Vor 80 Jahren befreiten die Amerikaner das KZ Mauthausen. Auch der »Gewohnheitsverbrecher« Anton Ludwig wurde daraufhin entlassen. Dies ist seine Geschichte.
Charlottenburg, den 11. September 1920. Es wird langsam Abend, als in der Rönnestraße ein Tumult ausbricht. Ahnungslose Passanten stieben davon, als sich mehrere Kriminalbeamte in Zivil unvermittelt auf einen Mann stürzen, der sich heftig zur Wehr setzt, während eine vermeintliche Prostituierte das Geschehen aufmerksam beobachtet. Das Handgemenge dauert eine Weile an, dann können die Polizisten den Tobenden dingfest machen und ihn ins Polizeipräsidium am Alexanderplatz bringen. Dort harrt der Verbrecher, der sich »Hohensee« nennt, seinem Schicksal entgegen. Und das wird ein knallhartes Verhör, das von Kriminalkommissar Gotthold Lehnerdt geführt wird.
Der erfahrene Lehnerdt war am 1. November 1910 im Alter von 25 Jahren als Kriminalanwärter in den Dienst der Berliner Polizei eingetreten und hatte im Mai 1912 das Examen zum Kriminalkommissar mit besten Noten abgeschlossen. Schon länger ist der Spezialist im Raubdezernat dem gerade überwältigten Mann auf den Fersen, denn der ist kein unbeschriebenes Blatt in der Berliner Unterwelt. Aber von wegen »Hohensee«, eigentlich heißt er Anton Ludwig, ist 24 Jahre alt und gebürtig aus Neuhaus (Paderborn). Lehnerdt wird die Geschichte des kräftigen Mannes und seines Opfers 1925 in seinem Buch »Mörder« zu Papier bringen, das auch ein Foto des Täters enthielt, eine Abbildung des Opfers zu Lebzeiten fehlte hingegen.
Im Verhörraum des Polizeipräsidiums sitzt der angebliche Kaufmann, der vorgibt, auch Kunsthändler zu sein. »Herr Hohensee«/Anton Ludwig fabuliert so vor sich hin, doch da kann Lehnerdt nur müde lächeln, weiß er doch nur zu genau, dass das fast alles gelogen ist. Mag ja sein, dass Ludwig als Kaufmann tätig war, aber jetzt ist er ein Verbrecher durch und durch und immer auf der Suche nach Möglichkeiten, sich an fremdem Eigentum zu bereichern.
Natürlich ist Ludwig gleich nach der Verhaftung gründlich durchsucht worden. Und in dem Moment glitzerte den Beamten in der untergehenden Abendsonne der schönste Schmuck in Hülle und Fülle entgegen. Das Geschmeide stammte aus Potsdam, wo Ludwig es einer unglücklichen Krankenpflegerin geraubt hatte. Aber dann hatte Ludwig sie auch noch in ihrer eigenen Wohnung töten müssen, wo die wesentlich ältere Frau mit ihrer über 70jährigen Mutter bis zu ihrem grausamen Tod gelebt hatte. Ludwig hatte sie mit einer direkt vor Ort abgeschnittenen Gardinenschnur erwürgt. Wie hatte es nur dazu kommen können?
Agnes Steinberg war eine lebenslustige Frau. Sie ging gerne tanzen, kleidete sich schick und liebte Schmuck. Ihre letzte langjährige Beziehung hatte mit dem Tod ihres Freundes ein tragisches und unerwartetes Ende genommen. Der Verstorbene hatte sie mit einem reichhaltigen Erbe in Form von kostbaren Schmuckstücken bedacht. So standen Theater und Konzerte in Berlin bei ihr öfter auf der Tagesordnung, was immer auch mit einem anschließenden Cafébesuch verbunden wurde, um die Wartezeit bis zur Abfahrt ihrer Bahn nach Potsdam zu verkürzen. Das Leben war eigentlich schön, sie litt keine Armut, obwohl die Zeiten schlecht waren. Doch sie muss sich einsam gefühlt haben, was vielleicht erklären kann, dass sie entgegen ihrem inneren Instinkt handelte.
Eines Tages saß Agnes nach einem Theaterbesuch mal wieder in einem Café am Potsdamer Platz, als sich ihr ein Mann näherte, der ihr irgendwie bekannt vorkam. Und da dämmerte es ihr: Es war Anton Ludwig, den sie im Krieg im Lazarett zu Potsdam für eine Weile gepflegt hatte. Und aus dem unerwarteten Wiedersehen wurden regelmäßige Treffen und dann wohl auch mehr. Dass er eigentlich nichts Gutes im Schilde führte, ahnte sie nicht. Auch nicht, dass Ludwig mittlerweile Bekanntschaft mit der Berliner Unterwelt gemacht hatte. Und schon gar nicht, dass er stets zwei Pistolen mit sich trug. In bestimmten Kreisen war »Hohensee«, wie er sich dort nannte, einschlägig bekannt. Als Spezialist für Juwelendiebstähle, der sich mit dem Erlös aus seinen Schmuckdiebstählen zusammen mit seiner Freundin, die nicht Agnes Steinberg hieß, ein schönes Leben in den besten Hotels der Stadt machte. Die ahnungslose Agnes spürte dennoch in manchen Momenten etwas »Lauerndes« in seinem Blick, schob diese Gedanken jedoch schnell wieder beiseite.
Eines Tages folgte dann die Einladung nach Potsdam zum gemeinsamen Kaffeetrinken mit Frau Mutter. Doch der gefiel die Wahl ihrer Tochter überhaupt nicht, wobei sie nicht genau sagen konnte, warum. Und dann kam der fatale Tag, an dem Agnes eine List anwandte und ihren Anton zu einem Schäferstündchen in ihre Wohnung bat, wohlwissend, dass die Mutter zu einem Kaffeekränzchen eingeladen war. Es war der 8. September 1920. Sturmfreie Bude, tragisches Ende. Denn als die Mutter zurückkehrte, fand sie ihre Tochter leblos vor, jemand hatte sie mit der Gardinenschnur erdrosselt. Hohensee!
Man weiß heute nichts über seinen Gemütszustand vor und nach der Tat. Als er zufällig auf der Straße einen ihm bekannten Uhrmacher traf, wollte er dem Mann eine mit Brillanten besetzte Uhr aus der Beute verkaufen, weil er dringend Bargeld brauchte. Doch die Nachricht vom »Frauenmord in Potsdam« und dem verschwundenen Schmuck hatte bereits überall Schlagzeilen gemacht. Und so machte der misstrauische Uhrmacher das einzig Richtige: Er täuschte eine weitere Verabredung mit Ludwig alias Hohensee und eine zwischenzeitliche Prüfung der Uhr vor, dann ging er zur Polizei. Und das war Lehnerdts große Stunde. Er verglich sie mit den Beschreibungen der geraubten Schmuckstücke in Potsdam und konnte dann einen Volltreffer vermelden. Und dann den zur Fahndung Ausgeschriebenen bei dem nächsten vermeintlichen Treffen zwischen Ludwig und dem Uhrmacher dingfest machen. Zusammen mit seiner als Prostituierte verkleideten Ehefrau als »Liebespaar auf der Bank« getarnt, war er persönlich auch an der Verhaftung des notorischen Verbrechers beteiligt. Ein kurzes Handgemenge, ein kleiner Tumult, und dann hieß es: »Hier, Herr Kommissar, die Handschellen!« Und die Zellentür des Untersuchungsgefängnisses schloss sich hinter dem mörderischen »Herrn Hohensee«.
»Aus den Augen, aus dem Sinn« gilt meistens auch für Verbrecher. Sind sie abgeurteilt, verschwinden sie in der Regel aus dem Fokus des öffentlichen Interesses. Laut Kommissar Lehnerdt wurde Anton Ludwig vom Potsdamer Schwurgericht zunächst zum Tode verurteilt, dann aber nach mehreren psychiatrischen Gutachten als »gemeingefährlicher Geisteskranker« klassifiziert, was in der Regel eine dauerhafte Unterbringung in einer »Irrenanstalt« zur Folge hatte. Wo Ludwig dann untergebracht war, ist derzeit unklar. Gesichert ist jedoch, dass er ab einem gewissen Zeitpunkt für die Nationalsozialisten als »Gewohnheitsverbrecher« galt, dem man das Recht absprach, wieder in die Gesellschaft zurückkehren zu können. Es kam anders.
Nach der gerade noch rechtzeitigen Befreiung des Konzentrationslagers Mauthausen (Oberdonau) durch die Amerikaner Anfang Mai 1945 wurde am 23. Mai 1945 ein »Verfügungsbefehl für einen Gefangenen« an den Leiter des Konzentrationslagers übermittelt, wonach auch Anton Ludwig zu entlassen sei. Eingeliefert worden war er laut »Häftlings-Personal-Karte« bereits am 15. April 1943. »SV« – Sicherheitsverwahrung – hieß es außerdem auf der Karte, und das war ein Instrument der Nationalsozialisten, um lästige Gewohnheitsverbrecher »unschädlich« zu machen. Legitimiert worden war das bereits 1934 durch das »Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung«.
Doch Ludwig erwies sich nach der Befreiung als äußerst zäh, obwohl er Unvorstellbares erlebt hatte. Er hatte das Grauen von Auschwitz gesehen. Hatte »viele Tausende« Menschen nach der »panikartigen“ Evakuierung aus Auschwitz auf dem Weg nach Mauthausen »elend zugrunde« gehen sehen. Es ist ein bewegender Bericht, den Ludwig später in einem Brief an seinen Bruder abgab, und gleichzeitig auch eine Abrechnung mit dem Nationalsozialismus. Mit den SS-Leuten, der »Mörderbande«, und auch mit Göring, dem »eitlen Fant«; der Brief wird heute in einer Akte im Brandenburgischen Landeshauptarchiv aufbewahrt (Signatur 530 SED BL Pdm 10187).
Anton Ludwig verschwand nicht vom Radar. Die Nationalsozialisten hatten ihn nicht besiegt, im Gegenteil, er ließ sein kriminelles Leben hinter sich und kehrte wieder in die Gesellschaft zurück. Er ließ sich in Werder an der Havel nieder, wo er 1949 im Adressbuch als »Kaufmann« eingetragen war. Doch er war wohl auch ein kranker Mann, der regelmäßig nach Berlin zur Charité fuhr, um sich behandeln zu lassen – weswegen, ist nicht bekannt. 1961 hatte er dort seinen letzten Termin.
Der geläuterte Verbrecher hatte eine erstaunliche mentale Resilienz an den Tag gelegt. »In kurzer Zeit werde ich mich wieder erholt haben«, schrieb er nach seiner Freilassung an seinen Bruder. Sein Opfer hatte diese Möglichkeit nicht.
Vorankündigung: Im Herbst erscheint im Ammian-Verlag das neue Buch von Bettina Müller unter dem Titel »Die Masseuse mit der Hundepeitsche« (Zwölf historische Mordfälle aus Berlin und Umgebung 1900-1933).