Der deutsche Militärhistoriker Sönke Neitzel definiert nicht nur, was die Bundeswehr zur Sicherheit in Europa beitragen sollte. Der Militärhistoriker hat sich in den letzten zehn Jahren, seitdem er an der Universität Potsdam »War und Conflict Studies« und »Kriegswissenschaft« lehrt, darüber hinaus zu einem Propagandisten der Kriegsführungsstrategie und zum Strategen der Aufrüstung gemausert. Seine Auftritte in den Medien wirken überzeugend. Wo aber Kritik und Kritiker ausgeschlossen bleiben, kann nicht ermittelt werden, was auf Fakten beruht und was pure Propaganda ist. Der Militärhistoriker lässt seine Botschaft sanft und plausibel ins Publikum fließen, sodass der Gedanke an Propaganda schwerfällt. Nur wenn historisches Wissen und eine mutig-kritische Haltung vorhanden sind, kommen Zweifel auf, und im Zweifeln liegt bekanntlich der Wahrheit Anfang. Diese Maxime René Descartes sollten alle hochhalten, nicht nur wenn sogenannte Militär- und Sicherheitsexperten auftreten. Sie treten zumeist apodiktisch auf und scheren sich nicht darum, welche anderen, sinnvolleren Möglichkeiten es gäbe, mit kritischer Vernunft und historischer Weisheit ergründet. Abschreckung als Idee gehörte noch nie dazu. Nicht ohne Grund verbietet die deutsche Kultur der Moderne Gewalt als Mittel und lernt, sie durch zivile Kommunikation zu ersetzen. Auch nach außen, gegenüber Staaten, gilt das Gewaltverbotsprinzip. Die Verfassungsprinzipien unseres Grundgesetzes verlangen, dem Frieden in der Welt zu dienen, verbieten Angriffskriege, schützen die Würde des einzelnen Menschen und den sozialen und demokratischen Rechtsstaat; Mitgliedschaften in kollektiven Sicherheitssystemen sind erlaubt, wenn sie dem Frieden der Charta der Vereinten Nationen verpflichtet bleiben und der Kriegsverhinderung dienen. Doch offensichtlich klafft zwischen der Aufrüstungspropaganda und dem grundgesetzlichen Auftrag der Bundeswehr, ihrem Friedensgebot, eine große Lücke, die der Konfrontation und einem neuen kalten Krieg Tür und Tor öffnet.
Beim Fernsehauftritt am Tag des Angriffs der russischen Armee auf die Ukraine schien der »Experte« Neitzel sichtbar erregt, als gebe er kund, was dieser Konflikt auch für ihn bedeute: Der Stratege wusste, dass nun all das, was er seit Jahren beschworen hatte, eine neue Dynamik erhalten würde. Die Bundeswehr müsse wieder die Technik des Krieges lernen, forderte er schon lange. Neitzel wollte die Bundeswehr zur Kampfeinsatzarmee umbauen, als sie noch in Afghanistan kämpfte, und kritisierte Generalinspekteure der Bundeswehr in aller Schärfe, die seiner Marschrichtung nicht folgen wollten. Seit Putins Entscheidung, die russische Armee in die Ukraine einmarschieren zu lassen, switchte er schnell um auf Landesverteidigung, die er »europäisch« definiert – mit Deutschland als zentraler Macht.
Seine Karriere begann der spätere Professor nach dem Abitur an der Claus-von-Stauffenberg-Schule (!) im hessischen Rodgau-Dudenhofen 1987/88 erst einmal mit dem Wehrdienst, wo er als Tankwart seinen Dienst leistete. Diesen »Impuls« darf man nicht unterschätzen! Schon in jungen Jahren zeigte sich seine Raffinesse, dabei sein zu wollen, ohne wirklich an der Front kämpfen zu müssen. »Im Kriegsfall würde ein Tankwart der Bundeswehr Kraftfahrzeuge und Sondermaschinen bereitstellen, um die aktiven Truppen zu versorgen.«
Der Luftwaffe über dem Atlantik und der Nordsee 1939 bis 1945 galt seine erste wissenschaftliche Leistung, die einen Preis erhielt, dessen Namensgebers (Werner-Hahlweg-Preis) anscheinend unerkannt Mitglied in der NSDAP und SS gewesen war. Der Historiker Stig Förster förderte den Militärhistoriker früh, der nach Großbritannien in die Lehre und Forschung ging. Dort lehnte einen möglichen Ruf an die renommierte London School of Economics ab, um an der Universität Potsdam die erste Professur für Militärgeschichte in Deutschland nach 1945 zu etablieren (im WS 2015/16). Natürlich ging er nicht einfach so nach Berlin. In London wäre er einer unter vielen gewesen. In Berlin fand er alles vor, was er brauchte, vor allem, wen er brauchte: das bundesdeutsche Verteidigungsministerium, das Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, Kontakte zu den Bundeswehrverbänden und in die deutsche Gesellschaft für Sicherheitspolitik. So konnte er Lehre, Forschung und Politik zu einem Gesamtkonzept vereinen und auf seine Medienkontakte zurückgreifen.
»Deutsche Krieger«, heißt sein großes, apologetisches, den Traditionen deutscher Kriegskunst verschriebenes Werk. In zahlreichen Auflagen und Ausgaben – und von der Bundeszentrale für politische Bildung in Berlin fast kostenlos vertrieben – ruft er dazu auf, von der Wehrmacht zu lernen, wie richtige deutsche Soldaten kämpfen, wie aus ihnen wieder »archaische Kämpfer« werden, statt zu lernen, wie Konflikte auf friedlichem Wege zu lösen sind. Der renommierte Marburger Historiker Werner Conze kritisierte dieses »Machwerk« scharf: »Hinter dem Duktus der Sachlichkeit freilich, der Vorspiegelung einer ›Geschichtsschreibung ohne normativen Ballast‹ verbirgt sich das Ziel einer Militärpolitik und Militärgeschichtsschreibung ohne normativen Friedensbezug. Das ist erschreckend.« Jüngst erschien von Sönke Neitzel eine Art Flugschrift, handlich, in die Brieftasche zu stecken: »Die Bundeswehr – Von der Wiederbewaffnung bis zur Zeitenwende«. Der »Deutsche Krieger« sozusagen im Schokoladen-Format »quadratisch, praktisch, gut«! Darin liefert er Vorgaben für einen Panzerkommandanten oder einen Grenadier, »dessen Aufgabe im Ernstfall ist, in Litauen für das westliche Bündnis zu kämpfen, zu töten und notfalls zu sterben«. Beim selbst zurechtgezimmerten Bild musste Störendes wegfallen, musste geglättet werden, damit die Richtung stimmt: Die Bedrohung aus dem Osten. Achtung Deutsche! »Die Russen kommen!«
Neitzel warnt davor, dass Russland in wenigen Jahren militärisch so erstarkt sein könnte, dass es das Nato-Bündnis in lokalen Konflikten herausfordert. Er schließt die Möglichkeit nicht aus, dass dieser Sommer der letzte in Frieden sei. Auch wenn diese Perspektive den nüchternen Betrachtungen ehemals führender Generale nicht standhalten, der Militärhistoriker ist Propagandist eines angeblich bevorstehenden Krieges in Europa. Oder wollen er und seine Kollegen und Kolleginnen ihn herbeiprovozieren? Dazu gehört auch das Mittel der Umschreibung der Geschichte: Putin-Russland als Bedrohung von Anfang an. Der Propagandist lebt von Narrativen, die er nicht belegen muss, denn in dieser Rolle ist er nicht Wissenschaftler. Er schickt seine Szenarien in die Welt, so wie es ihm gefällt, auch wenn Beweise oder Quellen fehlen. Wenn Militärhistoriker oder andere Fachwissenschaftler zu Ideologen werden, ist Vorsicht geboten!