Friedrich Merz hat sich nicht nur, wie im vorausgegangenen Artikel beschrieben, mit Rücksicht auf populäre Strömungen bei den von ihm propagierten Zurückweisungen Asylsuchender an den deutschen Grenzen über EU-Recht hinweggesetzt. Er hat auch betont, es werde »Mittel und Wege« geben, den israelischen Premierminister Netanyahu trotz des gegen ihn bestehenden Haftbefehls des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) in Deutschland zu empfangen. »Ich halte es für eine ganz abwegige Vorstellung, dass ein israelischer Ministerpräsident Deutschland nicht besuchen kann.« Eine solche Ankündigung, die Merz in die Nähe des Ungarn Viktor Orbán rückt, ist aber noch evidenter rechtswidrig als die eingeleitete Zurückweisungspraxis an den deutschen Grenzen. Denn sie verstößt gegen internationale Verpflichtungen der Bundesrepublik und würde den IStGH diskreditieren.
Das von 125 Vertragsstaaten unterzeichnete Statut des IStGH (Römisches Statut) verpflichtet diese Staaten nach dessen Art. 86 mit dem Gericht zu kooperieren und ein von ihm ausgestelltes Festnahmeersuchen durchzuführen. Das gilt auch trotz Immunität von Staatsoberhäuptern, zu denen auch Ministerpräsidenten gehören. Diese Ausnahme von der Immunität gilt selbst für Nicht-Vertragsstaaten wie Israel aufgrund von Völkergewohnheitsrecht, wie der IStGH 2019 ausgeführt hat. Damals ging es um die nicht erfolgte Überstellung des ehemaligen sudanesischen Präsidenten Al-Bashir von Jordanien an den IStGH. Jordanien hatte sich ebenfalls auf die »Head of State immunity« berufen. Doch der IStGH ließ dieses Argument nicht gelten. Aus Art. 27 des Römischen Statuts folge, dass sich Staats- und Regierungschefs vor dem IStGH generell nicht auf ihre personelle Immunität berufen könnten. Dies gelte auch dann, wenn der Heimatstaat der gesuchten Person – wie Sudan und Israel – kein Vertragsstaat sei. Diese Regel ist nach Auffassung vieler Völkerrechtler nun zu Gewohnheitsrecht erstarkt, auch weil sie sich mit Entscheidungen einiger anderer völkerstrafrechtlicher Tribunale decke.
Das deutsche Recht bestätigt diese Auslegung mit dem 2002 zeitgleich mit dem IStGH-Statut in Kraft getretenen Gesetz über die Zusammenarbeit mit dem IStGH. Zuständig hierfür ist zunächst das Bundesministerium der Justiz (jetzt für Justiz und Verbraucherschutz), für Fahndungsmaßnahmen die Generalstaatsanwaltschaft Berlin und, wenn die Festnahme durchgeführt worden ist, die örtliche Generalstaatsanwaltschaft. Dann muss das zuständige Oberlandesgericht eine sog. vorläufige Überstellungshaft anordnen, wobei es – ganz wichtig – kein Ermessen hat, sondern dem Haftbefehl des IStGH folgen muss.
Darf die Bundesregierung in diese Abläufe eingreifen? Grundsätzlich (wie Juristen gern formulieren) hat die Bundesregierung zwei solche Möglichkeiten. Einmal kann das schon genannte Justizministerium tätig werden. Es soll nämlich hier im Einvernehmen mit dem Auswärtigen Amt (AA) und ggf. anderen betroffenen Ministerien handeln. Ein Recht zur Überprüfung, ob der Haftbefehl des IStGH völkerrechtlich korrekt ist, steht dem Ministerium aber nicht zu. Vielmehr muss es den Haftbefehl und das Festnahme- und Überstellungsersuchen an die zuständige Generalstaatsanwaltschaft zur Veranlassung der Festnahme weiterleiten.
Jetzt befinden wir uns also im Zuständigkeitsbereich der Länderjustiz. Hier steht den entsprechenden Justizministerinnen und -ministern normalerweise gegenüber der Staatsanwaltschaft immer noch ein Weisungsrecht nach § 147 Nr. 2 des Gerichtsverfassungsgesetzes zu. Eine solche Weisung darf aber nicht in Widerspruch zu zwingendem Recht stehen. Sie wäre also hier nur zulässig, wenn das IStGH-Gesetz der Generalstaatsanwaltschaft Ermessen einräumen würde. Das ist aber, wie schon dargelegt, nicht der Fall. Das sieht sogar die Generalstaatsanwaltschaft beim Kammergericht Berlin so, wie sie der Zeitschrift Legal Tribune Online (LTO) mitteilte.
Das könnte nur dann anders sein, wenn der IStGH bei Erlass seines Haftbefehls grob gegen seine Kompetenzen verstoßen hätte. Diese Ansicht wurde in der Tat in Beiträgen zweier Professoren für öffentliches und Völkerrecht vertreten, deren entsprechende Kommentare – wen wundert es – in Springers israeltreuer WELT und in der FAZ erschienen. Gerade der FAZ-Beitrag löste eine Gegenreaktion von neun deutschen Strafrechtlern und Strafrechtlerinnen aus, die hier keine Verstöße des IStGH in diesem Sinne zu sehen vermochten. LTO formulierte dazu: »Dass Merz› Bundesregierung meint, den Stand des Völkergewohnheitsrechts besser einschätzen zu können als internationale Gerichte und eine große Mehrheit renommierter Völkerrechtler, ist in diesen Zeiten nicht auszuschließen. Dann würde er Netanjahu freies Geleit mit der juristischen Brechstange garantieren.«
Solange Friedrich Merz keine Einladung an Netanyahu ausspricht, bleibt die Diskussion zugegebenermaßen theoretisch. Gleichwohl wirft sie ein Licht (oder sollte ich sagen: einen Schatten) auf das, was man als Rechtstreue des Bundeskanzlers bezeichnen kann. Dass er sich damit in gewissem Rahmen im Einklang mit anderen Regierungen befindet, die sich um die Errungenschaften des Völkerrechts und die Unabhängigkeit der Gerichte nur dann kümmern, wenn sie der eigenen politischen Meinung entsprechen und sie sonst gern ignorieren, tröstet da wenig.