Wer sich in den letzten drei Jahren für Diplomatie, Friedensverhandlungen und Waffenstillstand eingesetzt hat, dürfte sich womöglich gerade täglich Augen und Ohren reiben. Denn bis vor kurzem wurde man dafür wahrscheinlich wahlweise als »Lumpenpazifist« oder »Putin-Knecht« bezeichnet. Die seit über drei Jahren so hetzenden, heldenhaften linksliberalen Laptop-Leutnants und selbstgerechten Sofa-Sergeants treten nun seit sehr kurzem »schon immer« für Waffenstillstand und Friedensverhandlungen ein. Sie rechnen damit, dass ihre Zuhörer/innen, Leser/innen und Zuschauer/innen ein genauso begrenztes Gedächtnis besitzen wie sie. Mal schauen.
»Darf man eigentlich noch X zitieren, darf man eigentlich noch Y zitieren?« Dem X wird in Bezug auf Vorfälle von Kriminalität vorgeworfen, ein sog. By-Stander gewesen zu sein. Das heißt, er habe jemanden gekannt, der jemanden gekannt hatte, der diese Verbrechen begangen habe. Und X habe es wissen müssen, habe aber geschwiegen. X widerspricht dieser Darstellung und verweist darauf, dass er das Leben von Kollegen nicht zu 100 Prozent unter Beobachtung hatte. Doch das hilft ihm gar nichts. Wer eine/n Kriminelle/n kennt, ist kriminell. Punkt.
Nur, warum soll man ihn jetzt nicht mehr zitieren dürfen? Seine bahnbrechenden Werke werden doch nicht von jetzt auf gleich durch mutmaßlich fehlerhaftes Verhalten zu Schredderqualität? Das bleibt das Geheimnis von identitätspolitischen Selbstgerechten, die nur das für zitierenswert erachten, was »der oder die Richtige« sagt. Ganz böse Menschen nennen das »Cancel Culture«, die es aber selbstverständlich nicht gibt, sagen ihre selbstgerechten Vertreter/innen – und fordern, dass jeder, der »Cancel Culture« sagt, verboten werden sollte.
Und warum soll man Y nicht mehr zitieren? Ach so, natürlich: Sie hat sich gegen die völkerrechtswidrige Besatzungspolitik Israels, gegen die Kriegsverbrechen in Gaza und für Menschenrechte auch für Palästinenser ausgesprochen, ja sogar für deren völkerrechtlich verbrieftes Recht auf Widerstand gegen Hungerblockaden und andere völkerrechtswidrige Besatzungs- und Belagerungspraktiken. Somit ist sie selbstverständlich eine Antisemitin. Und alles, was sie bisher an wissenschaftlichen Leistungen vollbracht hat, darf nun nicht mehr zitiert werden. Dass sie auch noch Jüdin ist, macht ihre »Delikte« nur noch schlimmer. Ihr Name muss verschwinden aus den Literaturverzeichnissen.
Welche Gehirne von Gedankenpolizei kommen eigentlich auf solche Ideen? Ganz normale, sich meist sogar »links« wähnende Zeitgenoss(inn)en. Dem Verfasser dieser Zeilen begegnen sie in den letzten fünf Jahren leider häufiger, als ihm lieb ist.
Natürlich ist Zensur kein neues Phänomen für den Autor. Er schreibt seit über 30 Jahren Aufsätze und seit 25 Jahren Bücher, die sich in der Regel kritisch mit Herrschaftsstrukturen und Mainstream in Politik, Medien und Wissenschaft auseinandersetzen. Dort, wo sie allzu sehr stören, müssen sie eben weg. Das entspricht auch seiner Gesellschaftsanalyse, verhält sich demnach also gesetzmäßig.
Mal darf ein bestellter Beitrag zu Demografie-Debatten nicht gedruckt werden, weil die Redaktion Repressionen durch Vertriebsbehinderungen von Arbeitgeberseite in der die Zeitschrift herausgebenden Krankenversicherung befürchtete. Mal bestellte die Friedrich-Ebert-Stiftung für eine Internet-Debattenseite über Kinderarmut und Generationengerechtigkeit einen kontroversen Text, der ihr dann jedoch »zu kontrovers« war. Mal werden Beiträge oder Interviews nicht gesendet oder so gesäubert, dass es der Redaktionsleitung gefällt.
Mal versuchte ein CDU-Kollege an der Hochschule, die Rektorin davon zu überzeugen, dass man dem Verfasser mit Anwälten drohen sollte, damit er nicht mehr für eine marxistische Tageszeitung schreibe.
Mal wollte ihn ein Theologe kreuzigen, weil er nicht nur mit Kommunisten, sondern auch mit Corona-Maßnahme-Kritikern gesprochen hätte. Es ist eigentlich noch schlimmer: Er spricht und streitet eigentlich mit allen, mit Kommunisten und Kapitalisten, mit Jesuiten, Freimaurern und Feministinnen, mit Juden und Palästinensern, mit Russen und Ukrainern, mit Türken und Kurden, mit Grünen, SPDlern, LINKEN, FDPlern, CDU/CSUlern und auch mit AfDlern. Sofern keine (Androhung von) Körperverletzung im Spiel ist und die Universalität der Menschenrechte anerkannt wird, eigentlich mit allen. Es gibt also viel Platz für »Kontaktschuld«-Delikte.
Vor nicht allzu langer Zeit bat ihn eine linke Zeitschrift um einen Beitrag über »die rechte Jugend«. Nachdem er jedoch mithilfe von Umfragen und Wahlergebnissen nachweisen konnte, dass »die Jugend« etwas differenzierter betrachtet werden sollte, eher polarisiert sei und nicht kollektiv als »rechts« bezeichnet werden könne, gab man ihm sein Manuskript ohne Bearbeitungsvorschläge zurück. Zugleich unterstellte man ihm, den »Rechtsruck« zu verharmlosen. Schließlich würde er darauf hinweisen, dass zwar 20 Prozent der Jungen AfD wählen wollten, aber über 40 Prozent der Jugendlichen Angst vor Rassismus und Rechtsextremisten in Parlamenten hätten und fast 80 Prozent explizit nicht AfD wählen wollen. Das passte nicht ins Bild der »rechten Jugend«. Also wurde es wegzensiert. Da hat der Verfasser einiges über marxistische Erneuerung gelernt.
So häufen sich in letzter Zeit Entfremdungsgefühle in Bezug auf die eigene politische Familie. Bestimmen lässt sich das recht genau mit Beginn der Corona-Pandemie. Plötzlich »wussten« bisher eingefleischte Antidogmatiker/innen ganz genau, was die absolute wissenschaftliche Wahrheit sei, und verteidigten von dieser Warte aus und aus vorgeblich linker Perspektive jegliche staatlichen Anstrengungen und Maßnahmen des autoritären Notstands gegen jegliche Kritik. Oft forderten sie sogar noch mehr und noch härtere Vorgehensweisen des Staates, als dieser selbst für nötig erachtete. Muss der Autor hinzufügen, dass es unter den Maßnahmen-Kritikern tatsächlich auch solche gab, die das Corona-Notstandsregime kritisierten, aber heimlich mit einem faschistischen Notstandsregime liebäugeln (also: »höckeln«)? Muss er wohl.
Doch plötzlich hatte er es mit linken Freund(inn)en und Wissenschaftsexpert(inn)en zu tun, die ihm genau erklären wollten, was und wer »echte/r Wissenschaft(ler/in)« sei – und wer Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit verdiene, und wer nicht. Wer zum Beispiel »Verschwörungserzählungen« verbreite, bei dem habe man keine Probleme mit Raum- und Schreib- und Berufsverboten. Die Diffamierung eines Menschen und Wissenschaftlers wird jedoch eigentlich noch nicht durch die Wiederholung der Diffamierung wissenschaftlich ausreichend nachgewiesen (auch nicht durch »Kontaktschuld-Delikte« oder Wikipedia-Attribute wie »umstritten«, »kontrovers«, »problematisch«, »verschwörungs-affin« u. a.), sondern durch wissenschaftlichen Streit – mit Argumenten auf Quellenbasis. Für demokratische Wissenschaftler/innen ist es nicht unerheblich, wie viele bürgerliche Historiker (von Ernst Nolte bis Hans-Ulrich Wehler) z. B. dem marxistischen Faschismusforscher Reinhard Kühnl rundweg die Wissenschaftlichkeit abgesprochen haben; wie massiv Hans Mommsen und andere Historiker das Einzeltäter-Dogma zum Reichstagsbrand durch die gesamte Historikerzunft jahrzehntelang so durchgeprügelt haben, dass jegliche kritische Forschung dazu unter bürgerlichen bundesdeutschen Historiker(inne)n als »Verschwörungsthese« buchstäblich als verboten galt; mit welcher Mühe die CIA vor über 60 Jahren jegliche Hinterfragung der Einzeltäter-These beim JFK-Mord als »Verschwörungstheorie« inkriminiert hat. Kritische, demokratische Wissenschaftler/innen müssen nicht an jeder Verschwörungsthese schnuppern, aber sie müssen sich auch nicht dümmer stellen, als sie sind. An jeder zweiten Ecke sitzt ein/e Sozialwissenschaftler/in und verurteilt »Verschwörungserzählungen« – und kaum zwei Sätze später wird fast jeder Makel kapitalistischer Herrlichkeit des globalen Westens – egal, ob Krisen, Brexit, Trump, AFD, soziale Spaltung, Friedensbewegung, Kriminalität etc. – von einem großen Teil einflussreicher Medien, Politik und Wissenschaft als das Resultat geheimer russischer oder wahlweise chinesischer Verschwörungen hingestellt. Es ließe sich schon fragen, warum sich keine Expert(inn)en für Verschwörungsideologie mal dazu äußern. Seltsam.
Wer Waffenexporte in ein Kriegsgebiet für gut befindet, schreibt selbstverständlich ausgewogen für den »ideologiefreien« Peer Review; wer jedoch mit Nachweisen Waffenexporte in Kriegsgebiete problematisiert, »vereindeutigt« allerdings die Thematik. Er muss auch Argumente hinzufügen, die für Waffenexporte sprechen, sonst ist er bzw. sein Text »zum Kotzen« und nicht extra-sozial.
Wer nach 3 bzw. nach 11 Jahren Waffenexporten darauf hinweist, dass die Bedingungen für die Ukraine sich eher verschlechtert haben und dies auch viele Länder wie Mexiko, Brasilien, Südafrika, Indien, China und die USA inzwischen einsehen würden, entlarvt sich bloß selbst. Er ist als linker Antimilitarist doch nur ein heimlicher Trump- und Xi-Fan. Das sieht doch jede/r.
So einfach ist das bei manchen im Juste Milieu des linksliberalen Mainstreams, seiner doppelten Standards und seiner selbstgerechten Feindbilder. Aber, warum sollte das verwundern? Genauso funktioniert nun mal die allmähliche Konformisierung, Militarisierung und Autoritarisierung sich selbst besonders ultra-progressiv vorkommender Gehirne im Sinne der »Kriegstüchtigkeit«. Das heißt, bald gehört das zur neuen Normalität, und Zweifel daran sind dann eben ein Fall für den Verfassungsschutz(bericht). Wir werden sehen.
Unterdessen feiert man sich auf der politischen Ebene ab als Tattoo-Queen mit ultraradikalen Sprüchen. Aber wenn’s drauf ankommt, verhindert man noch nicht einmal in Bundestag und Bundesrat das größte und riskanteste (rechte) Kriegskredite-Programm Deutschlands seit der NS-Zeit. Stattdessen hilft man lieber sogar noch dabei, die (rechten) Black- und Bundeswehrrocker schneller an die Regierung zu bringen, als die es beim ersten Anlauf selbst vermögen – mit LINKS, versteht sich.