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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Masalas kriegerische Märchenstunde

Auf­fal­lend in der Debat­te über den Krieg an der Ost­flan­ke der Nato ist, dass von Sei­ten der Bel­li­zi­sten nie­mals ein Rüstungs-/Waf­fen­ver­gleich erwähnt und vor­ge­legt wird. Das wür­de ihre vehe­men­ten For­de­run­gen nach wei­te­rer Auf­rü­stung der Nato obso­let machen. Wie der erfah­re­ne Frie­dens­ak­ti­vist Lühr Hen­ken kürz­lich in einem fun­dier­ten Vor­trag dar­ge­legt hat, besit­zen die Nato-Staa­ten, selbst ohne den Mili­tär­gi­gan­ten USA in fast allen Waf­fen­gat­tun­gen eine teil­wei­se mehr­fa­che Über­macht. Daher ist es eher Russ­land, das sich vor der Nato äng­sti­gen muss, denn Mili­tär­stra­te­gen schät­zen, dass es einer drei­fa­chen, wenn nicht gar sechs­fa­chen mili­tä­ri­schen Über­le­gen­heit bedarf, um sieg­reich einen Krieg zu führen.

Neben die­sem Ver­schwei­gen von Fak­ten ist eine wei­te­re zen­tra­le Kom­po­nen­te der bel­li­zi­sti­schen Dis­kurs­stra­te­gie die ver­meint­lich aggres­si­ve, mas­sen­mör­de­ri­sche, völ­ker­rechts­ver­let­zen­de, impe­ria­li­sti­sche Poli­tik Russ­lands, genau­er: Putins. Dem von West­mäch­ten bereits drei­mal bekämpf­ten Land wird unbän­di­ger Expan­si­ons­drang unter­stellt, gegen den sich west­li­che Demo­kra­tien zu weh­ren haben.

Um sich die befürch­te­ten Taten die­ses ost­eu­ro­päi­schen Mon­sters bes­ser vor­stel­len zu kön­nen, wur­de nun von Car­lo Masa­la von der Uni­ver­si­tät der Bun­des­wehr schnell noch ein Büch­lein auf den Markt gebracht: »Wenn Russ­land gewinnt. Ein Sze­na­rio«. Masa­la ist einer der laut­stärk­sten Prot­ago­ni­sten bzw. Pro­pa­gan­di­sten, die vor der impe­ria­li­sti­schen Gefahr aus dem Osten war­nen, und ihm wird ent­spre­chend häu­fig in Talk-Shows und Inter­views Raum für die­se undif­fe­ren­zier­te Het­ze gebo­ten. In dem Buch for­dert er, »die euro­päi­schen Nato-Staa­ten müs­sen sich ernst­haft auf die zukünf­ti­ge Abschreckung und Ein­däm­mung Russ­lands vor­be­rei­ten«. Mit einer Schil­de­rung einer spe­zi­fi­schen künf­ti­gen Ent­wick­lung wird dies bel­le­tri­stisch und detail­reich ausgemalt.

Gemäß sei­ner Fan­ta­sie über­fal­len im März 2028 zwei rus­si­sche Bri­ga­den eine Klein­stadt in Est­land, in der über­wie­gend Rus­sen woh­nen und sich in ihren Grund­rech­ten ver­letzt füh­len. Die­ser Über­fall wird von Russ­lands Füh­rung umfas­send vor­be­rei­tet und orche­striert, unter ande­rem auch durch Ablen­kungs­ma­nö­ver im süd­chi­ne­si­schen Meer, durch erzwun­ge­ne Flücht­lings­strö­me in EU-Staa­ten und sogar durch einen Ter­ror­an­schlag auf den Chef des deut­schen Rüstungs­kon­zerns »Rhein­ei­sen«. Auch taucht ein schwer­be­waff­ne­tes Atom-U-Boot nahe Grön­land auf, und ein Team pflanzt auf einer win­zi­gen Insel eine rus­si­sche Flag­ge auf. Die­se und wei­te­re Attacken Russ­lands haben zum Hin­ter­grund, dass die­ses Land (genau­er: Putin) den Krieg gegen die Ukrai­ne gewon­nen habe, die Ukrai­ne ein Trüm­mer­hau­fen sei und kapi­tu­liert habe. Nach eini­ger Zeit wür­de dort ein Russ­land-freund­li­ches Par­la­ment und ein eben­sol­cher Prä­si­dent gewählt. Zugleich wer­de in Russ­land ein neu­er jun­ger Prä­si­dent gewählt, der auf Tau­wet­ter hof­fen lässt, wäh­rend Putin noch als gro­ßer Sie­ger und elder sta­tes­man wirkt. Dem­nach soll Russ­land wie­der eine Groß­macht wer­den und ver­lo­re­ne Gebie­te zurück­er­obern. Und der Lei­ter der Prä­si­di­al­ver­wal­tung und Ex-Gene­ral erklärt: »Das Ziel einer rus­si­schen Kam­pa­gne muss also ein Aus­te­sten der Bereit­schaft der Nato-Staa­ten sein, auf einen Vor­stoß der rus­si­schen Streit­kräf­te zu reagieren.«

Gegen­über die­sem Erzähl­strang wird die Hal­tung west­li­cher Regie­run­gen dar­ge­stellt, die zöger­lich und uneins han­deln, Ver­laut­ba­run­gen abge­ben, aber dem »neo-impe­ria­len« Russ­land nichts ent­ge­gen­set­zen. Das füh­re dazu, dass Russ­land mit sei­ner klei­nen Attacke im Bal­ti­kum erfolg­reich bleibt, da im Westen der Tenor sei: Wegen einer klei­nen Stadt in Est­land ris­kie­ren wir nicht den Drit­ten Weltkrieg.

Im Nach­wort for­mu­liert Masa­la sei­ne drei Leh­ren: Erstens, die nuklea­ren Droh­ge­bär­den Russ­lands hät­ten lei­der gewirkt und eine schnel­le­re Inten­si­vie­rung der Front gegen Russ­land blockiert, weil »Angst­un­ter­neh­mer« (sic!), wie z. B. Frie­dens­be­we­gung und Lin­ke, in den west­li­chen Län­dern agiert hät­ten. Zwei­tens, die west­li­chen Regie­run­gen hät­ten kei­ne Stra­te­gie in Bezug auf den Ukrai­ne-Krieg beses­sen, das Ziel ihrer Poli­tik war unklar. Drit­tens spiel­te die gesell­schaft­li­che und poli­ti­sche »Ermat­tung“ eine zen­tra­le Rol­le für die Durch­set­zung Russ­lands aggres­si­ver Absich­ten. Masa­la behaup­tet: »Obwohl fast alle Ver­tei­di­gungs­mi­ni­ster, alle Gene­ral­stabs­chefs und auch ver­ein­zelt Staats- und Regie­rungs­chefs dar­auf hin­wei­sen, dass der rus­si­sche Impe­ria­lis­mus in der Ukrai­ne nicht halt­ma­chen wird; dass Russ­land sich mili­tä­risch bereits auf den Tag danach vor­be­rei­tet; dass ein mili­tä­ri­scher Kon­flikt zwi­schen der Nato und Russ­land künf­tig nicht aus­zu­schlie­ßen ist, blei­ben gro­ße Tei­le der Bevöl­ke­run­gen skep­tisch, was die­se Pro­gno­sen angeht.« Sol­che Mei­nun­gen als Pro­gno­se zu bezeich­nen, ist recht über­heb­lich, und ins­ge­samt ist die­ses dün­ne Buch vor allem ein Aus­ma­len eines der­zeit vor­herr­schen­den Feind­bil­des und ein Kampf­mit­tel in der ideo­lo­gi­schen Aus­ein­an­der­set­zung gegen Argu­men­ta­tio­nen für Frieden.

Etwas Rea­li­tät scheint aber auch auf: »Russ­land abzu­schrecken und ein­zu­däm­men, kann nur gelin­gen, wenn die euro­päi­schen Gesell­schaf­ten bereit sind, den dafür ange­fal­le­nen Preis zu zah­len. Und die­ser Preis bemisst sich zwar im Extrem­fall der Bünd­nis­ver­tei­di­gung in Men­schen­le­ben, er fällt aber bereits jetzt an als öko­no­mi­sche und poli­ti­sche Kosten. Wer eine Stei­ge­rung von Ver­tei­di­gungs­aus­ga­ben durch­set­zen will, der wird in ande­ren Berei­chen kür­zen müs­sen oder kann dort zumin­dest weni­ger inve­stie­ren. Es wird also auch um eine Prio­ri­sie­rung von Staats­auf­ga­ben gehen.«

Nun, vom Stand­punkt eines Zukunfts­for­schers ist der Text von Masa­la kein »Sze­na­rio«, son­dern ein mili­tä­ri­sches Erwach­se­nen­mär­chen, mit dem kla­ren Ziel, Angst zu erzeu­gen, Abschreckung zu erhö­hen und Auf­rü­stung zu erzwin­gen. Dazu wird wie­der das simp­le Feind­bild repro­du­ziert, die laten­te Rus­so­pho­bie inkl. Anti­kom­mu­nis­mus mobi­li­siert. Masa­la arti­ku­liert aus­schließ­lich die Sicht­wei­se der USA, Nato, der Strat­Com, CIA/​DIA/​NSA & Co. und kon­ser­va­tiv-reak­tio­nä­rer west­li­cher Eli­ten in Poli­tik, Indu­strie und Medi­en. Damit ist das Buch ist eine raf­fi­nier­te Ablen­kung von den Trieb­kräf­ten und Ursa­chen des Kon­flikts, ein raf­fi­nier­tes Framing.

Dass Sicher­heit nicht durch Ent­span­nung und Frie­den, son­dern durch Angst­ver­brei­tung und Kriegs­tüch­tig­keit her­ge­stellt wer­den soll, ist ein gera­de­zu patho­lo­gi­sches Para­dox. Ange­sichts sol­cher in den Medi­en auf­tre­ten­der Exper­ten ist es nicht ver­wun­der­lich, dass sich nai­ver Bel­li­zis­mus und ent­mensch­te Gewalt­fan­ta­sien aus­brei­ten. Zugleich wer­den aber die Stim­men für Ent­span­nung, ver­trau­ens­bil­den­de Maß­nah­men und Frie­den immer stärker.

 Car­lo Masa­la: Wenn Russ­land gewinnt. Ein Sze­na­rio, C.H. Beck Ver­lag, Mün­chen 2025, 116 S., 15 €.