Der Bestseller von Klaus von Dohnanyi über deutsche und europäische Politik ist jetzt in einer aktualisierten Neuausgabe erschienen. Rechtzeitig vor seinem 97. Geburtstag bewertet der Autor die Folgen des Ukraine-Krieges und blickt auf die Zukunft Europas. Vor allem die Entstehungsgeschichte, die Ursachen des Krieges werden in den Blick genommen.
Die erste Ausgabe endete im Herbst 2021, und das Buch erschien vor dem Krieg in der Ukraine. Ganz bewusst verwendet Dohnanyi den erkenntnisleitenden Begriff der Interessen, die alle Staaten mit ihrer Regierungspolitik zum Ausdruck bringen. Er wendet sich gegen ein Verständnis von Politik, das glaube, demokratische Staaten gestalteten ihre Politik, indem sie etwa gleiche Werte vertreten würden. Deutschland und Europa müssten ihre eigenen Interessen formulieren und in der Folge Entscheidungen aushandeln. Dabei folgt D. bestimmten Prinzipien, wie etwa der Entspannungspolitik Willy Brandts. »Wandel durch Annäherung« ist ein komplexes Konzept von Bahr/Brandt, keine Unterwerfung. Es ist ein Prozess des Aushandelns und Austarierens jeweiliger staatlicher Interessen mit dem Ziel, gemeinsame Nenner zu finden. Die Kritiker und deren Versuch einer Umdeutung in »Wandel durch Handel« haben dagegen lediglich Diskriminierung und Eigennutz im Sinn.
Willy Brandt holte D. in seine zweite Regierung, nach dem großen Erfolg bei der Bundestagswahl für eine neue Ostpolitik 1972, als Minister für Bildung und Wissenschaft. Größere Teile der deutschen Bevölkerung hatten genug vom Kalten Krieg. In der Regierung Helmut Schmidts wurde Dohnanyi Staatsminister im Außenministerium unter Genscher, später Hamburgs langjähriger Erster Bürgermeister. Familiäre Traditionen, Erfahrungen und Wissen befähigten ihn, klar zu erkennen, was in der Welt vor sich geht. Dieses Verständnis verband er mit dem würdevollen Auftreten, eines intellektuellen Politikers, der in Lage ist, zu formulieren, was die Zeit erfordert, der das realpolitisch Mögliche in eine pragmatische Politik zu fassen wusste: Was Deutschland gerade heute besonders bräuchte! Nämlich, sich an das Friedensgebot unseres Grundgesetzes zu halten. Die außenpolitische Position, die Deutschland einnehmen soll, – im Angesicht der begangenen Kriegsverbrechen und Völkermorde im von ihm entfesselten Zweiten Weltkrieg – bedeutet, nach der Kapitulation und Befreiung »als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen«.
Deutschland hat sich deshalb in zahlreichen historischen Dokumenten zum Frieden verpflichtet: Im 2+4-Vertrag zwischen den vier alliierten Siegermächten des Zweiten Weltkriegs und den beiden deutschen Staaten und in der Charta von Paris für ein neues Europa; auch im Nato-Vertrag von 1949, der mit seinem ersten Artikel die friedliche Streitbeilegung und die Einhaltung der Agenda der UN-Charta von 1945 festlegt. Im Klartext: Internationale Konflikte sind friedlich zu lösen, Androhung von Gewalt und Angriffskriege sind verboten, Menschenrechte und Zusammenarbeit mit anderen Staaten für Frieden und Sicherheit durch Rüstungskontrolle und Abrüstung zu entwickeln. Ähnlich steht es in unserem Grundgesetz: eine Pflicht zur Entspannung von Konflikten und nicht zur Beförderung von Eskalation und Kriegsführung. Friedenspolitik ist der Primat der Verfassung, in die deutsche Interessen sich einzuordnen haben.
Im Vorwort zur Neuausgabe seines Buches erhebt der Elder Statesman Zweifel an den Qualitäten von Friedrich Merz. Dohnanyi erinnert an die Union der 1970er Jahre, die durch ihre Frontstellung gegenüber der Sowjetunion außerstande war, die Beziehungen zugunsten der Menschen und Völker zu entwickeln. Merz verhebt sich in seinen Reaktionen. Die Ungeheuerlichkeit, die sich Friedrich Merz vor wenigen Tagen als neuer Bundeskanzler leistete, als er behauptete, »Israel« würde für »uns«, den sogenannten Westen, die »Drecksarbeit« erledigen, indem es den Iran und sein »Mullah-Regime« bombardiert sowie Mordanschläge gegen das iranische Führungspersonal ausführt. Solche »Rechtfertigung« bedeutet eben auch, Verbrechen und Morde der Geheimdienste oder des Militärs »demokratischer« Staaten zu decken, ausgeübt an Personen, über die zu urteilen allein durch Recht und Gesetz erfolgen könnte. Nach UN-Charta sind solche Gewaltmaßnahmen völkerrechtswidrig und verboten, auch wenn Debatten versuchen, das Völkerrecht aufzuweichen. Die ungleiche Betrachtung und Bewertung von Angriffskriegen seitens der USA, Russlands oder Israels ist durch nichts zu rechtfertigen. Insoweit ist der Ansatz von Realpolitik, Konflikte in einer Form zu lösen, die, entsprechend einer gegebenen Lage und von gegebenen Machtverhältnissen, im Sinne aller Menschen liegt, ausgehend vom Frieden als Grundlage für Aufbau und Entwicklung.
Dohnanyi fordert von Deutschland eine souveräne, interessengeleitete und europäisch orientierte Außenpolitik, die sich von moralischer Überhöhung und einseitiger Bündnistreue löst; die transatlantische Partnerschaft sei kein Selbstzweck, zumal die USA eigene globale Interessen verfolgen – oft mit militärischer Gewalt und ökonomischen Pressionen. Die Konfrontation mit Russland sei gefährlich und kurzsichtig.
In seinem Vorwort zur Neuausgabe kritisiert Klaus von Dohnanyi scharf die Mitschuld der USA an der Zuspitzung des Sicherheitsproblems und die unterwürfige Haltung der Europäer, die mutlos geschehen ließen, was Bundeskanzlerin Merkel 2008 und anderen hochrangigen Diplomaten auf der Bukarester Nato-Tagung durchaus bewusst war: dass Putin die Ausdehnung der Nato bis in die Ukraine und Georgien als Kriegserklärung verstehen würde. Entgegen den Behauptungen sogenannter Experten, wie den Militärhistoriker Sönke Neitzel, signalisierte Putins Rede im Deutschen Bundestag, die konstruktive Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern zu vertiefen und bestehende Fragen und Probleme kooperativ zu lösen. »Alles, auch die Ursachen des Ukrainekriegs und der neue Kalte Krieg zwischen dem Westen und Russland, begann mit dem Fall der Mauer 1989 und ist deswegen eng verbunden mit der Auflösung des sowjetischen Imperiums nur zwei Jahre später Ende 1991.« Diese präzise und klare Einschätzung, denen noch weitere folgen, können den Militärexperten und ihrer Verweigerung nicht schmecken, sie stehen in Gefahr, ihr Gesicht zu verlieren. Berechtigte Sicherheitsinteressen anderer Staaten als Ausgang zu nehmen für Verhandlungen ohne Vorbedingungen ist demgegenüber die einzige Möglichkeit, Kriege zu beenden. Ein bedenkenswertes und tiefsinniges Buch! Sehr zu empfehlen.
Klaus von Dohnanyi: Nationale Interessen. Orientierung für deutsche und europäische Politik in Zeiten globaler Umbrüche (Aktualisierte Neuausgabe: Die Folgen des Ukraine-Krieges und die Zukunft Europas), Siedler-Verlag München 2025, 304 S., 26 €.