Ein Blick auf unsere Gesellschaft offenbart Verhältnisse, die zunehmend aus den Fugen geraten. Wenn die Äußerung von Kritik, anderer Einstellungen, Sichtweisen und Grundhaltungen von nicht wenigen als nicht hinnehmbar bewertet und mit persönlichen Angriffen unter die Gürtellinie beantwortet werden, wenn das Eintauchen in ein größeres soziales Geschehen, wie es sich in einer belebten Fußgängerzone einer Großstadt ereignen kann, mit Erfahrungen verbunden ist, die eine enorme Aggressivität offenlegen, so stellt sich die Frage, wie dünn der Firnis geworden ist, der uns von der offenen Barbarei trennt. Die Sorge ist groß, dass die Idee der Demokratie immer mehr unter die Räder gerät.
Wenn diejenigen, die sich in ihren Äußerungen als besorgte Demokraten darstellen, in ihrem konkreten Handeln jedoch jede kontroverse Diskussion hemmen, unterbinden und kriminalisieren wollen, so lässt dies die Schlussfolgerung zu, dass in unserer Gesellschaft die Erkenntnis über das Wesen von Demokratie immer mehr verdunstet. Hinzukommt, dass der lange währende Grundkonsens des »Nie wieder« als Konsequenz der faschistischen Barbarei am Bröckeln ist. Wir sehen, dass das rechtsextreme Gerede von der ethnischen Homogenität wieder viele Menschen als Störenfriede stigmatisiert, die eigentlich entfernt werden müssten. Nichts anderes meint der Begriff »Remigration«. Jedoch hindert dies über 20 Prozent der Wahlberechtigten nicht, eine Partei wie die AfD, die solchen Sprengstoff in ihrer Programmatik beherbergt, ihre Stimme zu geben.
Wie konnte es so weit kommen? Der Ausgangspunkt: Unsere Gesellschaft versteht sich als eine bürgerliche Demokratie. Deren geistiger Hintergrund ist der Liberalismus. Dieser entstand im Kampf des wirtschaftlich aufstrebenden Bürgertums gegen die Privilegien des Adels und des Klerus, wie sie sich in der mittelalterlichen Ständegesellschaft herausgebildet hatten. Das Selbstverständnis des Bürgertums ist eng verwoben mit dem Privateigentum. So war immer das oberste Bestreben, die »Sicherheit im privaten Genuss« durch Rechtsgarantien zu gewährleisten (Rainer Mausfeld). Es ist also ein Irrtum, zu meinen, dass der Liberalismus und die Idee der Demokratie wesenhaft zueinander gehören. Zugespitzt formuliert, ist die Herrschaft des Demos, also der Mehrheit, eigentlich der bürgerlichen Gesellschaftsvorstellung entgegengesetzt, denn der organisierte Kapitalismus ist »von seinem Wesen her autoritär« (R.M.). Es ist also nicht so einfach, der Mehrheit einer Gesellschaft eine Struktur aufzuzwingen, die nicht in deren Interesse ist. Dafür war der Begriff der Demokratie unerlässlich, jedoch musste er entschärft werden, so dass das kapitalistische System darin integriert werden konnte. »Bürgerliche Freiheit« verwirklicht sich seitdem in der besitzindividualistischen Lebensform. Solange Wohlstandszuwächse möglich sind, ist alles gut. So wird es nachvollziehbarer, dass ein recht großer Teil des Bürgertums sich auch in staatsterroristischen Verhältnissen (etwa Hitlerdeutschland) komfortabel einrichten konnte.
Wenn wir nun den Zustand unserer Gesellschaft als eine nicht zur Ruhe kommende Krise begreifen, so drängt sich der Verdacht auf, dass deren Ursache im bürgerlichen Verständnis des Menschseins liegt. Marx beschreibt dieses Menschsein als egoistisch: Jeder sucht, gnaden- und empathielos, seinen Vorteil zu maximieren. Es ist ein Menschsein, abgesondert vom Mitmenschen und vom Gemeinwesen, also eine Lebensform der Vereinzelung. Marx nennt das bürgerliche Lebensmodell einen Rückfall in die Fetischisierung, wie wir es von den animistischen Gesellschaften kennen, also ein Rückfall in die Vor-Aufklärungsphase.
In diesem Zusammenhang sei kurz das marxistische Menschenbild beschrieben: Das Menschsein verwirklicht sich darin wesenhaft in seiner Bezogenheit auf den Mitmenschen sowie in der Erkenntnis der Existenz eines Gesamtzusammenhangs der einzelnen Teile, die integrierend und interagierend wirken. Dies bedeutet, dass die Lebensform der Vereinzelung überwunden wird durch das lebendig gewordene Leben, das Menschen empathiefähig macht. Die Empathie schafft das Fundament für eine menschliche Gesellschaft, in der die egoistische Fixierung auf den eigenen Vorteil als das eigentliche Kernproblem erkannt wird.
Die Krise unserer Gesellschaft zeigt sich unter anderem auch als Krise der Demokratie. Autoritäre Bewusstseinsformen sind auf dem Vormarsch, sie äußern sich u.a. darin, dass auch das Stigma der »Verfassungsfeindlichkeit«, das sich die AfD erworben hat, keinerlei abschreckende Wirkung mehr entfaltet. Es gibt den schon alt gewordenen, linken Verdacht, dass unsere Form der Demokratie mehr inszeniert ist, also ohne tiefere reale Substanz. Die alltägliche Ohnmacht der Besitzlosen, der Arbeitnehmer/innen, im Wirtschaftsleben ohne wirkliche Mitbestimmungsrechte, ausgeliefert der recht schmalen Schicht der Kontrolleure der Produktionsmittel mit ihrer weitgehenden Entscheidungsmacht, liefert dafür tagtäglich den Beweis. Man muss nicht Psychologe sein, um zu erkennen, dass Abhängigkeits- und Ohnmachtsverhältnisse den Menschen von innen her vergiften können, so dass daraus als Kompensation Herrschaftsfantasien entstehen. Dies ist das Eingangstor für autoritäre und demokratiefeindliche Bewusstseinsformen.
Unzweifelhaft ist unsere Gesellschaft von einer nervösen Unruhe ergriffen. Diese zeigt sich u. a. in der erregten Skandalisierung des erkennbar holprigen Starts der neuen Bundesregierung, den manche schon zum Anlass nehmen, das vorzeitige Ende herbeizuschreiben. Doch diese Unruhe ist systemisch begründet. Sie liegt, so der Autor Tariq Ali, »im Widerspruch zwischen der hohen Konzentration des Kapitals und den Bedürfnissen der Mehrheit der Bevölkerung« begründet, und »dieser Widerspruch wird immer brisanter«.
Diese unheilvolle Entwicklung begann in den 1980er Jahren, als die Kapitalisten erkannten, dass der reale Staatssozialismus nicht mehr in der Lage war, Revolutionssehnsüchte zu wecken. So war es nun an der Zeit, den Kapitalismus zu entfesseln von den sozialen Zugeständnissen, um die Profitraten der Systemprofiteure auf Kosten der Mehrheit zu steigern. Es war, so Tariq Ali, die Geburt einer neuen Wirtschaftsordnung – mit den uns bekannten Folgen: staatliche Ausgabenkürzungen, Steuersenkungen für die Reichen auf Kosten der Mittelschicht, Verlagerung der Steuerlast hin zu Verbrauchsteuern, die überproportional die Armen belasten, Zerschlagung des öffentlichen Eigentums und Deregulierung.
Jedoch war die Neoliberalisierung der kapitalistischen Staaten weit mehr als das Bündel jener Maßnahmen. Es war eine Konterrevolution. »Jeder für sich«, so das neue Motto, war der Beginn einer tiefgehenden Bewusstseinsumwälzung, womit zugleich die Realität von »Gesellschaft« infrage gestellt wurde. Es stellte den Versuch dar, einen »neuen Menschen« zu schaffen, der immunisiert ist gegen sozialistische Ideen. Dieser neue Mensch ist selbstbezogen, seine Energien sind darauf gerichtet, sich zu optimieren im ständigen Wettbewerb gegen die Konkurrenten. Das Ziel ist Marktkonformität. Der Lebensinhalt ist besitzorientiert.
Es ist offensichtlich, dass es darum ging, die Prägungen, welche die Arbeiterbewegung in der bürgerlichen Gesellschaft hinterlassen hatte, aus dem Weg zu räumen. Denn Werte wie Solidarität, Sinn für Gerechtigkeit, Betroffenheit über alle Formen menschlicher Not in der Welt stören die Profitmaximierung. Schließlich gelang auch noch die innere Entkernung sozialdemokratischer Parteien, in denen in einem gewissen Maße noch Widerstandsnester gegen die kapitalistische Entfesselung existierten. Fortan betrieben derer Anführer schamlos und skrupellos eine Politik, die gegen die Interessen der eigenen Wähler/innen gerichtet war und das eigentliche Ziel der Neoliberalisierung – die maximale Bereicherung einer schmalen Schicht auf Kosten der Mehrheit – weiter vorantrieb.
Das Menetekel – also die Möglichkeit einer unheilvollen, zukünftigen Entwicklung – als Schatten an der Wand? Diese Sorge ist berechtigt, weil wir sehen, dass die Unzufriedenheit so vieler in eine Richtung zu kippen droht, welche die Möglichkeit humaner Lösungsansätze für die gegenwärtigen Probleme immer mehr erschwert. Das Umsteuern verlangte eigentlich eine Wende um 180 Grad.
Was ist der Mensch? Was verschafft ihm tiefe Befriedigung? Sind das ständige Fixiertsein auf den eigenen Vorteil, die Entstehung einer Kultur der Gleichgültigkeit und Verantwortungslosigkeit der Welt gegenüber, die Erziehung zur Vereinzelung als Lebensform nicht alles Faktoren, die den Menschen in eine tiefe Unglücklichkeit stürzen und ihn von seinem eigentlichen Wesen entfremden?
Karl Marx formulierte die wesensmäßige Bestimmung des Menschen wie folgt: Das eigentlich Kerninteresse des Menschen ist das Wohl der Menschheit, in der Arbeit an diesem Ziel erreicht der Mensch seine Vollendung. So sind bei Marx das individuelle Interesse und das Gesamtinteresse der Menschheit miteinander versöhnt. Angesichts so vieler drückender Probleme in der Welt braucht es mehr denn je eine geistige Kehrtwende, die den Einsatz für andere, die Verantwortung für das große Ganze, das Eintreten für das Wohlergehen aller als Auswege aus der Krise erkennt.