Was heute Migration heißt, hat seine Wurzeln im Aufschwung Europas im 15. Jahrhundert. Damals begannen seine Bewohner, ihren Kontinent zum Nabel der Welt und sich selbst zur Krone der Schöpfung zu erklären. Dieses Selbstverständnis beflügelte den Aufbruch von Kolumbus, Pizarro, Cortés usw. in unbekannte Teile der Welt, wo sie, der selbsterklärten Dominanz gewiss, kurzen Prozess mit den Völkern machten, auf die sie stießen. Diebstahl der Reichtümer und Brandschatzung der Territorien, alle denkbaren Formen der Ausbeutung von Natur und von Einwohnern anderer Kontinente wurden zu Fundamenten europäischer Existenz. Die Zerstörung andersartiger Kulturen, Gesellschaftsformen und sozialer Strukturen, die als wertlos galten, verdichtete sich im Begriff der Rasse. Der Rassismus wurde praktisch zum externen Antriebsmodul für die gesellschaftliche Entwicklung Europas, wie die Dampfmaschine zum internen.
Die Geschichte der Europäer ist seit 600 Jahren rassistisch geprägt, von Frantz Fanon, Aimé Cesaire, Eduardo Galeano und vielen anderen akribisch beschrieben; der exkludierende Rassebegriff und seine praktischen Konsequenzen sind ein roter Faden europäischer Kultur-, Wissenschafts- und Gesellschaftsgeschichte. Kolonialismus ist zu ihrem methodischen Grundkonzept geworden, der Militarismus – militärische Gewalt zur Durchsetzung politischer und ökonomischer Interessen – ihr Handlungsansatz. Und der Liberalismus als ideologischer Rahmen bedeutete immer nur Freiheit für die europäischen Eingeborenen – geschaffen aus dem Blut, dem Schweiß, den Knochen, den Leiden, der Hoffnungslosigkeit, der Demütigung und Entwürdigung von Millionen Menschen jenseits des rassischen Äquators. Der nicht nur politisch, sondern psycho-sozial verankerte Rassismus ist so fraglos in das europäische Selbstverständnis eingewebt.
Ihn charakterisiert eine substanzielle Dehumanisierung von menschlichen Individuen, über deren Lebenswert oder Wertlosigkeit jene befinden, die über Definitionsmacht gemäß ihrer Gewaltbereitschaft verfügen. Das rassistische Menschenbild transportiert Verachtung nichteuropäischer Menschengruppen, entwürdigenden Umgang mit ihnen, die Gleichgültigkeit gegenüber ihrem Leiden, ihrem Leben und Sterben, ihre partielle oder vollständige Ausrottung. Für die Enteigneten in Afrika oder Südamerika, die Indigenen, die Hungernden und Obdachlosen, lautet die lapidare, oft tödliche Botschaft: Egal, wohin ihr geht oder getrieben werdet, euch steht auf diesem Planeten kein Lebens-Ort zu. Dieses Bild von und dieser Umgang mit Menschen ist nicht nur rassistisch denotiert – diese substanzielle Entmenschlichung von Menschen war von Beginn an faschistisch konnotiert. Das faschistische Setting in Denken und Fühlen des europäischen Menschseins wurde konsequent aus dem Bewusstsein gedrängt: Im definitiven Rassismus schlägt der Faschismus seine Wurzeln, der nicht erst 1933 im Nazi-Faschismus entgrenzt wurde und nach 1945 nicht aus der Geschichte verschwand.
Als der Kolonialismus formal mehr oder weniger abgeschafft worden war, ging er nahtlos in seine neo-kolonialistische Fortsetzung über, sein ausgrenzend-aggressiver Gehalt blieb ein fundamentaler Baustein des europäischen globalen Agierens: Verschärfung der Vertreibung von Grund und Boden, im Englischen treffend »land-grabbing« genannt, also Entwurzelung im Wortsinn, werden von den Expropriateuren und Nutznießern irreversibel durchgesetzt. Dem Selbstverständnis der weißen Europäer gemäß besteht der Lebenszweck des größten Teils der auf der Südhalbkugel lebenden Menschen weiterhin darin, zur Herstellung im Norden benötigter Lebensgrundlagen ausgebeutet zu werden Diese imperiale Lebensweise äußert sich rücksichtsloser denn je durch Extraktion der fremden Reichtümer, Externalisation des Wohlstandsmülls und jede vorhandene Regel missachtende Gewalt.
Rassismus verschwand als Begriff nach dem 2. Weltkrieg weitgehend aus dem politischen und wissenschaftlichen Mainstream, zu eng war er der ideologischen Basis des Faschismus in Deutschland und in anderen europäischen Ländern verbunden, der Faschismus schien mit der Entnazifizierung nach 1945 überwunden. Als das neokolonialistische Regime der westlichen Dominanz Millionen heimat- und hoffnungslose Menschen aus dem Süden zur überlebensnotwendigen Flucht nach Norden in die wohlstandsgesättigte Welt ihrer Peiniger zwang, winkte ihnen das Recht auf Asyl, verankert im Artikel 16a des Grundgesetzes. Der demokratische Grundkonsens orientierte sich an der Genfer Flüchtlingskonvention und am Völkerrecht, verpflichtet auf die mit ihm zeitgleich entstandene menschenrechtsbasierte UN-Charta. Aus diesen formalen Voraussetzungen eines demokratischen und an Menschenrechten orientierten gesellschaftlichen Handlungsrahmens entstand ein folgenschwerer Selbstbetrug, nicht nur in Deutschland, sondern in Europa.
Vor allem der Begriff Migration lenkt von der entmoralisierten wie brutalen Seite der Wirklichkeit des europäischen Daseins ab, von Kolonialismus und Rassismus. Zwei kleine, aber verräterische Attribute werden Schlüssel zur Wahrheit: Die »legalen« Migranten sie willkommen als vielfältige Rohstoffe in menschlicher Gestalt, sie können assoziiert, im günstigsten Falle absorbiert werden; die diesem Zweck nicht dienlichen Reste werden wie eh und je entsorgt; als »illegal« klassifiziert sollen sie abgewehrt und dorthin remigriert werden, wo sie herkommen, so lautet das rassistische Kalkül der Regierungsparteien: Als Migrations- und Asylpolitik werden jahrhundertelange Verbrechen durch neue Verbrechen fortgesetzt. Eine heuchlerische gesellschaftliche Debatte vernebelt die Tatsache, dass es um die rassistische Dimension von Begriffen wie Asyl oder Migration geht, um die europäische Lebenslüge: Sie gehören zu den Abwehrmanövern gegen historische Gerechtigkeit, gegen Wiedergutmachung von Raub und Totschlag, gegen die mörderische Vorherrschaft der Weißen, des Nordens. Der angebliche Kampf gegen Migration ist tatsächlich der Kampf gegen die bestohlenen und degradierten Menschen im Süden, gegen ihre berechtigten Ansprüche, gegen Wahrheitsfindung, gegen das Eingeständnis moralischen Versagens, gegen die Angst vor der Rache derjenigen, die jahrhundertlang gequält und geknebelt wurden.
Migration ist ein Euphemismus, der die hintersten Winkel des Landes – und des europäischen Kontinents – wie der Gehirnwindungen seiner Bewohner infiziert. Er verdrängt, was tatsächlich Thema sein müsste: rassistische, kolonialistische Barbarei, das sie tragende Menschenbild und die aus ihm resultierende mit- oder besser gegen-menschliche Praxis. Migrationspolitik, die Zehntausende Opfer fordert und dem syrischen Vater die Familienzusammenführung, also die Befriedigung existenzieller menschlicher Bedürfnisse verweigert, weil sie seinem Menschsein gegenüber gleichgültig ist, mündet in einem virulenten Faschismus, der tödlich zu werden droht. Der »Abschied von der weißen Dominanz« mag hier und dort aufscheinen im globalen Gefüge, aber es wird ihn nur als Apokalypse geben: Der unkalkulierbaren und durchaus wehrhaften Natur geschuldet oder als (selbst-)zerstörerisches Ergebnis eben dieser Dominanz.