Am 29. Juli 2025 wäre Mikis Theodorakis 100 Jahre alt geworden. Als er vor vier Jahren starb, trauerte die humanistisch gesinnte Welt um einen der bedeutendsten Komponisten der Gegenwart. Viele nannten ihn den »griechischen Riesen«. Ein bisschen wegen seiner Körpergröße. Vor allem aber wegen seiner musikalischen Genialität und seiner tiefen Verbundenheit mit dem Volk, das seine Lieder auswendig kennt und das ihm seinen aufopferungsvollen Kampf gegen die Militärdiktatur, für Freiheit und Gerechtigkeit, für Frieden und Völkerverständigung nie vergessen wird. Mikis Theodorakis wurde in kretischer Erde auf dem Dorffriedhof von Galata beerdigt.
Beethovens Neunte soll den 17jährigen bewogen haben, Komponist zu werden. Zu jener Zeit kämpfte er bereits gegen die deutsch-italienische Besatzungsmacht, später gegen die Briten und im Bürgerkrieg auf Seiten der linken Befreiungskräfte. Verhaftet, nach Ikaria sowie auf die KZ-Insel Makronisos verbracht, auch unter Folter nicht bereit, seinen kommunistischen Ideen abzuschwören, blieb die Musik sein Über-Lebenselixier. Bittere Erinnerungen an jene Zeit flossen in die Arbeiten ein, die ab 1954 in Paris entstanden. 1960 nach Griechenland zurückgekehrt, komponierte er so bedeutende Werke wie den Liederzyklus »Mauthausen« oder das Oratorium »Axion Esti«. Mit seinem Dichterfreund Jannis Ritsos war er sich darin einig, Literatur, einst eine Leibspeise der Reichen, durch Musik in den Volksmund zu legen. Ich habe es einmal auf dem Pressefest der kommunistischen Jugendzeitung Odegitis erlebt, wie Tausende Besucher, sobald Mikis eines seiner Lieder anstimmte, aufsprangen und vom ersten bis zum letzten Vers mitsangen. Später tanzten alle den Sirtaki aus »Alexis Sorbas«.
Als 1967 das putschende Militär Griechenland in eine blutige Diktatur stürzte, wurde Theodorakis‹ Musik mit dem Armeeerlass Nr. 13 verboten, Zuwiderhandlungen wurden durch Sondergerichte abgeurteilt. Nach monatelanger politischer und künstlerischer Arbeit im Untergrund verhaftet, in das KZ Oropos eingeliefert, erneut gefoltert und an Tuberkulose erkrankt, waren Lieder einmal mehr seine Lebenszeichen. Herausgeschmuggelt landete zum Beispiel das Original von »Die Front der Patrioten ruft« bei griechischen Genossen in der DDR. Die gaben mir mittags ein Tonband mit Mikis’ Gesang, begleitet nur von einfachen Klanghölzern, und erbaten eine Nachdichtung. Sie lief noch am Abend im DDR-Fernsehen und wurde schnell von der Singebewegung aufgegriffen. Zu jener Zeit forderten weltbekannte Künstler wie Harry Belafonte, Leonard Bernstein, Aram Chatschaturjan, Paul Dessau, Arthur Miller, Laurence Olivier und Dmitri Schostakowitsch die Freilassung ihres vom Tod bedrohten Künstlerkollegen. Im Mai 1970 schob die Militärjunta Mikis Theodorakis ab. Und im Juli kam es in New York zu einer für mich unvergesslichen und in gewisser Weise auch folgenreichen Begegnung. Damals, zum 25. Jahrestag ihrer Gründung, war die UNO ein nie wiederholtes Wagnis eingegangen. Sie hatte ihren Sitz und Apparat für eine »Weltjugendkonferenz« in ziemlich antiimperialistisch auftrumpfende Youngster-Hände gegeben. Delegationen aus aller Welt – auch aus Nichtmitgliedsländern, und zu denen gehörten damals die beiden deutschen Staaten – sowie aus internationalen Organisationen waren eingeladen. Der soeben befreite Mikis Theodorakis wurde in die Delegation des Weltbundes der Demokratischen Jugend aufgenommen. Ich war Mitglied der DDR-Delegation. Am Rande der Konferenz fand im Manhattan-Center eine Solidaritätsveranstaltung für die noch immer gegen die Militärjunta kämpfenden griechischen Patrioten statt, an der auch Pete Seeger und Arthur Miller teilnahmen. Hier konnte ich Mikis die deutsche Fassung von »Die Front der Patrioten ruft« vorstellen, die er natürlich noch nie gehört hatte. Aber was war folgenreich?
Ein knappes Jahrzehnt später traf ich Mikis Theodorakis am Berliner Alex wieder, und er erinnerte sich an den New Yorker Auftritt. Weil er kein Auto hatte, brachte ich ihn zu seinem Treff und lud ihn zum jährlich von der FDJ veranstalteten Festival des politischen Liedes ein. Ich glaube, er hatte die Absage schon auf den Lippen, als er sich eines Besseren besann: »Ich würde kommen, wenn ich den ›Canto General‹ dirigieren darf.« Ich war enttäuscht, denn weniger als 12 Monate schienen für die Vorbereitungen kaum auszureichen. Auch durch Vorarbeiten einer Dresdener Gruppe um Peter Zacher sollte das Vorhaben aber doch gelingen, und der »Canto« lief im Februar 1980, von einer gut ausgestatteten Doppel-LP dokumentiert, im Großen Saal des Palastes der Republik. »Das Konzert war so ein Riesenerfolg«, gab Mikis zu Protokoll, »dass ich danach gleich einen Auftrag für ein sinfonisches Werk bekam.« Die Berliner »Canto«-Aufführung war tatsächlich die Initialzündung für eine fruchtbare Zusammenarbeit mit Musiker-Kollegen und einflussreichen Auftraggebern in der DDR. Eine Periode in Theodorakis’ Schaffen, die nur in der kenntnisreichen Berliner Zeitung, ansonsten in den Nachrufen deutscher Medien, selbst in den linken und linksliberalen Blättern, kaum Erwähnung fand.
Dabei ist »Theodorakis und die DDR« ein erinnerungswürdiges, gewiss nicht spannungsfreies, für die Rezeption zeitgenössischer Musik in der DDR interessantes Thema. Man erinnert sich: 1981 schließt Theodorakis die Arbeiten an seiner Zweiten und der Dritten Sinfonie ab. Der Deutsche Verlag für Musik in Leipzig übernimmt die Publikation seines sinfonischen Schaffens. Im selben Jahr wird in der DDR eine auf 13 Teile erweiterte Fassung des »Canto General« uraufgeführt. Im Folgejahr bringt das Leipziger Gewandhaus das Oratorium »Axion Esti« auf die Bühne, das Orchester der Komischen Oper Berlin übernimmt die Uraufführung der Dritten Sinfonie. 1983 singt der Dresdener Kreuzchor die »Liturgie No.2«, und die »Sadduzäer-Passion« erlebt in der DDR-Hauptstadt ihre Premiere. Zur 750-Jahrfeier Berlins veranstaltet die FDJ auf dem Rosa-Luxemburg-Platz ein Open-Air-Konzert mit Werken von Mikis Theodorakis, gegen Mitternacht singt der Komponist seine bekanntesten Songs selbst, und der Platz beginnt zu tanzen. 1989 wird eine Ballett-Fassung des »Großen Gesanges« im Palast der Republik uraufgeführt.
Asteris Kutulas, Sohn griechischer politischer Emigranten, ein Vertrauter und Mitarbeiter des Komponisten, der sich als Produzent, Konzertorganisator, Publizist und Übersetzer um die Verbreitung von Theodorakis‹ Werk sehr verdient gemacht hat, berichtete wiederholt von Zweifeln seines Meisters an der Demokratiefähigkeit des realen Sozialismus. Einmal, als wir bei mir zuhause zum Gespräch über künftige Projekte verabredet waren und Mikis, aus Westberlin kommend und die Zuständigkeit der Grenzübergangspunkte nicht überblickend, am Alliiertenkontrollpunkt Friedrichstraße festgehalten wurde, reklamierte er später unangenehme preußische Sitten. Man hatte ihn zwar erkannt und bewirtet. Aber als ich ihn abholte, schwieg er lange und verbittert. Ein bisschen lächelte er allerdings, als ich ihm die Entschuldigung des verantwortlichen Grenzoffiziers nacherzählte: »Es hat leider etwas gedauert. Ist ja der Übergang für Alliierte. Andererseits – ein Alliierter ist er ja auch.«
Wie also war Mikis Theodorakis‹ Verhältnis zur DDR? War er ein »Alliierter«, gab es ein ideelles »Bündnis«? Oder griff er, zu den Defiziten des Realsozialismus offiziell schweigend, nur nach den sich günstig bietenden Möglichkeiten? Die bis zum Verbot reichende Engstirnigkeit, mit der die DDR-Kulturpolitik einst Theodorakis‹ politisches Wirken und damit auch sein musikalisches Oeuvre beurteilt hatte, war glücklich überwunden, aber von ihm wohl nie ganz vergessen worden. Der Weltbürger Theodorakis, der frühe kommunistische Haudegen, der sich an Verkrustungen der KP rieb, mit Ambitionen zur Demokratisierung 1963 Vorsitzender der Lambrakis-Jugendbewegung wurde, zu Zeiten der Obristen-Diktatur nach einer »Karamanlis-Lösung« rief, was – wie später seine einstweilige Zusammenarbeit mit den Konservativen – im linken Lager Bestürzung hervorrief, der den militärischen Aktionen von Warschauer Vertragsstaaten in der CSSR wiedersprach und eurokommunistische Ideen hegte – dieser auf die Wirkkraft seiner Musik bei der demokratischen Einigung des Volkes bauende Humanist hat allen Munkeleien zum Trotz seine frühen Prägungen nie abgelegt. Als er den »Canto« in Berlin dirigierte, hatte er den KP-Generalsekretär Harilaos Florakis vorzeitig vom PVAP-Parteitag in Warschau in den Palast der Republik beordert, und der erschien prompt. Hermann Axen fragte den KP-Chef in interner Runde nach den Theodorakischen Amplituden um den Konsens der Partei. Und Florakis fand die beste Antwort: »Er ist ein Künstler auf der Suche im Weiten. Im tiefsten Inneren ist er bei uns.« Während eines Treffens mit Hermann Axen sah Mikis auf dem Arm seines Gegenübers die tätowierte Häftlingsnummer aus dem faschistischen Todeslager und hielt Axens Hand lange in seiner. Vom Festival des politischen Liedes nach Athen zurückgekehrt, schrieb er, die Teilnahme war »eine der bewegendsten und wunderbarsten Erfahrungen meines Lebens. Im Saal fanden sich die Kinder, die uns Tausende von gemalten Blumen in die Gefängnisse der Junta geschickt hatten. (…) Ich hörte und sah, wie die Jugend der ganzen Welt die Freiheit besang und sagte mir: Unser Ringen und unsere Opfer sind nicht vergebens gewesen.«
Dieses Urteil gehörte eben auch zu seinem DDR-Bild, und wie sollte man darin nicht ein Gutteil ideeller Bindung erkennen? Angesichts der Niederlage der sozialistischen Staatengemeinschaft in Europa nach seinen gesellschaftlichen Utopien gefragt, sagte er, er habe sich genügend in der Politik verschlissen, sein Beitrag könne nur noch in einer ihn erfüllenden Musik liegen. Von wegen! Als die EU den Griechen eine Verelendungspolitik verordnete, sah man ihn an der Spitze des Demonstrationszuges seiner kämpfenden Landsleute auf der Straße. Eine Ladung Tränengas im Gesicht, wusste er, dass er auf der richtigen Seite stand. Er protestierte gegen die Nato-Bombardierung jugoslawischer Städte, verurteilte den Irak-Krieg, klagte die antipalästinensische Politik Israels an …
Am Ende seines Lebens schrieb Mikis Theodorakis dem Generalsekretär der Kommunistischen Partei Griechenlands, Dimitris Koutsoumbas, einen Brief, den man als Vermächtnis lesen muss. Er wolle »als Kommunist aus dem Leben gehen«. Seine »entscheidenden, stärksten und reifsten Jahre« habe er »unter dem Banner der KKE« gestanden. Florakis hatte Recht behalten: Der Künstler auf der Suche im Weiten war im Innersten bei den Kommunisten geblieben. Die bürgerlichen Nachrufe verschwiegen Theodorakis‹ finales Credo. Wir wissen warum.