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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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»Mörderbande«

Vor 80 Jah­ren befrei­ten die Ame­ri­ka­ner das KZ Maut­hau­sen. Auch der »Gewohn­heits­ver­bre­cher« Anton Lud­wig wur­de dar­auf­hin ent­las­sen. Dies ist sei­ne Geschichte.

Char­lot­ten­burg, den 11. Sep­tem­ber 1920. Es wird lang­sam Abend, als in der Rön­ne­stra­ße ein Tumult aus­bricht. Ahnungs­lo­se Pas­san­ten stie­ben davon, als sich meh­re­re Kri­mi­nal­be­am­te in Zivil unver­mit­telt auf einen Mann stür­zen, der sich hef­tig zur Wehr setzt, wäh­rend eine ver­meint­li­che Pro­sti­tu­ier­te das Gesche­hen auf­merk­sam beob­ach­tet. Das Hand­ge­men­ge dau­ert eine Wei­le an, dann kön­nen die Poli­zi­sten den Toben­den ding­fest machen und ihn ins Poli­zei­prä­si­di­um am Alex­an­der­platz brin­gen. Dort harrt der Ver­bre­cher, der sich »Hohen­see« nennt, sei­nem Schick­sal ent­ge­gen. Und das wird ein knall­har­tes Ver­hör, das von Kri­mi­nal­kom­mis­sar Gott­hold Leh­nerdt geführt wird.

Der erfah­re­ne Leh­nerdt war am 1. Novem­ber 1910 im Alter von 25 Jah­ren als Kri­mi­nal­an­wär­ter in den Dienst der Ber­li­ner Poli­zei ein­ge­tre­ten und hat­te im Mai 1912 das Examen zum Kri­mi­nal­kom­mis­sar mit besten Noten abge­schlos­sen. Schon län­ger ist der Spe­zia­list im Raub­de­zer­nat dem gera­de über­wäl­tig­ten Mann auf den Fer­sen, denn der ist kein unbe­schrie­be­nes Blatt in der Ber­li­ner Unter­welt. Aber von wegen »Hohen­see«, eigent­lich heißt er Anton Lud­wig, ist 24 Jah­re alt und gebür­tig aus Neu­haus (Pader­born). Leh­nerdt wird die Geschich­te des kräf­ti­gen Man­nes und sei­nes Opfers 1925 in sei­nem Buch »Mör­der« zu Papier brin­gen, das auch ein Foto des Täters ent­hielt, eine Abbil­dung des Opfers zu Leb­zei­ten fehl­te hingegen.

Im Ver­hör­raum des Poli­zei­prä­si­di­ums sitzt der angeb­li­che Kauf­mann, der vor­gibt, auch Kunst­händ­ler zu sein. »Herr Hohensee«/Anton Lud­wig fabu­liert so vor sich hin, doch da kann Leh­nerdt nur müde lächeln, weiß er doch nur zu genau, dass das fast alles gelo­gen ist. Mag ja sein, dass Lud­wig als Kauf­mann tätig war, aber jetzt ist er ein Ver­bre­cher durch und durch und immer auf der Suche nach Mög­lich­kei­ten, sich an frem­dem Eigen­tum zu bereichern.

Natür­lich ist Lud­wig gleich nach der Ver­haf­tung gründ­lich durch­sucht wor­den. Und in dem Moment glit­zer­te den Beam­ten in der unter­ge­hen­den Abend­son­ne der schön­ste Schmuck in Hül­le und Fül­le ent­ge­gen. Das Geschmei­de stamm­te aus Pots­dam, wo Lud­wig es einer unglück­li­chen Kran­ken­pfle­ge­rin geraubt hat­te. Aber dann hat­te Lud­wig sie auch noch in ihrer eige­nen Woh­nung töten müs­sen, wo die wesent­lich älte­re Frau mit ihrer über 70jährigen Mut­ter bis zu ihrem grau­sa­men Tod gelebt hat­te. Lud­wig hat­te sie mit einer direkt vor Ort abge­schnit­te­nen Gar­di­nen­schnur erwürgt. Wie hat­te es nur dazu kom­men können?

Agnes Stein­berg war eine lebens­lu­sti­ge Frau. Sie ging ger­ne tan­zen, klei­de­te sich schick und lieb­te Schmuck. Ihre letz­te lang­jäh­ri­ge Bezie­hung hat­te mit dem Tod ihres Freun­des ein tra­gi­sches und uner­war­te­tes Ende genom­men. Der Ver­stor­be­ne hat­te sie mit einem reich­hal­ti­gen Erbe in Form von kost­ba­ren Schmuck­stücken bedacht. So stan­den Thea­ter und Kon­zer­te in Ber­lin bei ihr öfter auf der Tages­ord­nung, was immer auch mit einem anschlie­ßen­den Café­be­such ver­bun­den wur­de, um die War­te­zeit bis zur Abfahrt ihrer Bahn nach Pots­dam zu ver­kür­zen. Das Leben war eigent­lich schön, sie litt kei­ne Armut, obwohl die Zei­ten schlecht waren. Doch sie muss sich ein­sam gefühlt haben, was viel­leicht erklä­ren kann, dass sie ent­ge­gen ihrem inne­ren Instinkt handelte.

Eines Tages saß Agnes nach einem Thea­ter­be­such mal wie­der in einem Café am Pots­da­mer Platz, als sich ihr ein Mann näher­te, der ihr irgend­wie bekannt vor­kam. Und da däm­mer­te es ihr: Es war Anton Lud­wig, den sie im Krieg im Laza­rett zu Pots­dam für eine Wei­le gepflegt hat­te. Und aus dem uner­war­te­ten Wie­der­se­hen wur­den regel­mä­ßi­ge Tref­fen und dann wohl auch mehr. Dass er eigent­lich nichts Gutes im Schil­de führ­te, ahn­te sie nicht. Auch nicht, dass Lud­wig mitt­ler­wei­le Bekannt­schaft mit der Ber­li­ner Unter­welt gemacht hat­te. Und schon gar nicht, dass er stets zwei Pisto­len mit sich trug. In bestimm­ten Krei­sen war »Hohen­see«, wie er sich dort nann­te, ein­schlä­gig bekannt. Als Spe­zia­list für Juwe­len­dieb­stäh­le, der sich mit dem Erlös aus sei­nen Schmuck­dieb­stäh­len zusam­men mit sei­ner Freun­din, die nicht Agnes Stein­berg hieß, ein schö­nes Leben in den besten Hotels der Stadt mach­te. Die ahnungs­lo­se Agnes spür­te den­noch in man­chen Momen­ten etwas »Lau­ern­des« in sei­nem Blick, schob die­se Gedan­ken jedoch schnell wie­der beiseite.

Eines Tages folg­te dann die Ein­la­dung nach Pots­dam zum gemein­sa­men Kaf­fee­trin­ken mit Frau Mut­ter. Doch der gefiel die Wahl ihrer Toch­ter über­haupt nicht, wobei sie nicht genau sagen konn­te, war­um. Und dann kam der fata­le Tag, an dem Agnes eine List anwand­te und ihren Anton zu einem Schä­fer­stünd­chen in ihre Woh­nung bat, wohl­wis­send, dass die Mut­ter zu einem Kaf­fee­kränz­chen ein­ge­la­den war. Es war der 8. Sep­tem­ber 1920. Sturm­freie Bude, tra­gi­sches Ende. Denn als die Mut­ter zurück­kehr­te, fand sie ihre Toch­ter leb­los vor, jemand hat­te sie mit der Gar­di­nen­schnur erdros­selt. Hohensee!

Man weiß heu­te nichts über sei­nen Gemüts­zu­stand vor und nach der Tat. Als er zufäl­lig auf der Stra­ße einen ihm bekann­ten Uhr­ma­cher traf, woll­te er dem Mann eine mit Bril­lan­ten besetz­te Uhr aus der Beu­te ver­kau­fen, weil er drin­gend Bar­geld brauch­te. Doch die Nach­richt vom »Frau­en­mord in Pots­dam« und dem ver­schwun­de­nen Schmuck hat­te bereits über­all Schlag­zei­len gemacht. Und so mach­te der miss­traui­sche Uhr­ma­cher das ein­zig Rich­ti­ge: Er täusch­te eine wei­te­re Ver­ab­re­dung mit Lud­wig ali­as Hohen­see und eine zwi­schen­zeit­li­che Prü­fung der Uhr vor, dann ging er zur Poli­zei. Und das war Leh­nerdts gro­ße Stun­de. Er ver­glich sie mit den Beschrei­bun­gen der geraub­ten Schmuck­stücke in Pots­dam und konn­te dann einen Voll­tref­fer ver­mel­den. Und dann den zur Fahn­dung Aus­ge­schrie­be­nen bei dem näch­sten ver­meint­li­chen Tref­fen zwi­schen Lud­wig und dem Uhr­ma­cher ding­fest machen. Zusam­men mit sei­ner als Pro­sti­tu­ier­te ver­klei­de­ten Ehe­frau als »Lie­bes­paar auf der Bank« getarnt, war er per­sön­lich auch an der Ver­haf­tung des noto­ri­schen Ver­bre­chers betei­ligt. Ein kur­zes Hand­ge­men­ge, ein klei­ner Tumult, und dann hieß es: »Hier, Herr Kom­mis­sar, die Hand­schel­len!« Und die Zel­len­tür des Unter­su­chungs­ge­fäng­nis­ses schloss sich hin­ter dem mör­de­ri­schen »Herrn Hohensee«.

»Aus den Augen, aus dem Sinn« gilt mei­stens auch für Ver­bre­cher. Sind sie abge­ur­teilt, ver­schwin­den sie in der Regel aus dem Fokus des öffent­li­chen Inter­es­ses. Laut Kom­mis­sar Leh­nerdt wur­de Anton Lud­wig vom Pots­da­mer Schwur­ge­richt zunächst zum Tode ver­ur­teilt, dann aber nach meh­re­ren psych­ia­tri­schen Gut­ach­ten als »gemein­ge­fähr­li­cher Gei­stes­kran­ker« klas­si­fi­ziert, was in der Regel eine dau­er­haf­te Unter­brin­gung in einer »Irren­an­stalt« zur Fol­ge hat­te. Wo Lud­wig dann unter­ge­bracht war, ist der­zeit unklar. Gesi­chert ist jedoch, dass er ab einem gewis­sen Zeit­punkt für die Natio­nal­so­zia­li­sten als »Gewohn­heits­ver­bre­cher« galt, dem man das Recht absprach, wie­der in die Gesell­schaft zurück­keh­ren zu kön­nen. Es kam anders.

Nach der gera­de noch recht­zei­ti­gen Befrei­ung des Kon­zen­tra­ti­ons­la­gers Maut­hau­sen (Ober­do­nau) durch die Ame­ri­ka­ner Anfang Mai 1945 wur­de am 23. Mai 1945 ein »Ver­fü­gungs­be­fehl für einen Gefan­ge­nen« an den Lei­ter des Kon­zen­tra­ti­ons­la­gers über­mit­telt, wonach auch Anton Lud­wig zu ent­las­sen sei. Ein­ge­lie­fert wor­den war er laut »Häft­lings-Per­so­nal-Kar­te« bereits am 15. April 1943. »SV« – Sicher­heits­ver­wah­rung – hieß es außer­dem auf der Kar­te, und das war ein Instru­ment der Natio­nal­so­zia­li­sten, um lästi­ge Gewohn­heits­ver­bre­cher »unschäd­lich« zu machen. Legi­ti­miert wor­den war das bereits 1934 durch das »Gesetz gegen gefähr­li­che Gewohn­heits­ver­bre­cher und über Maß­re­geln der Siche­rung und Besserung«.

Doch Lud­wig erwies sich nach der Befrei­ung als äußerst zäh, obwohl er Unvor­stell­ba­res erlebt hat­te. Er hat­te das Grau­en von Ausch­witz gese­hen. Hat­te »vie­le Tau­sen­de« Men­schen nach der »panik­ar­ti­gen“ Eva­ku­ie­rung aus Ausch­witz auf dem Weg nach Maut­hau­sen »elend zugrun­de« gehen sehen. Es ist ein bewe­gen­der Bericht, den Lud­wig spä­ter in einem Brief an sei­nen Bru­der abgab, und gleich­zei­tig auch eine Abrech­nung mit dem Natio­nal­so­zia­lis­mus. Mit den SS-Leu­ten, der »Mör­der­ban­de«, und auch mit Göring, dem »eit­len Fant«; der Brief wird heu­te in einer Akte im Bran­den­bur­gi­schen Lan­des­haupt­ar­chiv auf­be­wahrt (Signa­tur 530 SED BL Pdm 10187).

Anton Lud­wig ver­schwand nicht vom Radar. Die Natio­nal­so­zia­li­sten hat­ten ihn nicht besiegt, im Gegen­teil, er ließ sein kri­mi­nel­les Leben hin­ter sich und kehr­te wie­der in die Gesell­schaft zurück. Er ließ sich in Wer­der an der Havel nie­der, wo er 1949 im Adress­buch als »Kauf­mann« ein­ge­tra­gen war. Doch er war wohl auch ein kran­ker Mann, der regel­mä­ßig nach Ber­lin zur Cha­ri­té fuhr, um sich behan­deln zu las­sen – wes­we­gen, ist nicht bekannt. 1961 hat­te er dort sei­nen letz­ten Termin.

Der geläu­ter­te Ver­bre­cher hat­te eine erstaun­li­che men­ta­le Resi­li­enz an den Tag gelegt. »In kur­zer Zeit wer­de ich mich wie­der erholt haben«, schrieb er nach sei­ner Frei­las­sung an sei­nen Bru­der. Sein Opfer hat­te die­se Mög­lich­keit nicht.

 Vor­ankün­di­gung: Im Herbst erscheint im Ammi­an-Ver­lag das neue Buch von Bet­ti­na Mül­ler unter dem Titel »Die Mas­seu­se mit der Hun­de­peit­sche« (Zwölf histo­ri­sche Mord­fäl­le aus Ber­lin und Umge­bung 1900-1933).