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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Kolonialismus und Rassismus – Geschichte der Migration

Was heu­te Migra­ti­on heißt, hat sei­ne Wur­zeln im Auf­schwung Euro­pas im 15. Jahr­hun­dert. Damals began­nen sei­ne Bewoh­ner, ihren Kon­ti­nent zum Nabel der Welt und sich selbst zur Kro­ne der Schöp­fung zu erklä­ren. Die­ses Selbst­ver­ständ­nis beflü­gel­te den Auf­bruch von Kolum­bus, Pizar­ro, Cor­tés usw. in unbe­kann­te Tei­le der Welt, wo sie, der selbst­er­klär­ten Domi­nanz gewiss, kur­zen Pro­zess mit den Völ­kern mach­ten, auf die sie stie­ßen. Dieb­stahl der Reich­tü­mer und Brand­schat­zung der Ter­ri­to­ri­en, alle denk­ba­ren For­men der Aus­beu­tung von Natur und von Ein­woh­nern ande­rer Kon­ti­nen­te wur­den zu Fun­da­men­ten euro­päi­scher Exi­stenz. Die Zer­stö­rung anders­ar­ti­ger Kul­tu­ren, Gesell­schafts­for­men und sozia­ler Struk­tu­ren, die als wert­los gal­ten, ver­dich­te­te sich im Begriff der Ras­se. Der Ras­sis­mus wur­de prak­tisch zum exter­nen Antriebs­mo­dul für die gesell­schaft­li­che Ent­wick­lung Euro­pas, wie die Dampf­ma­schi­ne zum internen.

Die Geschich­te der Euro­pä­er ist seit 600 Jah­ren ras­si­stisch geprägt, von Frantz Fanon, Aimé Cesaire, Edu­ar­do Gale­a­no und vie­len ande­ren akri­bisch beschrie­ben; der exklu­die­ren­de Ras­se­be­griff und sei­ne prak­ti­schen Kon­se­quen­zen sind ein roter Faden euro­päi­scher Kul­tur-, Wis­sen­schafts- und Gesell­schafts­ge­schich­te. Kolo­nia­lis­mus ist zu ihrem metho­di­schen Grund­kon­zept gewor­den, der Mili­ta­ris­mus – mili­tä­ri­sche Gewalt zur Durch­set­zung poli­ti­scher und öko­no­mi­scher Inter­es­sen – ihr Hand­lungs­an­satz. Und der Libe­ra­lis­mus als ideo­lo­gi­scher Rah­men bedeu­te­te immer nur Frei­heit für die euro­päi­schen Ein­ge­bo­re­nen – geschaf­fen aus dem Blut, dem Schweiß, den Kno­chen, den Lei­den, der Hoff­nungs­lo­sig­keit, der Demü­ti­gung und Ent­wür­di­gung von Mil­lio­nen Men­schen jen­seits des ras­si­schen Äqua­tors. Der nicht nur poli­tisch, son­dern psy­cho-sozi­al ver­an­ker­te Ras­sis­mus ist so frag­los in das euro­päi­sche Selbst­ver­ständ­nis eingewebt.

Ihn cha­rak­te­ri­siert eine sub­stan­zi­el­le Dehu­ma­ni­sie­rung von mensch­li­chen Indi­vi­du­en, über deren Lebens­wert oder Wert­lo­sig­keit jene befin­den, die über Defi­ni­ti­ons­macht gemäß ihrer Gewalt­be­reit­schaft ver­fü­gen. Das ras­si­sti­sche Men­schen­bild trans­por­tiert Ver­ach­tung nicht­eu­ro­päi­scher Men­schen­grup­pen, ent­wür­di­gen­den Umgang mit ihnen, die Gleich­gül­tig­keit gegen­über ihrem Lei­den, ihrem Leben und Ster­ben, ihre par­ti­el­le oder voll­stän­di­ge Aus­rot­tung. Für die Ent­eig­ne­ten in Afri­ka oder Süd­ame­ri­ka, die Indi­ge­nen, die Hun­gern­den und Obdach­lo­sen, lau­tet die lapi­da­re, oft töd­li­che Bot­schaft: Egal, wohin ihr geht oder getrie­ben wer­det, euch steht auf die­sem Pla­ne­ten kein Lebens-Ort zu. Die­ses Bild von und die­ser Umgang mit Men­schen ist nicht nur ras­si­stisch deno­tiert – die­se sub­stan­zi­el­le Ent­mensch­li­chung von Men­schen war von Beginn an faschi­stisch kon­no­tiert. Das faschi­sti­sche Set­ting in Den­ken und Füh­len des euro­päi­schen Mensch­seins wur­de kon­se­quent aus dem Bewusst­sein gedrängt: Im defi­ni­ti­ven Ras­sis­mus schlägt der Faschis­mus sei­ne Wur­zeln, der nicht erst 1933 im Nazi-Faschis­mus ent­grenzt wur­de und nach 1945 nicht aus der Geschich­te verschwand.

Als der Kolo­nia­lis­mus for­mal mehr oder weni­ger abge­schafft wor­den war, ging er naht­los in sei­ne neo-kolo­nia­li­sti­sche Fort­set­zung über, sein aus­gren­zend-aggres­si­ver Gehalt blieb ein fun­da­men­ta­ler Bau­stein des euro­päi­schen glo­ba­len Agie­rens: Ver­schär­fung der Ver­trei­bung von Grund und Boden, im Eng­li­schen tref­fend »land-grab­bing« genannt, also Ent­wur­ze­lung im Wort­sinn, wer­den von den Expro­pria­teu­ren und Nutz­nie­ßern irrever­si­bel durch­ge­setzt. Dem Selbst­ver­ständ­nis der wei­ßen Euro­pä­er gemäß besteht der Lebens­zweck des größ­ten Teils der auf der Süd­halb­ku­gel leben­den Men­schen wei­ter­hin dar­in, zur Her­stel­lung im Nor­den benö­tig­ter Lebens­grund­la­gen aus­ge­beu­tet zu wer­den Die­se impe­ria­le Lebens­wei­se äußert sich rück­sichts­lo­ser denn je durch Extrak­ti­on der frem­den Reich­tü­mer, Exter­na­li­sa­ti­on des Wohl­stands­mülls und jede vor­han­de­ne Regel miss­ach­ten­de Gewalt.

Ras­sis­mus ver­schwand als Begriff nach dem 2. Welt­krieg weit­ge­hend aus dem poli­ti­schen und wis­sen­schaft­li­chen Main­stream, zu eng war er der ideo­lo­gi­schen Basis des Faschis­mus in Deutsch­land und in ande­ren euro­päi­schen Län­dern ver­bun­den, der Faschis­mus schien mit der Ent­na­zi­fi­zie­rung nach 1945 über­wun­den. Als das neo­ko­lo­nia­li­sti­sche Regime der west­li­chen Domi­nanz Mil­lio­nen hei­mat- und hoff­nungs­lo­se Men­schen aus dem Süden zur über­le­bens­not­wen­di­gen Flucht nach Nor­den in die wohl­stands­ge­sät­tig­te Welt ihrer Pei­ni­ger zwang, wink­te ihnen das Recht auf Asyl, ver­an­kert im Arti­kel 16a des Grund­ge­set­zes. Der demo­kra­ti­sche Grund­kon­sens ori­en­tier­te sich an der Gen­fer Flücht­lings­kon­ven­ti­on und am Völ­ker­recht, ver­pflich­tet auf die mit ihm zeit­gleich ent­stan­de­ne men­schen­rechts­ba­sier­te UN-Char­ta. Aus die­sen for­ma­len Vor­aus­set­zun­gen eines demo­kra­ti­schen und an Men­schen­rech­ten ori­en­tier­ten gesell­schaft­li­chen Hand­lungs­rah­mens ent­stand ein fol­gen­schwe­rer Selbst­be­trug, nicht nur in Deutsch­land, son­dern in Europa.

Vor allem der Begriff Migra­ti­on lenkt von der ent­mo­ra­li­sier­ten wie bru­ta­len Sei­te der Wirk­lich­keit des euro­päi­schen Daseins ab, von Kolo­nia­lis­mus und Ras­sis­mus. Zwei klei­ne, aber ver­rä­te­ri­sche Attri­bu­te wer­den Schlüs­sel zur Wahr­heit: Die »lega­len« Migran­ten sie will­kom­men als viel­fäl­ti­ge Roh­stof­fe in mensch­li­cher Gestalt, sie kön­nen asso­zi­iert, im gün­stig­sten Fal­le absor­biert wer­den; die die­sem Zweck nicht dien­li­chen Reste wer­den wie eh und je ent­sorgt; als »ille­gal« klas­si­fi­ziert sol­len sie abge­wehrt und dort­hin remi­griert wer­den, wo sie her­kom­men, so lau­tet das ras­si­sti­sche Kal­kül der Regie­rungs­par­tei­en: Als Migra­ti­ons- und Asyl­po­li­tik wer­den jahr­hun­der­te­lan­ge Ver­bre­chen durch neue Ver­bre­chen fort­ge­setzt. Eine heuch­le­ri­sche gesell­schaft­li­che Debat­te ver­ne­belt die Tat­sa­che, dass es um die ras­si­sti­sche Dimen­si­on von Begrif­fen wie Asyl oder Migra­ti­on geht, um die euro­päi­sche Lebens­lü­ge: Sie gehö­ren zu den Abwehr­ma­nö­vern gegen histo­ri­sche Gerech­tig­keit, gegen Wie­der­gut­ma­chung von Raub und Tot­schlag, gegen die mör­de­ri­sche Vor­herr­schaft der Wei­ßen, des Nor­dens. Der angeb­li­che Kampf gegen Migra­ti­on ist tat­säch­lich der Kampf gegen die bestoh­le­nen und degra­dier­ten Men­schen im Süden, gegen ihre berech­tig­ten Ansprü­che, gegen Wahr­heits­fin­dung, gegen das Ein­ge­ständ­nis mora­li­schen Ver­sa­gens, gegen die Angst vor der Rache der­je­ni­gen, die jahr­hun­dert­lang gequält und gekne­belt wurden.

Migra­ti­on ist ein Euphe­mis­mus, der die hin­ter­sten Win­kel des Lan­des – und des euro­päi­schen Kon­ti­nents – wie der Gehirn­win­dun­gen sei­ner Bewoh­ner infi­ziert. Er ver­drängt, was tat­säch­lich The­ma sein müss­te: ras­si­sti­sche, kolo­nia­li­sti­sche Bar­ba­rei, das sie tra­gen­de Men­schen­bild und die aus ihm resul­tie­ren­de mit- oder bes­ser gegen-mensch­li­che Pra­xis. Migra­ti­ons­po­li­tik, die Zehn­tau­sen­de Opfer for­dert und dem syri­schen Vater die Fami­li­en­zu­sam­men­füh­rung, also die Befrie­di­gung exi­sten­zi­el­ler mensch­li­cher Bedürf­nis­se ver­wei­gert, weil sie sei­nem Mensch­sein gegen­über gleich­gül­tig ist, mün­det in einem viru­len­ten Faschis­mus, der töd­lich zu wer­den droht. Der »Abschied von der wei­ßen Domi­nanz« mag hier und dort auf­schei­nen im glo­ba­len Gefü­ge, aber es wird ihn nur als Apo­ka­lyp­se geben: Der unkal­ku­lier­ba­ren und durch­aus wehr­haf­ten Natur geschul­det oder als (selbst-)zerstörerisches Ergeb­nis eben die­ser Dominanz.

 

Ausgabe 15.16/2025