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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Menetekel

Ein Blick auf unse­re Gesell­schaft offen­bart Ver­hält­nis­se, die zuneh­mend aus den Fugen gera­ten. Wenn die Äuße­rung von Kri­tik, ande­rer Ein­stel­lun­gen, Sicht­wei­sen und Grund­hal­tun­gen von nicht weni­gen als nicht hin­nehm­bar bewer­tet und mit per­sön­li­chen Angrif­fen unter die Gür­tel­li­nie beant­wor­tet wer­den, wenn das Ein­tau­chen in ein grö­ße­res sozia­les Gesche­hen, wie es sich in einer beleb­ten Fuß­gän­ger­zo­ne einer Groß­stadt ereig­nen kann, mit Erfah­run­gen ver­bun­den ist, die eine enor­me Aggres­si­vi­tät offen­le­gen, so stellt sich die Fra­ge, wie dünn der Fir­nis gewor­den ist, der uns von der offe­nen Bar­ba­rei trennt. Die Sor­ge ist groß, dass die Idee der Demo­kra­tie immer mehr unter die Räder gerät.

Wenn die­je­ni­gen, die sich in ihren Äuße­run­gen als besorg­te Demo­kra­ten dar­stel­len, in ihrem kon­kre­ten Han­deln jedoch jede kon­tro­ver­se Dis­kus­si­on hem­men, unter­bin­den und kri­mi­na­li­sie­ren wol­len, so lässt dies die Schluss­fol­ge­rung zu, dass in unse­rer Gesell­schaft die Erkennt­nis über das Wesen von Demo­kra­tie immer mehr ver­dun­stet. Hin­zu­kommt, dass der lan­ge wäh­ren­de Grund­kon­sens des »Nie wie­der« als Kon­se­quenz der faschi­sti­schen Bar­ba­rei am Bröckeln ist. Wir sehen, dass das rechts­extre­me Gere­de von der eth­ni­schen Homo­ge­ni­tät wie­der vie­le Men­schen als Stö­ren­frie­de stig­ma­ti­siert, die eigent­lich ent­fernt wer­den müss­ten. Nichts ande­res meint der Begriff »Remi­gra­ti­on«. Jedoch hin­dert dies über 20 Pro­zent der Wahl­be­rech­tig­ten nicht, eine Par­tei wie die AfD, die sol­chen Spreng­stoff in ihrer Pro­gram­ma­tik beher­bergt, ihre Stim­me zu geben.

Wie konn­te es so weit kom­men? Der Aus­gangs­punkt: Unse­re Gesell­schaft ver­steht sich als eine bür­ger­li­che Demo­kra­tie. Deren gei­sti­ger Hin­ter­grund ist der Libe­ra­lis­mus. Die­ser ent­stand im Kampf des wirt­schaft­lich auf­stre­ben­den Bür­ger­tums gegen die Pri­vi­le­gi­en des Adels und des Kle­rus, wie sie sich in der mit­tel­al­ter­li­chen Stän­de­ge­sell­schaft her­aus­ge­bil­det hat­ten. Das Selbst­ver­ständ­nis des Bür­ger­tums ist eng ver­wo­ben mit dem Pri­vat­ei­gen­tum. So war immer das ober­ste Bestre­ben, die »Sicher­heit im pri­va­ten Genuss« durch Rechts­ga­ran­tien zu gewähr­lei­sten (Rai­ner Maus­feld). Es ist also ein Irr­tum, zu mei­nen, dass der Libe­ra­lis­mus und die Idee der Demo­kra­tie wesen­haft zuein­an­der gehö­ren. Zuge­spitzt for­mu­liert, ist die Herr­schaft des Demos, also der Mehr­heit, eigent­lich der bür­ger­li­chen Gesell­schafts­vor­stel­lung ent­ge­gen­ge­setzt, denn der orga­ni­sier­te Kapi­ta­lis­mus ist »von sei­nem Wesen her auto­ri­tär« (R.M.). Es ist also nicht so ein­fach, der Mehr­heit einer Gesell­schaft eine Struk­tur auf­zu­zwin­gen, die nicht in deren Inter­es­se ist. Dafür war der Begriff der Demo­kra­tie uner­läss­lich, jedoch muss­te er ent­schärft wer­den, so dass das kapi­ta­li­sti­sche System dar­in inte­griert wer­den konn­te. »Bür­ger­li­che Frei­heit« ver­wirk­licht sich seit­dem in der besitz­in­di­vi­dua­li­sti­schen Lebens­form. Solan­ge Wohl­stands­zu­wäch­se mög­lich sind, ist alles gut. So wird es nach­voll­zieh­ba­rer, dass ein recht gro­ßer Teil des Bür­ger­tums sich auch in staats­ter­ro­ri­sti­schen Ver­hält­nis­sen (etwa Hit­ler­deutsch­land) kom­for­ta­bel ein­rich­ten konnte.

Wenn wir nun den Zustand unse­rer Gesell­schaft als eine nicht zur Ruhe kom­men­de Kri­se begrei­fen, so drängt sich der Ver­dacht auf, dass deren Ursa­che im bür­ger­li­chen Ver­ständ­nis des Mensch­seins liegt. Marx beschreibt die­ses Mensch­sein als ego­istisch: Jeder sucht, gna­den- und empa­thie­los, sei­nen Vor­teil zu maxi­mie­ren. Es ist ein Mensch­sein, abge­son­dert vom Mit­men­schen und vom Gemein­we­sen, also eine Lebens­form der Ver­ein­ze­lung. Marx nennt das bür­ger­li­che Lebens­mo­dell einen Rück­fall in die Feti­schi­sie­rung, wie wir es von den ani­mi­sti­schen Gesell­schaf­ten ken­nen, also ein Rück­fall in die Vor-Aufklärungsphase.

In die­sem Zusam­men­hang sei kurz das mar­xi­sti­sche Men­schen­bild beschrie­ben: Das Mensch­sein ver­wirk­licht sich dar­in wesen­haft in sei­ner Bezo­gen­heit auf den Mit­men­schen sowie in der Erkennt­nis der Exi­stenz eines Gesamt­zu­sam­men­hangs der ein­zel­nen Tei­le, die inte­grie­rend und inter­agie­rend wir­ken. Dies bedeu­tet, dass die Lebens­form der Ver­ein­ze­lung über­wun­den wird durch das leben­dig gewor­de­ne Leben, das Men­schen empa­thie­fä­hig macht. Die Empa­thie schafft das Fun­da­ment für eine mensch­li­che Gesell­schaft, in der die ego­isti­sche Fixie­rung auf den eige­nen Vor­teil als das eigent­li­che Kern­pro­blem erkannt wird.

Die Kri­se unse­rer Gesell­schaft zeigt sich unter ande­rem auch als Kri­se der Demo­kra­tie. Auto­ri­tä­re Bewusst­seins­for­men sind auf dem Vor­marsch, sie äußern sich u.a. dar­in, dass auch das Stig­ma der »Ver­fas­sungs­feind­lich­keit«, das sich die AfD erwor­ben hat, kei­ner­lei abschrecken­de Wir­kung mehr ent­fal­tet. Es gibt den schon alt gewor­de­nen, lin­ken Ver­dacht, dass unse­re Form der Demo­kra­tie mehr insze­niert ist, also ohne tie­fe­re rea­le Sub­stanz. Die all­täg­li­che Ohn­macht der Besitz­lo­sen, der Arbeitnehmer/​innen, im Wirt­schafts­le­ben ohne wirk­li­che Mit­be­stim­mungs­rech­te, aus­ge­lie­fert der recht schma­len Schicht der Kon­trol­leu­re der Pro­duk­ti­ons­mit­tel mit ihrer weit­ge­hen­den Ent­schei­dungs­macht, lie­fert dafür tag­täg­lich den Beweis. Man muss nicht Psy­cho­lo­ge sein, um zu erken­nen, dass Abhän­gig­keits- und Ohn­machts­ver­hält­nis­se den Men­schen von innen her ver­gif­ten kön­nen, so dass dar­aus als Kom­pen­sa­ti­on Herr­schafts­fan­ta­sien ent­ste­hen. Dies ist das Ein­gangs­tor für auto­ri­tä­re und demo­kra­tie­feind­li­che Bewusstseinsformen.

Unzwei­fel­haft ist unse­re Gesell­schaft von einer ner­vö­sen Unru­he ergrif­fen. Die­se zeigt sich u. a. in der erreg­ten Skan­da­li­sie­rung des erkenn­bar holp­ri­gen Starts der neu­en Bun­des­re­gie­rung, den man­che schon zum Anlass neh­men, das vor­zei­ti­ge Ende her­bei­zu­schrei­ben. Doch die­se Unru­he ist syste­misch begrün­det. Sie liegt, so der Autor Tariq Ali, »im Wider­spruch zwi­schen der hohen Kon­zen­tra­ti­on des Kapi­tals und den Bedürf­nis­sen der Mehr­heit der Bevöl­ke­rung« begrün­det, und »die­ser Wider­spruch wird immer brisanter«.

Die­se unheil­vol­le Ent­wick­lung begann in den 1980er Jah­ren, als die Kapi­ta­li­sten erkann­ten, dass der rea­le Staats­so­zia­lis­mus nicht mehr in der Lage war, Revo­lu­ti­ons­sehn­süch­te zu wecken. So war es nun an der Zeit, den Kapi­ta­lis­mus zu ent­fes­seln von den sozia­len Zuge­ständ­nis­sen, um die Pro­fi­tra­ten der System­pro­fi­teu­re auf Kosten der Mehr­heit zu stei­gern. Es war, so Tariq Ali, die Geburt einer neu­en Wirt­schafts­ord­nung – mit den uns bekann­ten Fol­gen: staat­li­che Aus­ga­ben­kür­zun­gen, Steu­er­sen­kun­gen für die Rei­chen auf Kosten der Mit­tel­schicht, Ver­la­ge­rung der Steu­er­last hin zu Ver­brauch­steu­ern, die über­pro­por­tio­nal die Armen bela­sten, Zer­schla­gung des öffent­li­chen Eigen­tums und Deregulierung.

Jedoch war die Neo­li­be­ra­li­sie­rung der kapi­ta­li­sti­schen Staa­ten weit mehr als das Bün­del jener Maß­nah­men. Es war eine Kon­ter­re­vo­lu­ti­on. »Jeder für sich«, so das neue Mot­to, war der Beginn einer tief­ge­hen­den Bewusst­seins­um­wäl­zung, womit zugleich die Rea­li­tät von »Gesell­schaft« infra­ge gestellt wur­de. Es stell­te den Ver­such dar, einen »neu­en Men­schen« zu schaf­fen, der immu­ni­siert ist gegen sozia­li­sti­sche Ideen. Die­ser neue Mensch ist selbst­be­zo­gen, sei­ne Ener­gien sind dar­auf gerich­tet, sich zu opti­mie­ren im stän­di­gen Wett­be­werb gegen die Kon­kur­ren­ten. Das Ziel ist Markt­kon­for­mi­tät. Der Lebens­in­halt ist besitzorientiert.

Es ist offen­sicht­lich, dass es dar­um ging, die Prä­gun­gen, wel­che die Arbei­ter­be­we­gung in der bür­ger­li­chen Gesell­schaft hin­ter­las­sen hat­te, aus dem Weg zu räu­men. Denn Wer­te wie Soli­da­ri­tät, Sinn für Gerech­tig­keit, Betrof­fen­heit über alle For­men mensch­li­cher Not in der Welt stö­ren die Pro­fit­ma­xi­mie­rung. Schließ­lich gelang auch noch die inne­re Ent­ker­nung sozi­al­de­mo­kra­ti­scher Par­tei­en, in denen in einem gewis­sen Maße noch Wider­stands­ne­ster gegen die kapi­ta­li­sti­sche Ent­fes­se­lung exi­stier­ten. Fort­an betrie­ben derer Anfüh­rer scham­los und skru­pel­los eine Poli­tik, die gegen die Inter­es­sen der eige­nen Wähler/​innen gerich­tet war und das eigent­li­che Ziel der Neo­li­be­ra­li­sie­rung – die maxi­ma­le Berei­che­rung einer schma­len Schicht auf Kosten der Mehr­heit – wei­ter vorantrieb.

Das Mene­te­kel – also die Mög­lich­keit einer unheil­vol­len, zukünf­ti­gen Ent­wick­lung – als Schat­ten an der Wand? Die­se Sor­ge ist berech­tigt, weil wir sehen, dass die Unzu­frie­den­heit so vie­ler in eine Rich­tung zu kip­pen droht, wel­che die Mög­lich­keit huma­ner Lösungs­an­sät­ze für die gegen­wär­ti­gen Pro­ble­me immer mehr erschwert. Das Umsteu­ern ver­lang­te eigent­lich eine Wen­de um 180 Grad.

Was ist der Mensch? Was ver­schafft ihm tie­fe Befrie­di­gung? Sind das stän­di­ge Fixiert­sein auf den eige­nen Vor­teil, die Ent­ste­hung einer Kul­tur der Gleich­gül­tig­keit und Ver­ant­wor­tungs­lo­sig­keit der Welt gegen­über, die Erzie­hung zur Ver­ein­ze­lung als Lebens­form nicht alles Fak­to­ren, die den Men­schen in eine tie­fe Unglück­lich­keit stür­zen und ihn von sei­nem eigent­li­chen Wesen entfremden?

Karl Marx for­mu­lier­te die wesens­mä­ßi­ge Bestim­mung des Men­schen wie folgt: Das eigent­lich Kern­in­ter­es­se des Men­schen ist das Wohl der Mensch­heit, in der Arbeit an die­sem Ziel erreicht der Mensch sei­ne Voll­endung. So sind bei Marx das indi­vi­du­el­le Inter­es­se und das Gesamt­in­ter­es­se der Mensch­heit mit­ein­an­der ver­söhnt. Ange­sichts so vie­ler drücken­der Pro­ble­me in der Welt braucht es mehr denn je eine gei­sti­ge Kehrt­wen­de, die den Ein­satz für ande­re, die Ver­ant­wor­tung für das gro­ße Gan­ze, das Ein­tre­ten für das Wohl­erge­hen aller als Aus­we­ge aus der Kri­se erkennt.