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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Mikis Theodorakis und die DDR

Am 29. Juli 2025 wäre Mikis Theod­ora­kis 100 Jah­re alt gewor­den. Als er vor vier Jah­ren starb, trau­er­te die huma­ni­stisch gesinn­te Welt um einen der bedeu­tend­sten Kom­po­ni­sten der Gegen­wart. Vie­le nann­ten ihn den »grie­chi­schen Rie­sen«. Ein biss­chen wegen sei­ner Kör­per­grö­ße. Vor allem aber wegen sei­ner musi­ka­li­schen Genia­li­tät und sei­ner tie­fen Ver­bun­den­heit mit dem Volk, das sei­ne Lie­der aus­wen­dig kennt und das ihm sei­nen auf­op­fe­rungs­vol­len Kampf gegen die Mili­tär­dik­ta­tur, für Frei­heit und Gerech­tig­keit, für Frie­den und Völ­ker­ver­stän­di­gung nie ver­ges­sen wird. Mikis Theod­ora­kis wur­de in kre­ti­scher Erde auf dem Dorf­fried­hof von Gala­ta beerdigt.

Beet­ho­vens Neun­te soll den 17jährigen bewo­gen haben, Kom­po­nist zu wer­den. Zu jener Zeit kämpf­te er bereits gegen die deutsch-ita­lie­ni­sche Besat­zungs­macht, spä­ter gegen die Bri­ten und im Bür­ger­krieg auf Sei­ten der lin­ken Befrei­ungs­kräf­te. Ver­haf­tet, nach Ika­ria sowie auf die KZ-Insel Makro­ni­sos ver­bracht, auch unter Fol­ter nicht bereit, sei­nen kom­mu­ni­sti­schen Ideen abzu­schwö­ren, blieb die Musik sein Über-Lebens­eli­xier. Bit­te­re Erin­ne­run­gen an jene Zeit flos­sen in die Arbei­ten ein, die ab 1954 in Paris ent­stan­den. 1960 nach Grie­chen­land zurück­ge­kehrt, kom­po­nier­te er so bedeu­ten­de Wer­ke wie den Lie­der­zy­klus »Maut­hau­sen« oder das Ora­to­ri­um »Axi­on Esti«. Mit sei­nem Dich­ter­freund Jan­nis Rit­sos war er sich dar­in einig, Lite­ra­tur, einst eine Leib­spei­se der Rei­chen, durch Musik in den Volks­mund zu legen. Ich habe es ein­mal auf dem Pres­se­fest der kom­mu­ni­sti­schen Jugend­zei­tung Ode­gi­tis erlebt, wie Tau­sen­de Besu­cher, sobald Mikis eines sei­ner Lie­der anstimm­te, auf­spran­gen und vom ersten bis zum letz­ten Vers mit­san­gen. Spä­ter tanz­ten alle den Sir­ta­ki aus »Alexis Sorbas«.

Als 1967 das put­schen­de Mili­tär Grie­chen­land in eine blu­ti­ge Dik­ta­tur stürz­te, wur­de Theod­ora­kis‹ Musik mit dem Armee­er­lass Nr. 13 ver­bo­ten, Zuwi­der­hand­lun­gen wur­den durch Son­der­ge­rich­te abge­ur­teilt. Nach mona­te­lan­ger poli­ti­scher und künst­le­ri­scher Arbeit im Unter­grund ver­haf­tet, in das KZ Oro­pos ein­ge­lie­fert, erneut gefol­tert und an Tuber­ku­lo­se erkrankt, waren Lie­der ein­mal mehr sei­ne Lebens­zei­chen. Her­aus­ge­schmug­gelt lan­de­te zum Bei­spiel das Ori­gi­nal von »Die Front der Patrio­ten ruft« bei grie­chi­schen Genos­sen in der DDR. Die gaben mir mit­tags ein Ton­band mit Mikis’ Gesang, beglei­tet nur von ein­fa­chen Klang­höl­zern, und erba­ten eine Nach­dich­tung. Sie lief noch am Abend im DDR-Fern­se­hen und wur­de schnell von der Sin­ge­be­we­gung auf­ge­grif­fen. Zu jener Zeit for­der­ten welt­be­kann­te Künst­ler wie Har­ry Bela­fon­te, Leo­nard Bern­stein, Aram Chat­scha­tur­jan, Paul Des­sau, Arthur Mil­ler, Lau­rence Oli­vi­er und Dmit­ri Schost­a­ko­witsch die Frei­las­sung ihres vom Tod bedroh­ten Künst­ler­kol­le­gen. Im Mai 1970 schob die Mili­tär­jun­ta Mikis Theod­ora­kis ab. Und im Juli kam es in New York zu einer für mich unver­gess­li­chen und in gewis­ser Wei­se auch fol­gen­rei­chen Begeg­nung. Damals, zum 25. Jah­res­tag ihrer Grün­dung, war die UNO ein nie wie­der­hol­tes Wag­nis ein­ge­gan­gen. Sie hat­te ihren Sitz und Appa­rat für eine »Welt­ju­gend­kon­fe­renz« in ziem­lich anti­im­pe­ria­li­stisch auf­trump­fen­de Young­ster-Hän­de gege­ben. Dele­ga­tio­nen aus aller Welt – auch aus Nicht­mit­glieds­län­dern, und zu denen gehör­ten damals die bei­den deut­schen Staa­ten – sowie aus inter­na­tio­na­len Orga­ni­sa­tio­nen waren ein­ge­la­den. Der soeben befrei­te Mikis Theod­ora­kis wur­de in die Dele­ga­ti­on des Welt­bun­des der Demo­kra­ti­schen Jugend auf­ge­nom­men. Ich war Mit­glied der DDR-Dele­ga­ti­on. Am Ran­de der Kon­fe­renz fand im Man­hat­tan-Cen­ter eine Soli­da­ri­täts­ver­an­stal­tung für die noch immer gegen die Mili­tär­jun­ta kämp­fen­den grie­chi­schen Patrio­ten statt, an der auch Pete See­ger und Arthur Mil­ler teil­nah­men. Hier konn­te ich Mikis die deut­sche Fas­sung von »Die Front der Patrio­ten ruft« vor­stel­len, die er natür­lich noch nie gehört hat­te. Aber was war folgenreich?

Ein knap­pes Jahr­zehnt spä­ter traf ich Mikis Theod­ora­kis am Ber­li­ner Alex wie­der, und er erin­ner­te sich an den New Yor­ker Auf­tritt. Weil er kein Auto hat­te, brach­te ich ihn zu sei­nem Treff und lud ihn zum jähr­lich von der FDJ ver­an­stal­te­ten Festi­val des poli­ti­schen Lie­des ein. Ich glau­be, er hat­te die Absa­ge schon auf den Lip­pen, als er sich eines Bes­se­ren besann: »Ich wür­de kom­men, wenn ich den ›Can­to Gene­ral‹ diri­gie­ren darf.« Ich war ent­täuscht, denn weni­ger als 12 Mona­te schie­nen für die Vor­be­rei­tun­gen kaum aus­zu­rei­chen. Auch durch Vor­ar­bei­ten einer Dres­de­ner Grup­pe um Peter Zacher soll­te das Vor­ha­ben aber doch gelin­gen, und der »Can­to« lief im Febru­ar 1980, von einer gut aus­ge­stat­te­ten Dop­pel-LP doku­men­tiert, im Gro­ßen Saal des Pala­stes der Repu­blik. »Das Kon­zert war so ein Rie­sen­er­folg«, gab Mikis zu Pro­to­koll, »dass ich danach gleich einen Auf­trag für ein sin­fo­ni­sches Werk bekam.« Die Ber­li­ner »Canto«-Aufführung war tat­säch­lich die Initi­al­zün­dung für eine frucht­ba­re Zusam­men­ar­beit mit Musi­ker-Kol­le­gen und ein­fluss­rei­chen Auf­trag­ge­bern in der DDR. Eine Peri­ode in Theod­ora­kis’ Schaf­fen, die nur in der kennt­nis­rei­chen Ber­li­ner Zei­tung, anson­sten in den Nach­ru­fen deut­scher Medi­en, selbst in den lin­ken und links­li­be­ra­len Blät­tern, kaum Erwäh­nung fand.

Dabei ist »Theod­ora­kis und die DDR« ein erin­ne­rungs­wür­di­ges, gewiss nicht span­nungs­frei­es, für die Rezep­ti­on zeit­ge­nös­si­scher Musik in der DDR inter­es­san­tes The­ma. Man erin­nert sich: 1981 schließt Theod­ora­kis die Arbei­ten an sei­ner Zwei­ten und der Drit­ten Sin­fo­nie ab. Der Deut­sche Ver­lag für Musik in Leip­zig über­nimmt die Publi­ka­ti­on sei­nes sin­fo­ni­schen Schaf­fens. Im sel­ben Jahr wird in der DDR eine auf 13 Tei­le erwei­ter­te Fas­sung des »Can­to Gene­ral« urauf­ge­führt. Im Fol­ge­jahr bringt das Leip­zi­ger Gewand­haus das Ora­to­ri­um »Axi­on Esti« auf die Büh­ne, das Orche­ster der Komi­schen Oper Ber­lin über­nimmt die Urauf­füh­rung der Drit­ten Sin­fo­nie. 1983 singt der Dres­de­ner Kreuz­chor die »Lit­ur­gie No.2«, und die »Sad­du­zä­er-Pas­si­on« erlebt in der DDR-Haupt­stadt ihre Pre­mie­re. Zur 750-Jahr­fei­er Ber­lins ver­an­stal­tet die FDJ auf dem Rosa-Luxem­burg-Platz ein Open-Air-Kon­zert mit Wer­ken von Mikis Theod­ora­kis, gegen Mit­ter­nacht singt der Kom­po­nist sei­ne bekann­te­sten Songs selbst, und der Platz beginnt zu tan­zen. 1989 wird eine Bal­lett-Fas­sung des »Gro­ßen Gesan­ges« im Palast der Repu­blik uraufgeführt.

Aste­ris Kutu­las, Sohn grie­chi­scher poli­ti­scher Emi­gran­ten, ein Ver­trau­ter und Mit­ar­bei­ter des Kom­po­ni­sten, der sich als Pro­du­zent, Kon­zert­or­ga­ni­sa­tor, Publi­zist und Über­set­zer um die Ver­brei­tung von Theod­ora­kis‹ Werk sehr ver­dient gemacht hat, berich­te­te wie­der­holt von Zwei­feln sei­nes Mei­sters an der Demo­kra­tie­fä­hig­keit des rea­len Sozia­lis­mus. Ein­mal, als wir bei mir zuhau­se zum Gespräch über künf­ti­ge Pro­jek­te ver­ab­re­det waren und Mikis, aus West­ber­lin kom­mend und die Zustän­dig­keit der Grenz­über­gangs­punk­te nicht über­blickend, am Alli­ier­ten­kon­troll­punkt Fried­rich­stra­ße fest­ge­hal­ten wur­de, rekla­mier­te er spä­ter unan­ge­neh­me preu­ßi­sche Sit­ten. Man hat­te ihn zwar erkannt und bewir­tet. Aber als ich ihn abhol­te, schwieg er lan­ge und ver­bit­tert. Ein biss­chen lächel­te er aller­dings, als ich ihm die Ent­schul­di­gung des ver­ant­wort­li­chen Grenz­of­fi­ziers nach­er­zähl­te: »Es hat lei­der etwas gedau­ert. Ist ja der Über­gang für Alli­ier­te. Ande­rer­seits – ein Alli­ier­ter ist er ja auch.«

Wie also war Mikis Theod­ora­kis‹ Ver­hält­nis zur DDR? War er ein »Alli­ier­ter«, gab es ein ideel­les »Bünd­nis«? Oder griff er, zu den Defi­zi­ten des Real­so­zia­lis­mus offi­zi­ell schwei­gend, nur nach den sich gün­stig bie­ten­den Mög­lich­kei­ten? Die bis zum Ver­bot rei­chen­de Eng­stir­nig­keit, mit der die DDR-Kul­tur­po­li­tik einst Theod­ora­kis‹ poli­ti­sches Wir­ken und damit auch sein musi­ka­li­sches Oeu­vre beur­teilt hat­te, war glück­lich über­wun­den, aber von ihm wohl nie ganz ver­ges­sen wor­den. Der Welt­bür­ger Theod­ora­kis, der frü­he kom­mu­ni­sti­sche Hau­de­gen, der sich an Ver­kru­stun­gen der KP rieb, mit Ambi­tio­nen zur Demo­kra­ti­sie­rung 1963 Vor­sit­zen­der der Lam­bra­kis-Jugend­be­we­gung wur­de, zu Zei­ten der Obri­sten-Dik­ta­tur nach einer »Kara­man­lis-Lösung« rief, was – wie spä­ter sei­ne einst­wei­li­ge Zusam­men­ar­beit mit den Kon­ser­va­ti­ven – im lin­ken Lager Bestür­zung her­vor­rief, der den mili­tä­ri­schen Aktio­nen von War­schau­er Ver­trags­staa­ten in der CSSR wie­der­sprach und euro­kom­mu­ni­sti­sche Ideen heg­te – die­ser auf die Wirk­kraft sei­ner Musik bei der demo­kra­ti­schen Eini­gung des Vol­kes bau­en­de Huma­nist hat allen Mun­kelei­en zum Trotz sei­ne frü­hen Prä­gun­gen nie abge­legt. Als er den »Can­to« in Ber­lin diri­gier­te, hat­te er den KP-Gene­ral­se­kre­tär Hari­la­os Flo­ra­kis vor­zei­tig vom PVAP-Par­tei­tag in War­schau in den Palast der Repu­blik beor­dert, und der erschien prompt. Her­mann Axen frag­te den KP-Chef in inter­ner Run­de nach den Theod­ora­ki­schen Ampli­tu­den um den Kon­sens der Par­tei. Und Flo­ra­kis fand die beste Ant­wort: »Er ist ein Künst­ler auf der Suche im Wei­ten. Im tief­sten Inne­ren ist er bei uns.« Wäh­rend eines Tref­fens mit Her­mann Axen sah Mikis auf dem Arm sei­nes Gegen­übers die täto­wier­te Häft­lings­num­mer aus dem faschi­sti­schen Todes­la­ger und hielt Axens Hand lan­ge in sei­ner. Vom Festi­val des poli­ti­schen Lie­des nach Athen zurück­ge­kehrt, schrieb er, die Teil­nah­me war »eine der bewe­gend­sten und wun­der­bar­sten Erfah­run­gen mei­nes Lebens. Im Saal fan­den sich die Kin­der, die uns Tau­sen­de von gemal­ten Blu­men in die Gefäng­nis­se der Jun­ta geschickt hat­ten. (…) Ich hör­te und sah, wie die Jugend der gan­zen Welt die Frei­heit besang und sag­te mir: Unser Rin­gen und unse­re Opfer sind nicht ver­ge­bens gewesen.«

Die­ses Urteil gehör­te eben auch zu sei­nem DDR-Bild, und wie soll­te man dar­in nicht ein Gut­teil ideel­ler Bin­dung erken­nen? Ange­sichts der Nie­der­la­ge der sozia­li­sti­schen Staa­ten­ge­mein­schaft in Euro­pa nach sei­nen gesell­schaft­li­chen Uto­pien gefragt, sag­te er, er habe sich genü­gend in der Poli­tik ver­schlis­sen, sein Bei­trag kön­ne nur noch in einer ihn erfül­len­den Musik lie­gen. Von wegen! Als die EU den Grie­chen eine Ver­elen­dungs­po­li­tik ver­ord­ne­te, sah man ihn an der Spit­ze des Demon­stra­ti­ons­zu­ges sei­ner kämp­fen­den Lands­leu­te auf der Stra­ße. Eine Ladung Trä­nen­gas im Gesicht, wuss­te er, dass er auf der rich­ti­gen Sei­te stand. Er pro­te­stier­te gegen die Nato-Bom­bar­die­rung jugo­sla­wi­scher Städ­te, ver­ur­teil­te den Irak-Krieg, klag­te die anti­pa­lä­sti­nen­si­sche Poli­tik Isra­els an …

Am Ende sei­nes Lebens schrieb Mikis Theod­ora­kis dem Gene­ral­se­kre­tär der Kom­mu­ni­sti­schen Par­tei Grie­chen­lands, Dimit­ris Kout­so­um­bas, einen Brief, den man als Ver­mächt­nis lesen muss. Er wol­le »als Kom­mu­nist aus dem Leben gehen«. Sei­ne »ent­schei­den­den, stärk­sten und reif­sten Jah­re« habe er »unter dem Ban­ner der KKE« gestan­den. Flo­ra­kis hat­te Recht behal­ten: Der Künst­ler auf der Suche im Wei­ten war im Inner­sten bei den Kom­mu­ni­sten geblie­ben. Die bür­ger­li­chen Nach­ru­fe ver­schwie­gen Theod­ora­kis‹ fina­les Cre­do. Wir wis­sen warum.