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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Konformismus – mit links?

Wer sich in den letz­ten drei Jah­ren für Diplo­ma­tie, Frie­dens­ver­hand­lun­gen und Waf­fen­still­stand ein­ge­setzt hat, dürf­te sich womög­lich gera­de täg­lich Augen und Ohren rei­ben. Denn bis vor kur­zem wur­de man dafür wahr­schein­lich wahl­wei­se als »Lum­pen­pa­zi­fist« oder »Putin-Knecht« bezeich­net. Die seit über drei Jah­ren so het­zen­den, hel­den­haf­ten links­li­be­ra­len Lap­top-Leut­nants und selbst­ge­rech­ten Sofa-Ser­geants tre­ten nun seit sehr kur­zem »schon immer« für Waf­fen­still­stand und Frie­dens­ver­hand­lun­gen ein. Sie rech­nen damit, dass ihre Zuhörer/​innen, Leser/​innen und Zuschauer/​innen ein genau­so begrenz­tes Gedächt­nis besit­zen wie sie. Mal schauen.

»Darf man eigent­lich noch X zitie­ren, darf man eigent­lich noch Y zitie­ren?« Dem X wird in Bezug auf Vor­fäl­le von Kri­mi­na­li­tät vor­ge­wor­fen, ein sog. By-Stan­der gewe­sen zu sein. Das heißt, er habe jeman­den gekannt, der jeman­den gekannt hat­te, der die­se Ver­bre­chen began­gen habe. Und X habe es wis­sen müs­sen, habe aber geschwie­gen. X wider­spricht die­ser Dar­stel­lung und ver­weist dar­auf, dass er das Leben von Kol­le­gen nicht zu 100 Pro­zent unter Beob­ach­tung hat­te. Doch das hilft ihm gar nichts. Wer eine/​n Kriminelle/​n kennt, ist kri­mi­nell. Punkt.

Nur, war­um soll man ihn jetzt nicht mehr zitie­ren dür­fen? Sei­ne bahn­bre­chen­den Wer­ke wer­den doch nicht von jetzt auf gleich durch mut­maß­lich feh­ler­haf­tes Ver­hal­ten zu Schred­der­qua­li­tät? Das bleibt das Geheim­nis von iden­ti­täts­po­li­ti­schen Selbst­ge­rech­ten, die nur das für zitie­rens­wert erach­ten, was »der oder die Rich­ti­ge« sagt. Ganz böse Men­schen nen­nen das »Can­cel Cul­tu­re«, die es aber selbst­ver­ständ­lich nicht gibt, sagen ihre selbst­ge­rech­ten Vertreter/​innen – und for­dern, dass jeder, der »Can­cel Cul­tu­re« sagt, ver­bo­ten wer­den sollte.

Und war­um soll man Y nicht mehr zitie­ren? Ach so, natür­lich: Sie hat sich gegen die völ­ker­rechts­wid­ri­ge Besat­zungs­po­li­tik Isra­els, gegen die Kriegs­ver­bre­chen in Gaza und für Men­schen­rech­te auch für Palä­sti­nen­ser aus­ge­spro­chen, ja sogar für deren völ­ker­recht­lich ver­brief­tes Recht auf Wider­stand gegen Hun­ger­blocka­den und ande­re völ­ker­rechts­wid­ri­ge Besat­zungs- und Bela­ge­rungs­prak­ti­ken. Somit ist sie selbst­ver­ständ­lich eine Anti­se­mi­tin. Und alles, was sie bis­her an wis­sen­schaft­li­chen Lei­stun­gen voll­bracht hat, darf nun nicht mehr zitiert wer­den. Dass sie auch noch Jüdin ist, macht ihre »Delik­te« nur noch schlim­mer. Ihr Name muss ver­schwin­den aus den Literaturverzeichnissen.

Wel­che Gehir­ne von Gedan­ken­po­li­zei kom­men eigent­lich auf sol­che Ideen? Ganz nor­ma­le, sich meist sogar »links« wäh­nen­de Zeitgenoss(inn)en. Dem Ver­fas­ser die­ser Zei­len begeg­nen sie in den letz­ten fünf Jah­ren lei­der häu­fi­ger, als ihm lieb ist.

Natür­lich ist Zen­sur kein neu­es Phä­no­men für den Autor. Er schreibt seit über 30 Jah­ren Auf­sät­ze und seit 25 Jah­ren Bücher, die sich in der Regel kri­tisch mit Herr­schafts­struk­tu­ren und Main­stream in Poli­tik, Medi­en und Wis­sen­schaft aus­ein­an­der­set­zen. Dort, wo sie all­zu sehr stö­ren, müs­sen sie eben weg. Das ent­spricht auch sei­ner Gesell­schafts­ana­ly­se, ver­hält sich dem­nach also gesetzmäßig.

Mal darf ein bestell­ter Bei­trag zu Demo­gra­fie-Debat­ten nicht gedruckt wer­den, weil die Redak­ti­on Repres­sio­nen durch Ver­triebs­be­hin­de­run­gen von Arbeit­ge­ber­sei­te in der die Zeit­schrift her­aus­ge­ben­den Kran­ken­ver­si­che­rung befürch­te­te. Mal bestell­te die Fried­rich-Ebert-Stif­tung für eine Inter­net-Debat­ten­sei­te über Kin­der­ar­mut und Gene­ra­tio­nen­ge­rech­tig­keit einen kon­tro­ver­sen Text, der ihr dann jedoch »zu kon­tro­vers« war. Mal wer­den Bei­trä­ge oder Inter­views nicht gesen­det oder so gesäu­bert, dass es der Redak­ti­ons­lei­tung gefällt.

Mal ver­such­te ein CDU-Kol­le­ge an der Hoch­schu­le, die Rek­to­rin davon zu über­zeu­gen, dass man dem Ver­fas­ser mit Anwäl­ten dro­hen soll­te, damit er nicht mehr für eine mar­xi­sti­sche Tages­zei­tung schreibe.

Mal woll­te ihn ein Theo­lo­ge kreu­zi­gen, weil er nicht nur mit Kom­mu­ni­sten, son­dern auch mit Coro­na-Maß­nah­me-Kri­ti­kern gespro­chen hät­te. Es ist eigent­lich noch schlim­mer: Er spricht und strei­tet eigent­lich mit allen, mit Kom­mu­ni­sten und Kapi­ta­li­sten, mit Jesui­ten, Frei­mau­rern und Femi­ni­stin­nen, mit Juden und Palä­sti­nen­sern, mit Rus­sen und Ukrai­nern, mit Tür­ken und Kur­den, mit Grü­nen, SPD­lern, LINKEN, FDPlern, CDU/​CSUlern und auch mit AfD­lern. Sofern kei­ne (Andro­hung von) Kör­per­ver­let­zung im Spiel ist und die Uni­ver­sa­li­tät der Men­schen­rech­te aner­kannt wird, eigent­lich mit allen. Es gibt also viel Platz für »Kontaktschuld«-Delikte.

Vor nicht all­zu lan­ger Zeit bat ihn eine lin­ke Zeit­schrift um einen Bei­trag über »die rech­te Jugend«. Nach­dem er jedoch mit­hil­fe von Umfra­gen und Wahl­er­geb­nis­sen nach­wei­sen konn­te, dass »die Jugend« etwas dif­fe­ren­zier­ter betrach­tet wer­den soll­te, eher pola­ri­siert sei und nicht kol­lek­tiv als »rechts« bezeich­net wer­den kön­ne, gab man ihm sein Manu­skript ohne Bear­bei­tungs­vor­schlä­ge zurück. Zugleich unter­stell­te man ihm, den »Rechts­ruck« zu ver­harm­lo­sen. Schließ­lich wür­de er dar­auf hin­wei­sen, dass zwar 20 Pro­zent der Jun­gen AfD wäh­len woll­ten, aber über 40 Pro­zent der Jugend­li­chen Angst vor Ras­sis­mus und Rechts­extre­mi­sten in Par­la­men­ten hät­ten und fast 80 Pro­zent expli­zit nicht AfD wäh­len wol­len. Das pass­te nicht ins Bild der »rech­ten Jugend«. Also wur­de es weg­zen­siert. Da hat der Ver­fas­ser eini­ges über mar­xi­sti­sche Erneue­rung gelernt.

So häu­fen sich in letz­ter Zeit Ent­frem­dungs­ge­füh­le in Bezug auf die eige­ne poli­ti­sche Fami­lie. Bestim­men lässt sich das recht genau mit Beginn der Coro­na-Pan­de­mie. Plötz­lich »wuss­ten« bis­her ein­ge­fleisch­te Antidogmatiker/​innen ganz genau, was die abso­lu­te wis­sen­schaft­li­che Wahr­heit sei, und ver­tei­dig­ten von die­ser War­te aus und aus vor­geb­lich lin­ker Per­spek­ti­ve jeg­li­che staat­li­chen Anstren­gun­gen und Maß­nah­men des auto­ri­tä­ren Not­stands gegen jeg­li­che Kri­tik. Oft for­der­ten sie sogar noch mehr und noch här­te­re Vor­ge­hens­wei­sen des Staa­tes, als die­ser selbst für nötig erach­te­te. Muss der Autor hin­zu­fü­gen, dass es unter den Maß­nah­men-Kri­ti­kern tat­säch­lich auch sol­che gab, die das Coro­na-Not­stands­re­gime kri­ti­sier­ten, aber heim­lich mit einem faschi­sti­schen Not­stands­re­gime lieb­äu­geln (also: »höckeln«)? Muss er wohl.

Doch plötz­lich hat­te er es mit lin­ken Freund(inn)en und Wissenschaftsexpert(inn)en zu tun, die ihm genau erklä­ren woll­ten, was und wer »echte/​r Wissenschaft(ler/in)« sei – und wer Mei­nungs- und Wis­sen­schafts­frei­heit ver­die­ne, und wer nicht. Wer zum Bei­spiel »Ver­schwö­rungs­er­zäh­lun­gen« ver­brei­te, bei dem habe man kei­ne Pro­ble­me mit Raum- und Schreib- und Berufs­ver­bo­ten. Die Dif­fa­mie­rung eines Men­schen und Wis­sen­schaft­lers wird jedoch eigent­lich noch nicht durch die Wie­der­ho­lung der Dif­fa­mie­rung wis­sen­schaft­lich aus­rei­chend nach­ge­wie­sen (auch nicht durch »Kon­takt­schuld-Delik­te« oder Wiki­pe­dia-Attri­bu­te wie »umstrit­ten«, »kon­tro­vers«, »pro­ble­ma­tisch«, »ver­schwö­rungs-affin« u. a.), son­dern durch wis­sen­schaft­li­chen Streit – mit Argu­men­ten auf Quel­len­ba­sis. Für demo­kra­ti­sche Wissenschaftler/​innen ist es nicht uner­heb­lich, wie vie­le bür­ger­li­che Histo­ri­ker (von Ernst Nol­te bis Hans-Ulrich Weh­ler) z. B. dem mar­xi­sti­schen Faschis­mus­for­scher Rein­hard Kühnl rund­weg die Wis­sen­schaft­lich­keit abge­spro­chen haben; wie mas­siv Hans Momm­sen und ande­re Histo­ri­ker das Ein­zel­tä­ter-Dog­ma zum Reichs­tags­brand durch die gesam­te Histo­ri­ker­zunft jahr­zehn­te­lang so durch­ge­prü­gelt haben, dass jeg­li­che kri­ti­sche For­schung dazu unter bür­ger­li­chen bun­des­deut­schen Historiker(inne)n als »Ver­schwö­rungs­the­se« buch­stäb­lich als ver­bo­ten galt; mit wel­cher Mühe die CIA vor über 60 Jah­ren jeg­li­che Hin­ter­fra­gung der Ein­zel­tä­ter-The­se beim JFK-Mord als »Ver­schwö­rungs­theo­rie« inkri­mi­niert hat. Kri­ti­sche, demo­kra­ti­sche Wissenschaftler/​innen müs­sen nicht an jeder Ver­schwö­rungs­the­se schnup­pern, aber sie müs­sen sich auch nicht düm­mer stel­len, als sie sind. An jeder zwei­ten Ecke sitzt ein/​e Sozialwissenschaftler/​in und ver­ur­teilt »Ver­schwö­rungs­er­zäh­lun­gen« – und kaum zwei Sät­ze spä­ter wird fast jeder Makel kapi­ta­li­sti­scher Herr­lich­keit des glo­ba­len Westens – egal, ob Kri­sen, Brexit, Trump, AFD, sozia­le Spal­tung, Frie­dens­be­we­gung, Kri­mi­na­li­tät etc. – von einem gro­ßen Teil ein­fluss­rei­cher Medi­en, Poli­tik und Wis­sen­schaft als das Resul­tat gehei­mer rus­si­scher oder wahl­wei­se chi­ne­si­scher Ver­schwö­run­gen hin­ge­stellt. Es lie­ße sich schon fra­gen, war­um sich kei­ne Expert(inn)en für Ver­schwö­rungs­ideo­lo­gie mal dazu äußern. Seltsam.

Wer Waf­fen­ex­por­te in ein Kriegs­ge­biet für gut befin­det, schreibt selbst­ver­ständ­lich aus­ge­wo­gen für den »ideo­lo­gie­frei­en« Peer Review; wer jedoch mit Nach­wei­sen Waf­fen­ex­por­te in Kriegs­ge­bie­te pro­ble­ma­ti­siert, »ver­eindeu­tigt« aller­dings die The­ma­tik. Er muss auch Argu­men­te hin­zu­fü­gen, die für Waf­fen­ex­por­te spre­chen, sonst ist er bzw. sein Text »zum Kot­zen« und nicht extra-sozial.

Wer nach 3 bzw. nach 11 Jah­ren Waf­fen­ex­por­ten dar­auf hin­weist, dass die Bedin­gun­gen für die Ukrai­ne sich eher ver­schlech­tert haben und dies auch vie­le Län­der wie Mexi­ko, Bra­si­li­en, Süd­afri­ka, Indi­en, Chi­na und die USA inzwi­schen ein­se­hen wür­den, ent­larvt sich bloß selbst. Er ist als lin­ker Anti­mi­li­ta­rist doch nur ein heim­li­cher Trump- und Xi-Fan. Das sieht doch jede/​r.

So ein­fach ist das bei man­chen im Juste Milieu des links­li­be­ra­len Main­streams, sei­ner dop­pel­ten Stan­dards und sei­ner selbst­ge­rech­ten Feind­bil­der. Aber, war­um soll­te das ver­wun­dern? Genau­so funk­tio­niert nun mal die all­mäh­li­che Kon­for­mi­sie­rung, Mili­ta­ri­sie­rung und Auto­ri­ta­ri­sie­rung sich selbst beson­ders ultra-pro­gres­siv vor­kom­men­der Gehir­ne im Sin­ne der »Kriegs­tüch­tig­keit«. Das heißt, bald gehört das zur neu­en Nor­ma­li­tät, und Zwei­fel dar­an sind dann eben ein Fall für den Verfassungsschutz(bericht). Wir wer­den sehen.

Unter­des­sen fei­ert man sich auf der poli­ti­schen Ebe­ne ab als Tat­too-Queen mit ultra­ra­di­ka­len Sprü­chen. Aber wenn’s drauf ankommt, ver­hin­dert man noch nicht ein­mal in Bun­des­tag und Bun­des­rat das größ­te und ris­kan­te­ste (rech­te) Kriegs­kre­di­te-Pro­gramm Deutsch­lands seit der NS-Zeit. Statt­des­sen hilft man lie­ber sogar noch dabei, die (rech­ten) Black- und Bun­des­wehr­rocker schnel­ler an die Regie­rung zu brin­gen, als die es beim ersten Anlauf selbst ver­mö­gen – mit LINKS, ver­steht sich.