»Heute bin ich bei Euch«, mit diesen Worten kam Marc Aurel in seine Kaiserresidenz Trier, das römische Augusta Treverorum. Da den Philosophen auf dem Kaiserthron, außer Fachleuten, heute nur wenige genauer kennen, waren für die Eröffnung der Großen Landesausstellung zwei Teile erforderlich: »Marc Aurel Kaiser, Feldherr, Philosoph« im Rheinischen Landesmuseum und »Was ist gute Herrschaft« im Stadtmuseum Simeon-Stift. Die Generaldirektion »Kulturelles Erbe Rheinland-Pfalz«, die für dieses Projekt neun Millionen Euro eingeworben hat, verbindet mit dem Projekt die Absicht, einem großen Publikum ein spannendes Bildungserlebnis anzubieten. Dazu bediente man sich zweier kuratorischer Kunstgriffe: Kniff eins besteht darin, zuerst Kaiser und Philosoph »real« vorzustellen. Schauspieler Udo Schenk spielte den Kaiser bei der Eröffnung in der Ich-Person – und erzählte in »ungekünstelter Würde«, eben stoisch, wie man sich den Politiker aus seinen »Selbstbetrachtungen« vorstellen kann. Kniff zwei ist noch raffinierter: Der Medienkünstler Daniel Voshart hat ein filmisches, fotorealistisches Porträt von Marc Aurel aus den Marmorbüsten, Münzbildnissen und literarischen Beschreibungen hergestellt, in dem der Kaiser erschreckend leibhaftig vor uns erscheint. Mit dem Mikrofon kann jeder an ihn Fragen stellen, die Marc Aurel beantwortet wie in einem realen Interview. Da hören wir beispielsweise, wie er von sich selbst erzählt. »Von den letzten fünf römischen Kaisern war mir die längste Regierungszeit vergönnt. Sechzig Jahre habe ich gelebt (von 121 bis 180 n. u. Z.) und davon zwei Drittel gestaltet. Ich bin zwanzig Jahre ununterbrochen in Feldlagern unterwegs gewesen.« Hier erinnert der Kaiser an die Markomannenkriege gegen die Einwanderung germanischer Stämme jenseits des Limes in Pannonien, in den Donauprovinzen, wo er jahrelang lagerte. »Dort hat meinem Heer die Antoninische Pest größte Verluste zugefügt. Auch ich bin daran erkrankt.«
Im Jahr 140 hatte Marc Aurel neunzehnjährig den Thron bestiegen, den er, wohlüberlegt, in eine Doppelspitze verwandelte, geteilt mit seinem Halbbruder Lucius Verus. Erst als dieser jung starb, trat er im Jahr 61 die Alleinherrschaft an. Aurel beherrschte ein Weltreich. Das zog sich vom Persischen Golf, über Afrika, Nord Gallien, zur Germania magna und im Norden bis nach Schottland. Sechzig Millionen Menschen unterstanden seiner Verwaltung, seiner ausgeklügelten Rechtsprechung, seinen neuen Erschließungs-Systemen und Heeresgesetzen. Mit 40 000 Einwohnern war Augusta Treverorum – nach Rom – die größte Stadt im Weströmischen Reich. Wie Perlen an einer Kette reihten sich damals 461 Tore an der Stadtmauer entlang in der unvorstellbaren Länge von 6400 Metern. Sie sollte Schutz vor Barbareneinfällen aus den Nordprovinzen schaffen. Zu den herausragenden fortifikatorischen Leistungen gehört die Porta Nigra. Sie gilt als das monumentalste Stadttor im gesamten Römischen Reich. Heute ist es das fast einzig erhaltene Trierer Stadttor, nur deswegen nicht geschliffen, weil es später als Kirche genutzt wurde.
Die »Selbstbetrachtungen«, die in 1.970 Abschriften vorliegen, haben bis heute eine Million-Auflage erfahren. Sie sind in achtzig Sprachen übersetzt. Damit wurden sie zum Weltklassiker. Es war die letzte Schrift der neuen Stoa. Als Schüler ist Aurel mit dieser Philosophie aufgewachsen. Die »Selbstbetrachtungen« hatte er allerdings in Griechisch verfasst. Jahre in der Stoischen Geisteshaltung geübt, überprüfte Aurel an deren Kernfragen täglich seine Handlungen, um künftig Fehler zu vermeiden und Richtlinien abzuleiten. Denn so ideal, wie er aus dieser, erst viel später gedruckten Schrift erscheint, konnte er tatsächlich nicht gewesen sein. In Deutschland ist diese Schrift 1494 von Johannes Reuchlin teilveröffentlicht worden.
Epikur war auch einer von Aurels Lehrern, der die griechische Idee von der guten und schlechten Herrschaft aktualisiert hat, die Aurel als Kaiser immer im Auge behielt, ja, zielstrebig trainierte. Ihm bereitete das Lernen dauerhaft größte Freude, auch weil ihm sehr gute Privatlehrer zuteilgeworden sind, u.a. Seneca. Durch ihn hat Aurel zu seinem spartanischen Lebensstil gefunden, demzufolge er auf fellbelegten Holzpritschen schlief. Obwohl er als Kronprinz solche Bescheidenheit nicht nötig hatte und an Gladiatoren- und blutigen Tierkämpfen in Arenen hätte teilnehmen sollen, zog er das Studium vor. Es ging ihm um gutes und ehrliches Leben. Das hat ihm sein Ziehvater und Förderer, Kaiser Hadrian, antrainiert. Hadrian war der dritte Kaiser, der ohne Erben blieb. Deswegen adoptierte er Aurel.
Das Landesmuseum Trier und das Städtischen Simeon-Stift teilen sich 223 Leihgaben von 117 Leihgebern auf 1600 m². Mit einem dreijährigen Vorlauf steht das Projekt vorläufig am Ende einer Folge herausragender Präsentationen im Archäologischen Museum Trier: 2007 »Kaiser Konstantin der Große«, 2016 »Nero – Kaiser, Künstler, Tyrann«, 2018 Karl Marx, 2022 »Der Untergang des Römischen Reiches«. Damit ist Trier zum Antikenzentrum Deutschlands gewachsen. Außerdem hatten die monumentalen römischen Bauwerke: Porta Nigra, Konstantinbasilika, Dom St. Peter und Paul, Kaiserthermen und Römerbrücke die Stadt bereits für das UNESCO-Welterbe qualifiziert.
Alles zusammengeführt sind wertvolle, manche bisher nie ausgeliehenen Sammlungsstücke zu sehen. Leihgaben kommen u.a. aus Frankreich (Musée du Louvre), London (British Museum), Florenz (Le Gallerie degli Uffizi), Rom, den drei Kapitolinischen Museen sowie dem Vatikan und aus Athen, aus der Ancient Agora. Tschechien und die Slowakei stellen neue Ausgrabungsfunde aus Pannonien zur Verfügung und gaben damit ihre neuesten Forschungsergebnisse frei. Umfang, Qualität und Präsentation der Leihgaben bewegen sich auf höchstem Niveau.
Welche Schwerpunkte setzt die Präsentation? Hervorgehoben wird die Biografie Marc Aurels. Aufgrund günstiger Quellenlage und der »Selbstbetrachtungen« kann sie – im Unterschied zum Leben anderer römischer Kaiser – ausführlich und vielseitig beleuchtet werden, immer mit Blick darauf, Thesen älterer archäologischer Forschung kritisch zu prüfen oder zu revidieren. Neue Lesarten ergeben sich zur Adoption, Erziehung und zum Studium des Kronprinzen Marc Aurels (Helena Huber). Überzeugend revidiert wird die Sicht auf den Mitkaiser Lucius Verus (Silva Bruder). Die vorliegende Sekundärliteratur deutet ihn als oberflächlichen, dem Luxus verfallenen Herrscher. Dahinter steht die Absicht, Marc Aurel für die Nachwelt zu überhöhen. Singularität und Einzigartigkeit seiner Person durchziehen die gesamte ältere Literatur. Ebenso nachteilig erscheint darin das Bild von Faustina der Jüngeren, Ehefrau des Kaisers, mit der er elf Kinder hatte. In den »Selbstbetrachtungen« entwirft der Kaiser ein zärtliches, liebevolles Bild von ihr. Schon zeitgenössische Historiografen wie Cassius Dio haben diese Erste Frau im Reich interpretiert als Verkörperung von Bosheit und Hinterhältigkeit, die den Kaiser betrog und ihn mit Hilfe der misslungenen Usurpation des Avidius Cassius im Jahr 177 zu entmachten versuchte. Dieser über Jahrhunderte fortgeschriebenen Herabsetzung geht K. Ackerheil in ihrer feinsinnigen Enthüllung nach, nobilitiert sie, ohne in Feminismus zu verfallen. Aufgeräumt wird auch mit dem Verdikt des Kaisers als Christenverfolger. C. Motschmann weist am Christenpogrom von Lyon 177 nach, dass sich Marc Aurel gegenüber anderen Religionen an die Toleranz-Vorsätze in den »Selbstbetrachtungen« gehalten habe. Naturwissenschaftler lesen die Quellen zur »Antoninische Pest« neu. Hierzu ist mangels Materials ernüchternd wenig, fast nichts Neues herausgekommen. Jedoch zu den Kriegen, die Marc Aurel als Feldherr geführt hat, vor allem den Markomannenkriegen im Donaugebiet, werden neue Forschungsergebnisse von M. Reuter, Ch. Schäfer und B. Komoróczy vorgestellt. Begleitet sind sie von Rekonstruktionen, Grabfunden, Dioramen und Videofilmen. Nachdenklich stimmen die zu plötzlichen Kriegsanlässen rasend schnell erfolgten und mit unvorstellbarem Materialaufwand betriebenen Heeresaushebungen und Kohortenbildungen. Legionen hatten Stärken von drei bis Fünftausend Söldnern. Das damit verbundene Verwaltungssystem, die Personal- und Wirtschaftspolitik Marc Aurels nötigen Hochachtung ab. Standards wurden geschaffen, die in Europa über Jahrhunderte unerreicht geblieben sind.
Die Marc-Aurel-Ehrensäule auf der Piazza Colonna in Rom verlebendigt auf einem Reliefband, das sich mit 23 Windungen spiralförmig dreißig Meter hochzieht, diese vielen Seiten der Persönlichkeit von Marc Aurel, die in der Ausstellung facettiert zerlegt sind in über zweihundert Exponate. In Trier ist eine Sequenz dieser Säule rekonstruiert worden.
Marc Aurel: Kaiser, Feldherr, Philosoph, Rheinisches Landesmuseum Trier, Begleitband: wbg Theiss Imprint Herder Verlag.
Marc Aurel: Was ist gute Herrschaft? Stadtmuseum Simeonstift Trier, Ausstellungskatalog: Nikolaus Bastian Druck und Verlag. Föhren
15. Juni bis 23. November 2025.