Lars Klingbeil (SPD), hat das Problem erkannt, warum der SPD die Wähler weglaufen: »Uns ist der Charakter als Partei der Arbeit abhandengekommen«, sagte er über seine Partei am 19.05. im Redaktionsnetzwerk Deutschland (jW, 20.05.25).
Abhandengekommen wäre den Deutschen beinahe ein Kanzler. Am 06. Mai erhielt Friedrich Merz, der einzige Kanzlerkandidat, im ersten Wahlgang des Bundestags keine absolute Mehrheit. Die Börse reagierte mit Kursstürzen, die Abgeordneten und die Medien mit Panik. Kurzerhand wurde die im Gesetz vorgeschriebene Frist für einen zweiten Wahlgang aufgehoben und am gleichen Nachmittag nochmal gewählt. Diesmal stimmte die Mehrheit für ihn, aber drei Abgeordnete aus den Koalitionsparteien blieben bei ihrer Gegnerschaft: Nur 325 statt der 328 Regierungsbündler stimmten für Merz. In beiden Wahlgängen stimmte die Zahl der abgegebenen Stimmen nicht mit der Zahl der Anwesenden überein. Ein knappes Dutzend blieb der Wahl fern. Komischerweise interessierte das die Medien überhaupt nicht, aber jeder kann die Zahlen im Netz überprüfen (https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1611973/umfrage/ergebnis-der-wahl-des-bundeskanzlers/).
Nicht abhandenkommen wird uns der Feind. Denn »Russland wird immer ein Feind für uns bleiben«, äußerte Johann Wadephul, designierter Außenminister der Regierung Merz (Berliner Zeitung, 28.04.25). Da scheint Herr Wadephul die Russen für wahre Christen zu halten. »Liebet Eure Feinde, tut wohl denen, die euch hassen«, steht das nicht so in der Bibel? Und haben die Russen uns Deutschen nicht »wohlgetan«, als sie uns die Einheit schenkten – unter gewissen Bedingungen, von denen heute keiner mehr wissen will: Keine Nato-Truppen auf dem Boden der Staaten des ehemaligen Warschauer Vertrags?
Und ist nicht die Sache mit dem »Erbfeind« nach dem 3. Reich verjährt? O.K., die Führung kam den Deutschen abhanden, aber jetzt haben wir sie wieder: »Deutschland ist zurück. Wir sind wieder ein verlässlicher Partner, für Europa, für die Wirtschaft, für die Verkehrsbranche«, tönte Verkehrsminister Patrik Schnieder (jW, 15.05.25). Deutschland ein verlässlicher Partner? Nach EU-Regularien dürfen die Staatsausgaben mittelfristig die Schuldenquote von 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts nicht überschreiten. Das noch vom alten Bundestag mit Zweidrittelmehrheit verabschiedete Aufrüstungs- und Infrastrukturpaket wird die Verschuldung jedoch auf mindestens 80 Prozent hinauftreiben. Das Handelsblatt vom 27.04. befürchtet, dass die EU Deutschlands Verschuldungspläne nicht durchgehen lässt (jW, 28.04.25).
Gut, das sind erstmal nur Befürchtungen. Gehen wir lieber von gesicherten Tatsachen aus. »Gesichert rechtsextremistisch« sei die AfD, erklärt der Verfassungsschutz, und alle Bundestagsparteien – außer natürlich der AfD – erklären das für gut. Nun ist aber der Begriff »gesichert rechtsextremistisch« nichts, was justiziabel ist, es ist ein Kampfbegriff. Genau wie »freiheitlich-demokratische Grundordnung«, die auch nicht im Grundgesetz steht, auf der man aber stehen muss, um in den öffentlichen Dienst zu kommen. Ganz zu schweigen von der »wertebasierten Grundordnung«, die den Nato-Staaten alles erlaubt, was anderen verboten ist. Gewohnheitsrecht für die staatstragenden Parteien ist es, solche Kategorien zu benutzen, um politische Gegner außen vor zu halten.
Kommt vielleicht langsam, aber sicher auch der Rechtsstaat abhanden? Das stellt jedenfalls der Grundrechtereport 2025 fest. »Die Ausübung ziviler Freiheiten wird offensiv und mit bislang nie dagewesener Intensität behindert oder verboten«, ist in dem am Mittwoch vorgestellten Grundrechte-Report 2025 zu lesen. Früher habe man hinzugewonnene und verlorene Rechte dokumentiert, sagte Maximilian Steinbeis, Geschäftsführer des Verfassungsblogs, auf der Pressekonferenz. Inzwischen würden die Fortschritte »immer seltener« und Rückschritte »immer häufiger« – ein »tintenschwarzes Bild«. Steinbeis mutmaßte, dass die staatliche Macht das Recht womöglich nicht mehr brauche, »um Vertrauen in ihre Durchsetzungsfähigkeit zu mobilisieren«. Heute gibt es dafür andere Mittel: umfassende Überwachung, tödliche Gewalt und Zensur (jW, 21.05.25). Und inzwischen sogar Ausbürgerung neuer Art: Zwei deutsche Journalisten, Alina Lipp und Thomas Röper, die in Russland leben und schreiben, dürfen die EU nicht mehr betreten, können also ihre Heimat nicht mehr erreichen. Ihre Konten werden eingefroren, jeder, der sie unterstützt, macht sich strafbar. Im 17. Sanktionspaket gegen Russland werden sogar afrikanische Journalisten sanktioniert, weil sie »russische Desinformation« verbreiten. Rückkehr zur Vogelfreiheit?
Was ist das für eine Zeit, in der das Tragen einer schwarzen Baskenmütze im Bundestag zum Ausschluss von der Sitzung führt, begleitet vom Applaus aus CDU/CSU und AfD (jW, 15.05.25)?
Solange uns die Furcht nicht abhandenkommt, kann sie sich nicht in Widerstand verwandeln.
Trotz alledem
Doch hat der Staat sich nur blamiert
vor aller Welt trotzalledem,
und wenn die Presse Lügen schmiert,
das Fernseh’n schweigt trotzalledem,
Trotz Misstraun, Angst und alledem,
es kommt dazu, trotz alledem,
dass sich die Furcht in Widerstand
verwandeln wird, trotz alledem!
(Melodie: schottische Weise, Originaltext: Ferdinand Freiligrath, aktualisiert von Hannes Wader 1977, 5. und 6. Strophe)