Auffallend in der Debatte über den Krieg an der Ostflanke der Nato ist, dass von Seiten der Bellizisten niemals ein Rüstungs-/Waffenvergleich erwähnt und vorgelegt wird. Das würde ihre vehementen Forderungen nach weiterer Aufrüstung der Nato obsolet machen. Wie der erfahrene Friedensaktivist Lühr Henken kürzlich in einem fundierten Vortrag dargelegt hat, besitzen die Nato-Staaten, selbst ohne den Militärgiganten USA in fast allen Waffengattungen eine teilweise mehrfache Übermacht. Daher ist es eher Russland, das sich vor der Nato ängstigen muss, denn Militärstrategen schätzen, dass es einer dreifachen, wenn nicht gar sechsfachen militärischen Überlegenheit bedarf, um siegreich einen Krieg zu führen.
Neben diesem Verschweigen von Fakten ist eine weitere zentrale Komponente der bellizistischen Diskursstrategie die vermeintlich aggressive, massenmörderische, völkerrechtsverletzende, imperialistische Politik Russlands, genauer: Putins. Dem von Westmächten bereits dreimal bekämpften Land wird unbändiger Expansionsdrang unterstellt, gegen den sich westliche Demokratien zu wehren haben.
Um sich die befürchteten Taten dieses osteuropäischen Monsters besser vorstellen zu können, wurde nun von Carlo Masala von der Universität der Bundeswehr schnell noch ein Büchlein auf den Markt gebracht: »Wenn Russland gewinnt. Ein Szenario«. Masala ist einer der lautstärksten Protagonisten bzw. Propagandisten, die vor der imperialistischen Gefahr aus dem Osten warnen, und ihm wird entsprechend häufig in Talk-Shows und Interviews Raum für diese undifferenzierte Hetze geboten. In dem Buch fordert er, »die europäischen Nato-Staaten müssen sich ernsthaft auf die zukünftige Abschreckung und Eindämmung Russlands vorbereiten«. Mit einer Schilderung einer spezifischen künftigen Entwicklung wird dies belletristisch und detailreich ausgemalt.
Gemäß seiner Fantasie überfallen im März 2028 zwei russische Brigaden eine Kleinstadt in Estland, in der überwiegend Russen wohnen und sich in ihren Grundrechten verletzt fühlen. Dieser Überfall wird von Russlands Führung umfassend vorbereitet und orchestriert, unter anderem auch durch Ablenkungsmanöver im südchinesischen Meer, durch erzwungene Flüchtlingsströme in EU-Staaten und sogar durch einen Terroranschlag auf den Chef des deutschen Rüstungskonzerns »Rheineisen«. Auch taucht ein schwerbewaffnetes Atom-U-Boot nahe Grönland auf, und ein Team pflanzt auf einer winzigen Insel eine russische Flagge auf. Diese und weitere Attacken Russlands haben zum Hintergrund, dass dieses Land (genauer: Putin) den Krieg gegen die Ukraine gewonnen habe, die Ukraine ein Trümmerhaufen sei und kapituliert habe. Nach einiger Zeit würde dort ein Russland-freundliches Parlament und ein ebensolcher Präsident gewählt. Zugleich werde in Russland ein neuer junger Präsident gewählt, der auf Tauwetter hoffen lässt, während Putin noch als großer Sieger und elder statesman wirkt. Demnach soll Russland wieder eine Großmacht werden und verlorene Gebiete zurückerobern. Und der Leiter der Präsidialverwaltung und Ex-General erklärt: »Das Ziel einer russischen Kampagne muss also ein Austesten der Bereitschaft der Nato-Staaten sein, auf einen Vorstoß der russischen Streitkräfte zu reagieren.«
Gegenüber diesem Erzählstrang wird die Haltung westlicher Regierungen dargestellt, die zögerlich und uneins handeln, Verlautbarungen abgeben, aber dem »neo-imperialen« Russland nichts entgegensetzen. Das führe dazu, dass Russland mit seiner kleinen Attacke im Baltikum erfolgreich bleibt, da im Westen der Tenor sei: Wegen einer kleinen Stadt in Estland riskieren wir nicht den Dritten Weltkrieg.
Im Nachwort formuliert Masala seine drei Lehren: Erstens, die nuklearen Drohgebärden Russlands hätten leider gewirkt und eine schnellere Intensivierung der Front gegen Russland blockiert, weil »Angstunternehmer« (sic!), wie z. B. Friedensbewegung und Linke, in den westlichen Ländern agiert hätten. Zweitens, die westlichen Regierungen hätten keine Strategie in Bezug auf den Ukraine-Krieg besessen, das Ziel ihrer Politik war unklar. Drittens spielte die gesellschaftliche und politische »Ermattung“ eine zentrale Rolle für die Durchsetzung Russlands aggressiver Absichten. Masala behauptet: »Obwohl fast alle Verteidigungsminister, alle Generalstabschefs und auch vereinzelt Staats- und Regierungschefs darauf hinweisen, dass der russische Imperialismus in der Ukraine nicht haltmachen wird; dass Russland sich militärisch bereits auf den Tag danach vorbereitet; dass ein militärischer Konflikt zwischen der Nato und Russland künftig nicht auszuschließen ist, bleiben große Teile der Bevölkerungen skeptisch, was diese Prognosen angeht.« Solche Meinungen als Prognose zu bezeichnen, ist recht überheblich, und insgesamt ist dieses dünne Buch vor allem ein Ausmalen eines derzeit vorherrschenden Feindbildes und ein Kampfmittel in der ideologischen Auseinandersetzung gegen Argumentationen für Frieden.
Etwas Realität scheint aber auch auf: »Russland abzuschrecken und einzudämmen, kann nur gelingen, wenn die europäischen Gesellschaften bereit sind, den dafür angefallenen Preis zu zahlen. Und dieser Preis bemisst sich zwar im Extremfall der Bündnisverteidigung in Menschenleben, er fällt aber bereits jetzt an als ökonomische und politische Kosten. Wer eine Steigerung von Verteidigungsausgaben durchsetzen will, der wird in anderen Bereichen kürzen müssen oder kann dort zumindest weniger investieren. Es wird also auch um eine Priorisierung von Staatsaufgaben gehen.«
Nun, vom Standpunkt eines Zukunftsforschers ist der Text von Masala kein »Szenario«, sondern ein militärisches Erwachsenenmärchen, mit dem klaren Ziel, Angst zu erzeugen, Abschreckung zu erhöhen und Aufrüstung zu erzwingen. Dazu wird wieder das simple Feindbild reproduziert, die latente Russophobie inkl. Antikommunismus mobilisiert. Masala artikuliert ausschließlich die Sichtweise der USA, Nato, der StratCom, CIA/DIA/NSA & Co. und konservativ-reaktionärer westlicher Eliten in Politik, Industrie und Medien. Damit ist das Buch ist eine raffinierte Ablenkung von den Triebkräften und Ursachen des Konflikts, ein raffiniertes Framing.
Dass Sicherheit nicht durch Entspannung und Frieden, sondern durch Angstverbreitung und Kriegstüchtigkeit hergestellt werden soll, ist ein geradezu pathologisches Paradox. Angesichts solcher in den Medien auftretender Experten ist es nicht verwunderlich, dass sich naiver Bellizismus und entmenschte Gewaltfantasien ausbreiten. Zugleich werden aber die Stimmen für Entspannung, vertrauensbildende Maßnahmen und Frieden immer stärker.
Carlo Masala: Wenn Russland gewinnt. Ein Szenario, C.H. Beck Verlag, München 2025, 116 S., 15 €.