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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Mangel an Eskalationsbereitschaft

»Die Deut­schen lei­den unter einer Krank­heit, die man als Eska­la­ti­ons­pho­bie bezeich­nen muss«, so der Poli­tik­wis­sen­schaft­ler Joa­chim Krau­se in der FAZ (07.02.2023). Furcht vor einer Eska­la­ti­on des Ukrai­ne-Kriegs, die Krau­se als »Eska­la­ti­ons­pho­bie« denun­ziert, ist in der deut­schen Bevöl­ke­rung trotz aller Kriegs­pro­pa­gan­da tat­säch­lich weit ver­brei­tet. Im Okto­ber 2022 zeig­te eine Umfra­ge, dass 59 Pro­zent der Bevöl­ke­rung Angst vor einem Drit­ten Welt­krieg haben.

Das 1945 von Albert Ein­stein und ande­ren Atom­phy­si­kern gegrün­de­te »Bul­le­tin of the Ato­mic Sci­en­tists« hat sei­ne berühm­te Welt­un­ter­gangs­uhr vor kur­zem auf 89 Sekun­den vor Mit­ter­nacht umge­stellt. Das ist der nied­rig­ste Wert, den das von ver­schie­de­nen Nobel­preis­trä­gern unter­stütz­te Insti­tut jemals gemel­det hat. Noch nie war die Gefahr eines ato­ma­ren Kon­flikts mit all sei­nen ver­hee­ren­den Fol­gen nach Ansicht der Wis­sen­schaft­ler so groß.

Als Mensch möch­te man eigent­lich nicht glau­ben, was sich auf Basis wis­sen­schaft­li­cher Prü­fun­gen immer deut­li­cher auf­drängt. Danach befin­den wir uns in einer äußerst gefähr­li­chen Situa­ti­on. Zwei­fels­oh­ne gibt es eini­ge Par­al­le­len zum Som­mer 1914, und wer sich diver­se Dar­stel­lun­gen in Karl Kraus‹ »Let­ze Tage der Mensch­heit« durch­liest, hat bis­wei­len den Ein­druck, sich mit­ten in einer durch­schnitt­li­chen Info­ra­dio-, ARD- oder ZDF-Nach­rich­ten- oder Talk-Sen­dung zu befin­den. Doch jen­seits alles ein­sei­ti­gen Kriegs­tüch­tig­keits­ge­schwur­bels in vie­len Redak­tio­nen und Par­tei­en drängt sich das ungleich höhe­re Ver­nich­tungs­po­ten­zi­al in der Gegen­wart auf. Die­ses Spe­zi­fi­kum wird von den han­deln­den Regie­ren­den offen­sicht­lich syste­ma­tisch aus­ge­blen­det, obwohl deren Amts­eid nicht lau­tet, die Ukrai­ne mit Waf­fen voll­zu­pum­pen, da wir nun mal »Krieg gegen Russ­land« füh­ren, »egal, was mei­ne Wäh­ler sagen« (Baer­bock), son­dern »Scha­den vom deut­schen Volk abzu­wen­den« (GG). Selbst wenn alle Atom­mäch­te nicht beab­sich­tig­ten, in den Krieg zu zie­hen, wäre eine Nukle­ar­kriegs-Kata­stro­phe inner­halb weni­ger Minu­ten allein durch (tech­ni­sche) Fehl­in­ter­pre­ta­tio­nen und Ket­ten­re­ak­tio­nen möglich.

Der ehe­ma­li­ge Bun­des­au­ßen­mi­ni­ster von einer ehe­ma­li­gen Frie­dens­par­tei, Joseph Fischer, bezeich­net der­weil die Deut­schen mit offen­bar abwer­ten­der Absicht kol­lek­tiv als »struk­tu­rel­le Pazi­fi­sten« und for­dert, die­se Ein­stel­lung drin­gend zu »revi­die­ren« (Welt.de vom 22.10.2025). Bereits am 6. April 2025 führ­te die ARD-Jour­na­li­stin Caren Mios­ga für ihre gleich­na­mi­ge Sen­dung ein Gespräch mit dem Ex-Mini­ster. Nach­dem sie wört­lich fest­hält: »In unse­rer DNA liegt Pazi­fis­mus«, fragt sie den Alt-68er: »Wie kön­nen wir die­sen Code schnel­ler über­schrei­ben?«. Dar­auf ant­wor­tet der Ver­tre­ter einer ein­sti­gen Frie­dens­par­tei: »Das geht zwar nicht über Nacht, aber es ging schon mal: in den 1950er-Jah­ren.« Ach ja, das waren noch Zei­ten: die 50er Jah­re. Alte Nazis grün­de­ten Geheim­dien­ste, die Rus­sen waren an allem schuld, die Schu­len und Hoch­schu­len, der Justiz­ap­pa­rat, aber auch die Kran­ken­häu­ser, Kir­chen und Ver­wal­tun­gen waren voll mit hel­den­haf­ten NSDAP-Mit­glie­dern, die Remi­li­ta­ri­sie­rung beschlos­sen, die Kom­mu­ni­sten ver­bo­ten – herrlich.

Vor sol­chem Hin­ter­grund ergibt fast alles wie­der einen Sinn. Die Nato erhält den »West­fä­li­schen Frie­dens­preis«. Das Ver­tei­di­gungs­mi­ni­ste­ri­um des aggres­siv­sten impe­ria­li­sti­schen Staa­tes heißt fol­ge­rich­tig wie­der »Kriegs­mi­ni­ste­ri­um«. In Euro­pa haben sich die Vasal­len bereits an die inhalt­li­chen Vor­ga­ben der neu­en Sprach­re­ge­lung ange­passt. Nur manch­mal stö­ren noch die alten Begrif­fe. Natür­lich soll­te es eigent­lich nicht »Frie­dens­no­bel­preis« hei­ßen, son­dern »Kriegs­no­bel­preis«. Die Preis­trä­ge­rin von 2025 for­dert schließ­lich unent­wegt einen Angriffs­krieg der USA auf ihr zufäl­lig erd­öl­rei­ches Hei­mat­land Vene­zue­la. Woan­ders nennt man so etwas wahr­schein­lich Hoch­ver­rat und bestraft es mit der Höchststrafe.

Doch dar­an haben sich bereits fast alle gewöhnt: Dass der EU-Sacha­row-Preis regel­mä­ßig nur an Men­schen­recht­ler in Russ­land oder Bela­rus ver­ge­ben wird, scheint mitt­ler­wei­le selbst­ver­ständ­lich zu sein. War­um soll­te sich auch ein euro­päi­scher Men­schen­rechts-Preis mit Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen, Grund­rechts­ein­schrän­kun­gen, Wahl­ma­ni­pu­la­tio­nen und ande­rem im EU-Ein­fluss­be­reich seit Coro­na beschäf­ti­gen? Wen inter­es­siert das schon? Dann doch lie­ber Gefäng­nis­in­sas­sen beju­beln, die Poli­zi­sten ange­grif­fen haben oder Hoch­ver­rat gegen ihre eige­ne staat­li­che Inte­gri­tät bege­hen. Und so waren auch die Aus­ge­zeich­ne­ten für 2025 natür­lich vor­her­seh­bar aus Geor­gi­en (miss­lun­ge­ner Regime Chan­ge 2024/​25) und aus Bela­rus (miss­lun­ge­ne Regime Chan­ges seit vie­len Jah­ren) – und nicht etwa ent­rech­te­te deut­sche Jour­na­li­sten oder inhaf­tier­te bzw. ver­bo­te­ne Oppo­si­ti­ons­po­li­ti­ker in Rumä­ni­en oder Mol­da­wi­en. Und schon gar nicht Juli­an Assan­ge und Edward Snow­den. Wo kämen wir denn dahin?

Wür­de man all die Ver­an­stal­tun­gen, Prei­se, Aus­zeich­nun­gen und Ein­la­dun­gen der letz­ten Jah­re auf­zäh­len wol­len, die kurz­fri­stig abge­sagt und zurück­ge­zo­gen wur­den, weil der betref­fen­den Per­son wegen Besat­zungs- oder Geno­zid-Kri­tik »Anti­se­mi­tis­mus« unter­stellt wur­de, käme man kaum zu einem Ende. Umge­kehrt sind die Geno­zid­leug­ner, Kriegs­ver­harm­lo­ser und -kom­pli­zen nicht nur immer bes­ser ange­se­hen, son­dern immer häu­fi­ger gera­de auch für frie­dens­re­le­van­te Aus­zeich­nun­gen vor­ge­se­hen. Auch beim soge­nann­ten Frie­dens-Preis des deut­schen Buch­han­dels schei­nen seit Jah­ren Rus­so­pho­bie und Kriegs­het­ze kein Hin­de­rungs­grund, son­dern viel­mehr aus­schlag­ge­bend für ihre »Friedens«-Auszeichnung durch die Jury zu sein.

Und das Frie­dens-Nobel­preis-Komi­tee 2025 hat sich – wie bereits erwähnt – eine expli­zit rechts­extre­me Kriegs­het­ze­rin aus Vene­zue­la aus­ge­wählt. Sehr geschmack­voll. Herr Trump durf­te es lei­der noch nicht wer­den, aber eine sei­ner Anhän­ge­rin­nen, die expli­zit einen Über­fall der USA auf Vene­zue­la for­dert, ist ja auch schon was. Außer­dem hat sie ihren Preis gleich Donald Trump gewidmet.

Am 9. Juli 1944 erschien ein Bei­trag in der Deut­schen Wochen­zei­tung Das Reich vom NS-Reichs­mi­ni­ster Dr. Joseph Goeb­bels. Die Über­schrift lau­te­te »Kriegs­tüch­tig, wie nur je«. Schon acht Jah­re vor­her hat­te Adolf Hit­ler im soge­nann­ten Vier­jah­res­plan 1936 gefor­dert: »Die deut­sche Wirt­schaft muss in vier Jah­ren kriegs­fä­hig sein.« Wer »alles für Deutsch­land« ruft (SA 1933; AfD-Poli­ti­ker Höcke 2023), kommt vor Gericht – wer »alles für Deutsch­lands Kriegs­tüch­tig­keit« ruft, kommt ins Fern­se­hen und ins Kabinett.

Doch NS-Anlei­hen schei­nen in der bür­ger­li­chen Mit­te en vogue zu sein. Der sog. Volks­sturm war das letz­te Auf­ge­bot der Nazis 1944/​45; Senio­ren und Kin­der wur­den noch kurz vor Kriegs­en­de zwangs­re­kru­tiert, um den »Hel­den­tod« gegen die alli­ier­ten Sol­da­ten zu ster­ben. Wer sich damit gemein macht, hat einen eigen­tüm­li­chen Humor. Marie-Agnes Strack-Zim­mer­mann rief in wahr­schein­lich sati­ri­scher Absicht in der Heu­te-Show vom 16. Febru­ar 2019: »Ich bin gut für den Volks­sturm (…) Rus­sen, passt auf, was Sache ist!« Es ist bezeich­nend, dass dar­an genau­so wenig öffent­lich Anstoß genom­men wur­de, wie an Pisto­ri­us‹ »Kriegs­tüch­tig­keit«. Offen­sicht­lich gibt es für man­che NS-Anspie­lun­gen eine sehr gro­ße Tole­ranz in Deutschland.

In Brechts Thea­ter­stück »Mut­ter Cou­ra­ge und ihrer Kin­der« ret­tet ein behin­der­tes Kind mit sei­nem Trom­meln die Zivil­be­völ­ke­rung von Hal­le im 30-jäh­ri­gen Krieg – und wird dafür von Sol­da­ten ermor­det. Sei­ne Mut­ter, die »Mut­ter Cou­ra­ge« ver­sucht, als klei­ne Händ­le­rin vom Krieg zu pro­fi­tie­ren und ver­liert dabei nach und nach alle ihre Kin­der, bleibt aber unbe­lehr­bar. Im Wahl­kampf 2024 zum EU-Par­la­ment insze­nier­te sich die FDP-Poli­ti­ke­rin Marie-Agnes Strack-Zim­mer­mann auf rie­si­gen Pla­ka­ten als »Oma Cou­ra­ge«. Auch behaup­te­te sie allen Ern­stes im öster­rei­chi­schen Fern­seh­sen­der ORF (23.3.2025), Putin habe »hun­der­te Mil­lio­nen Men­schen« umge­bracht, und die Ukrai­ne ernäh­re mit ihrem Wei­zen »70 Mil­li­ar­den Men­schen« (bei einer Welt­be­völ­ke­rung von etwa 8 Mrd.).

Für sol­chen »Volkssturm«-Humor fehl­te eigent­lich nur noch ein Preis. Et vio­là! Die rechts-auto­ri­tä­re Rüstungs­lob­by­istin erhält tat­säch­lich den nach einem Frie­dens-, Reform- und Demo­kra­tie-Päd­ago­gen benann­ten Janusz Kor­c­zak-Preis 2025. Und, als wäre das nicht schon genug der Real-Sati­re, lässt sie sich die Lau­da­tio auch noch von einem ande­ren Rüstungs­lob­by­isten mit aka­de­mi­schem Titel hal­ten: Car­lo Masa­la von der Bun­des­wehr-Uni­ver­si­tät durf­te sie öffent­lich loben.

Das ist bezeich­nend für den kogni­tiv-men­ta­len Zustand der deut­schen Gei­stes-Gegen­wart seit dem Aus­ru­fen der sog. Zei­ten­wen­de 2022. Der Feind steht mal wie­der im Osten. Er war eben­ge­ra­de noch rui­niert und am Boden, doch jetzt befin­det er sich schon kurz vor dem Bran­den­bur­ger Tor. Das heißt: Nein, er ist so fair, auf die Nato-Auf­rü­stung bis 2029 zu war­ten und greift dann an. Jede/​r, der oder die die­se seit Jah­ren kom­plett irra­tio­na­len und unver­ant­wort­li­chen Nato-Nar­ra­ti­ve infra­ge stellt, wird ver­däch­tigt, mit dem »rus­si­schen Aggres­sor« ver­ban­delt zu sein.

Dage­gen lässt sich doch ziem­lich klar erken­nen: Die Gefahr kommt nicht von außen, son­dern von oben. Nicht der »Feind im Osten«, son­dern die Herr­schen­den und ihre Regie­rung bedro­hen das Leben der Bevöl­ke­rung durch Auf­rü­stung und Sozialabbau.