicht Teil der Rechtsprechung, sondern ihr Objekt.
Soll der Rechtsstaat nicht vollends zum toten Ritual verkommen, braucht es grundlegende Veränderungen, die an mehreren Stellen zugleich ansetzen. Eine Demokratisierung der Justiz ist unabdingbar. Schöffen und Laienjurys müssen eine deutlich stärkere Rolle spielen, nicht als schmückendes Beiwerk, sondern als reale Korrektur des Richtermonopols. Denkbar wäre auch die Zufallsauswahl von Bürgern als Kontrollinstanz, die ein Gegengewicht zu richterlicher Willkür bildet. Transparenzpflichten für Richter – etwa die Offenlegung von Nebentätigkeiten – könnten zusätzlich Vertrauen schaffen.
Ebenso wichtig ist eine echte Zugangsgerechtigkeit. Gerichtskosten müssen so gestaltet werden, dass sie Menschen mit geringem Einkommen nicht ausschließen. Die Prozesskostenhilfe gehört ausgebaut und kollektive Klagerechte könnten strukturelle Ungerechtigkeiten vor Gericht bringen, die das Individuum allein niemals durchsetzen könnte. Rechtsschutz darf nicht länger ein Versicherungsprivileg sein, sondern muss als Grundrecht begriffen werden.
Auch die Zivilgesellschaft selbst ist gefordert. Rechtsberatungsinitiativen, Gewerkschaften und Mietervereine können nicht nur Einzelfälle unterstützen, sondern durch strategische Klagen politische Missstände sichtbar machen. NGOs könnten auf diesem Feld zur eigentlichen Opposition werden – dort, wo Parteien und Parlamente versagen. Ergänzt werden muss das durch einen starken Schutz für Whistleblower und eine Bürgerrechtsbewegung, die die Justiz kritisch begleitet.
Und schließlich braucht es eine breite Rechtsbildung. Schon in den Schulen sollten Kinder lernen, wie Gesetze entstehen, wie man sie anfechten kann, wie man Grundrechte verteidigt. Das Wissen um juristische Abläufe darf nicht das Privileg von Juristen bleiben, sondern muss Teil einer demokratischen Alltagskultur werden. Nur dann wird der Rechtsstaat nicht länger als unnahbare Instanz empfunden, sondern als gemeinsames Projekt.
Das Problem: Der Rechtsstaat sichert Verfahren, nicht Gerechtigkeit. Er garantiert Paragrafen und Fristen, aber keine materielle Gleichheit. Ein Staat, der auf Form achtet, aber soziale Schieflagen hinnimmt, verliert Legitimität. Deshalb braucht es eine Umcodierung: Rechtsstaat nicht als formale Ordnung, sondern als Gerechtigkeitsstaat. Maßstab muss sein, ob Urteile den Bürgern tatsächlich Gerechtigkeit bringen – nicht nur, ob sie formal korrekt sind.
Im Saal des Amtsgerichts sind die Stühle inzwischen leer. Der Richter hat seine Akten geschlossen, der Angeklagte verlässt den Raum, die Staatsanwältin nickt. Das Opfer bleibt zurück, mit dem Gefühl, dass Recht und Gerechtigkeit nicht dieselbe Sprache sprechen.
»Im Namen des Volkes«, lautete das Urteil. Doch das Volk stand draußen, ratlos, ohnmächtig, erschöpft.
Wenn dieser Rechtsstaat überleben will, muss er die Bürger endlich hineinlassen. Sonst wird er, was er in Rudolstadt schon war: eine Farce.