»Die Deutschen leiden unter einer Krankheit, die man als Eskalationsphobie bezeichnen muss«, so der Politikwissenschaftler Joachim Krause in der FAZ (07.02.2023). Furcht vor einer Eskalation des Ukraine-Kriegs, die Krause als »Eskalationsphobie« denunziert, ist in der deutschen Bevölkerung trotz aller Kriegspropaganda tatsächlich weit verbreitet. Im Oktober 2022 zeigte eine Umfrage, dass 59 Prozent der Bevölkerung Angst vor einem Dritten Weltkrieg haben.
Das 1945 von Albert Einstein und anderen Atomphysikern gegründete »Bulletin of the Atomic Scientists« hat seine berühmte Weltuntergangsuhr vor kurzem auf 89 Sekunden vor Mitternacht umgestellt. Das ist der niedrigste Wert, den das von verschiedenen Nobelpreisträgern unterstützte Institut jemals gemeldet hat. Noch nie war die Gefahr eines atomaren Konflikts mit all seinen verheerenden Folgen nach Ansicht der Wissenschaftler so groß.
Als Mensch möchte man eigentlich nicht glauben, was sich auf Basis wissenschaftlicher Prüfungen immer deutlicher aufdrängt. Danach befinden wir uns in einer äußerst gefährlichen Situation. Zweifelsohne gibt es einige Parallelen zum Sommer 1914, und wer sich diverse Darstellungen in Karl Kraus‹ »Letze Tage der Menschheit« durchliest, hat bisweilen den Eindruck, sich mitten in einer durchschnittlichen Inforadio-, ARD- oder ZDF-Nachrichten- oder Talk-Sendung zu befinden. Doch jenseits alles einseitigen Kriegstüchtigkeitsgeschwurbels in vielen Redaktionen und Parteien drängt sich das ungleich höhere Vernichtungspotenzial in der Gegenwart auf. Dieses Spezifikum wird von den handelnden Regierenden offensichtlich systematisch ausgeblendet, obwohl deren Amtseid nicht lautet, die Ukraine mit Waffen vollzupumpen, da wir nun mal »Krieg gegen Russland« führen, »egal, was meine Wähler sagen« (Baerbock), sondern »Schaden vom deutschen Volk abzuwenden« (GG). Selbst wenn alle Atommächte nicht beabsichtigten, in den Krieg zu ziehen, wäre eine Nuklearkriegs-Katastrophe innerhalb weniger Minuten allein durch (technische) Fehlinterpretationen und Kettenreaktionen möglich.
Der ehemalige Bundesaußenminister von einer ehemaligen Friedenspartei, Joseph Fischer, bezeichnet derweil die Deutschen mit offenbar abwertender Absicht kollektiv als »strukturelle Pazifisten« und fordert, diese Einstellung dringend zu »revidieren« (Welt.de vom 22.10.2025). Bereits am 6. April 2025 führte die ARD-Journalistin Caren Miosga für ihre gleichnamige Sendung ein Gespräch mit dem Ex-Minister. Nachdem sie wörtlich festhält: »In unserer DNA liegt Pazifismus«, fragt sie den Alt-68er: »Wie können wir diesen Code schneller überschreiben?«. Darauf antwortet der Vertreter einer einstigen Friedenspartei: »Das geht zwar nicht über Nacht, aber es ging schon mal: in den 1950er-Jahren.« Ach ja, das waren noch Zeiten: die 50er Jahre. Alte Nazis gründeten Geheimdienste, die Russen waren an allem schuld, die Schulen und Hochschulen, der Justizapparat, aber auch die Krankenhäuser, Kirchen und Verwaltungen waren voll mit heldenhaften NSDAP-Mitgliedern, die Remilitarisierung beschlossen, die Kommunisten verboten – herrlich.
Vor solchem Hintergrund ergibt fast alles wieder einen Sinn. Die Nato erhält den »Westfälischen Friedenspreis«. Das Verteidigungsministerium des aggressivsten imperialistischen Staates heißt folgerichtig wieder »Kriegsministerium«. In Europa haben sich die Vasallen bereits an die inhaltlichen Vorgaben der neuen Sprachregelung angepasst. Nur manchmal stören noch die alten Begriffe. Natürlich sollte es eigentlich nicht »Friedensnobelpreis« heißen, sondern »Kriegsnobelpreis«. Die Preisträgerin von 2025 fordert schließlich unentwegt einen Angriffskrieg der USA auf ihr zufällig erdölreiches Heimatland Venezuela. Woanders nennt man so etwas wahrscheinlich Hochverrat und bestraft es mit der Höchststrafe.
Doch daran haben sich bereits fast alle gewöhnt: Dass der EU-Sacharow-Preis regelmäßig nur an Menschenrechtler in Russland oder Belarus vergeben wird, scheint mittlerweile selbstverständlich zu sein. Warum sollte sich auch ein europäischer Menschenrechts-Preis mit Menschenrechtsverletzungen, Grundrechtseinschränkungen, Wahlmanipulationen und anderem im EU-Einflussbereich seit Corona beschäftigen? Wen interessiert das schon? Dann doch lieber Gefängnisinsassen bejubeln, die Polizisten angegriffen haben oder Hochverrat gegen ihre eigene staatliche Integrität begehen. Und so waren auch die Ausgezeichneten für 2025 natürlich vorhersehbar aus Georgien (misslungener Regime Change 2024/25) und aus Belarus (misslungene Regime Changes seit vielen Jahren) – und nicht etwa entrechtete deutsche Journalisten oder inhaftierte bzw. verbotene Oppositionspolitiker in Rumänien oder Moldawien. Und schon gar nicht Julian Assange und Edward Snowden. Wo kämen wir denn dahin?
Würde man all die Veranstaltungen, Preise, Auszeichnungen und Einladungen der letzten Jahre aufzählen wollen, die kurzfristig abgesagt und zurückgezogen wurden, weil der betreffenden Person wegen Besatzungs- oder Genozid-Kritik »Antisemitismus« unterstellt wurde, käme man kaum zu einem Ende. Umgekehrt sind die Genozidleugner, Kriegsverharmloser und -komplizen nicht nur immer besser angesehen, sondern immer häufiger gerade auch für friedensrelevante Auszeichnungen vorgesehen. Auch beim sogenannten Friedens-Preis des deutschen Buchhandels scheinen seit Jahren Russophobie und Kriegshetze kein Hinderungsgrund, sondern vielmehr ausschlaggebend für ihre »Friedens«-Auszeichnung durch die Jury zu sein.
Und das Friedens-Nobelpreis-Komitee 2025 hat sich – wie bereits erwähnt – eine explizit rechtsextreme Kriegshetzerin aus Venezuela ausgewählt. Sehr geschmackvoll. Herr Trump durfte es leider noch nicht werden, aber eine seiner Anhängerinnen, die explizit einen Überfall der USA auf Venezuela fordert, ist ja auch schon was. Außerdem hat sie ihren Preis gleich Donald Trump gewidmet.
Am 9. Juli 1944 erschien ein Beitrag in der Deutschen Wochenzeitung Das Reich vom NS-Reichsminister Dr. Joseph Goebbels. Die Überschrift lautete »Kriegstüchtig, wie nur je«. Schon acht Jahre vorher hatte Adolf Hitler im sogenannten Vierjahresplan 1936 gefordert: »Die deutsche Wirtschaft muss in vier Jahren kriegsfähig sein.« Wer »alles für Deutschland« ruft (SA 1933; AfD-Politiker Höcke 2023), kommt vor Gericht – wer »alles für Deutschlands Kriegstüchtigkeit« ruft, kommt ins Fernsehen und ins Kabinett.
Doch NS-Anleihen scheinen in der bürgerlichen Mitte en vogue zu sein. Der sog. Volkssturm war das letzte Aufgebot der Nazis 1944/45; Senioren und Kinder wurden noch kurz vor Kriegsende zwangsrekrutiert, um den »Heldentod« gegen die alliierten Soldaten zu sterben. Wer sich damit gemein macht, hat einen eigentümlichen Humor. Marie-Agnes Strack-Zimmermann rief in wahrscheinlich satirischer Absicht in der Heute-Show vom 16. Februar 2019: »Ich bin gut für den Volkssturm (…) Russen, passt auf, was Sache ist!« Es ist bezeichnend, dass daran genauso wenig öffentlich Anstoß genommen wurde, wie an Pistorius‹ »Kriegstüchtigkeit«. Offensichtlich gibt es für manche NS-Anspielungen eine sehr große Toleranz in Deutschland.
In Brechts Theaterstück »Mutter Courage und ihrer Kinder« rettet ein behindertes Kind mit seinem Trommeln die Zivilbevölkerung von Halle im 30-jährigen Krieg – und wird dafür von Soldaten ermordet. Seine Mutter, die »Mutter Courage« versucht, als kleine Händlerin vom Krieg zu profitieren und verliert dabei nach und nach alle ihre Kinder, bleibt aber unbelehrbar. Im Wahlkampf 2024 zum EU-Parlament inszenierte sich die FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann auf riesigen Plakaten als »Oma Courage«. Auch behauptete sie allen Ernstes im österreichischen Fernsehsender ORF (23.3.2025), Putin habe »hunderte Millionen Menschen« umgebracht, und die Ukraine ernähre mit ihrem Weizen »70 Milliarden Menschen« (bei einer Weltbevölkerung von etwa 8 Mrd.).
Für solchen »Volkssturm«-Humor fehlte eigentlich nur noch ein Preis. Et violà! Die rechts-autoritäre Rüstungslobbyistin erhält tatsächlich den nach einem Friedens-, Reform- und Demokratie-Pädagogen benannten Janusz Korczak-Preis 2025. Und, als wäre das nicht schon genug der Real-Satire, lässt sie sich die Laudatio auch noch von einem anderen Rüstungslobbyisten mit akademischem Titel halten: Carlo Masala von der Bundeswehr-Universität durfte sie öffentlich loben.
Das ist bezeichnend für den kognitiv-mentalen Zustand der deutschen Geistes-Gegenwart seit dem Ausrufen der sog. Zeitenwende 2022. Der Feind steht mal wieder im Osten. Er war ebengerade noch ruiniert und am Boden, doch jetzt befindet er sich schon kurz vor dem Brandenburger Tor. Das heißt: Nein, er ist so fair, auf die Nato-Aufrüstung bis 2029 zu warten und greift dann an. Jede/r, der oder die diese seit Jahren komplett irrationalen und unverantwortlichen Nato-Narrative infrage stellt, wird verdächtigt, mit dem »russischen Aggressor« verbandelt zu sein.
Dagegen lässt sich doch ziemlich klar erkennen: Die Gefahr kommt nicht von außen, sondern von oben. Nicht der »Feind im Osten«, sondern die Herrschenden und ihre Regierung bedrohen das Leben der Bevölkerung durch Aufrüstung und Sozialabbau.