Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

Nationale Interessen

Der Best­sel­ler von Klaus von Dohn­anyi über deut­sche und euro­päi­sche Poli­tik ist jetzt in einer aktua­li­sier­ten Neu­aus­ga­be erschie­nen. Recht­zei­tig vor sei­nem 97. Geburts­tag bewer­tet der Autor die Fol­gen des Ukrai­ne-Krie­ges und blickt auf die Zukunft Euro­pas. Vor allem die Ent­ste­hungs­ge­schich­te, die Ursa­chen des Krie­ges wer­den in den Blick genommen.

Die erste Aus­ga­be ende­te im Herbst 2021, und das Buch erschien vor dem Krieg in der Ukrai­ne. Ganz bewusst ver­wen­det Dohn­anyi den erkennt­nis­lei­ten­den Begriff der Inter­es­sen, die alle Staa­ten mit ihrer Regie­rungs­po­li­tik zum Aus­druck brin­gen. Er wen­det sich gegen ein Ver­ständ­nis von Poli­tik, das glau­be, demo­kra­ti­sche Staa­ten gestal­te­ten ihre Poli­tik, indem sie etwa glei­che Wer­te ver­tre­ten wür­den. Deutsch­land und Euro­pa müss­ten ihre eige­nen Inter­es­sen for­mu­lie­ren und in der Fol­ge Ent­schei­dun­gen aus­han­deln. Dabei folgt D. bestimm­ten Prin­zi­pi­en, wie etwa der Ent­span­nungs­po­li­tik Wil­ly Brandts. »Wan­del durch Annä­he­rung« ist ein kom­ple­xes Kon­zept von Bahr/​Brandt, kei­ne Unter­wer­fung. Es ist ein Pro­zess des Aus­han­delns und Aus­ta­rie­rens jewei­li­ger staat­li­cher Inter­es­sen mit dem Ziel, gemein­sa­me Nen­ner zu fin­den. Die Kri­ti­ker und deren Ver­such einer Umdeu­tung in »Wan­del durch Han­del« haben dage­gen ledig­lich Dis­kri­mi­nie­rung und Eigen­nutz im Sinn.

Wil­ly Brandt hol­te D. in sei­ne zwei­te Regie­rung, nach dem gro­ßen Erfolg bei der Bun­des­tags­wahl für eine neue Ost­po­li­tik 1972, als Mini­ster für Bil­dung und Wis­sen­schaft. Grö­ße­re Tei­le der deut­schen Bevöl­ke­rung hat­ten genug vom Kal­ten Krieg. In der Regie­rung Hel­mut Schmidts wur­de Dohn­anyi Staats­mi­ni­ster im Außen­mi­ni­ste­ri­um unter Gen­scher, spä­ter Ham­burgs lang­jäh­ri­ger Erster Bür­ger­mei­ster. Fami­liä­re Tra­di­tio­nen, Erfah­run­gen und Wis­sen befä­hig­ten ihn, klar zu erken­nen, was in der Welt vor sich geht. Die­ses Ver­ständ­nis ver­band er mit dem wür­de­vol­len Auf­tre­ten, eines intel­lek­tu­el­len Poli­ti­kers, der in Lage ist, zu for­mu­lie­ren, was die Zeit erfor­dert, der das real­po­li­tisch Mög­li­che in eine prag­ma­ti­sche Poli­tik zu fas­sen wuss­te: Was Deutsch­land gera­de heu­te beson­ders bräuch­te! Näm­lich, sich an das Frie­dens­ge­bot unse­res Grund­ge­set­zes zu hal­ten. Die außen­po­li­ti­sche Posi­ti­on, die Deutsch­land ein­neh­men soll, – im Ange­sicht der began­ge­nen Kriegs­ver­bre­chen und Völ­ker­mor­de im von ihm ent­fes­sel­ten Zwei­ten Welt­krieg – bedeu­tet, nach der Kapi­tu­la­ti­on und Befrei­ung »als gleich­be­rech­tig­tes Glied in einem ver­ein­ten Euro­pa dem Frie­den der Welt zu dienen«.

Deutsch­land hat sich des­halb in zahl­rei­chen histo­ri­schen Doku­men­ten zum Frie­den ver­pflich­tet: Im 2+4-Vertrag zwi­schen den vier alli­ier­ten Sie­ger­mäch­ten des Zwei­ten Welt­kriegs und den bei­den deut­schen Staa­ten und in der Char­ta von Paris für ein neu­es Euro­pa; auch im Nato-Ver­trag von 1949, der mit sei­nem ersten Arti­kel die fried­li­che Streit­bei­le­gung und die Ein­hal­tung der Agen­da der UN-Char­ta von 1945 fest­legt. Im Klar­text: Inter­na­tio­na­le Kon­flik­te sind fried­lich zu lösen, Andro­hung von Gewalt und Angriffs­krie­ge sind ver­bo­ten, Men­schen­rech­te und Zusam­men­ar­beit mit ande­ren Staa­ten für Frie­den und Sicher­heit durch Rüstungs­kon­trol­le und Abrü­stung zu ent­wickeln. Ähn­lich steht es in unse­rem Grund­ge­setz: eine Pflicht zur Ent­span­nung von Kon­flik­ten und nicht zur Beför­de­rung von Eska­la­ti­on und Kriegs­füh­rung. Frie­dens­po­li­tik ist der Pri­mat der Ver­fas­sung, in die deut­sche Inter­es­sen sich ein­zu­ord­nen haben.

Im Vor­wort zur Neu­aus­ga­be sei­nes Buches erhebt der Elder Sta­tes­man Zwei­fel an den Qua­li­tä­ten von Fried­rich Merz. Dohn­anyi erin­nert an die Uni­on der 1970er Jah­re, die durch ihre Front­stel­lung gegen­über der Sowjet­uni­on außer­stan­de war, die Bezie­hun­gen zugun­sten der Men­schen und Völ­ker zu ent­wickeln. Merz ver­hebt sich in sei­nen Reak­tio­nen. Die Unge­heu­er­lich­keit, die sich Fried­rich Merz vor weni­gen Tagen als neu­er Bun­des­kanz­ler lei­ste­te, als er behaup­te­te, »Isra­el« wür­de für »uns«, den soge­nann­ten Westen, die »Drecks­ar­beit« erle­di­gen, indem es den Iran und sein »Mul­lah-Regime« bom­bar­diert sowie Mord­an­schlä­ge gegen das ira­ni­sche Füh­rungs­per­so­nal aus­führt. Sol­che »Recht­fer­ti­gung« bedeu­tet eben auch, Ver­bre­chen und Mor­de der Geheim­dien­ste oder des Mili­tärs »demo­kra­ti­scher« Staa­ten zu decken, aus­ge­übt an Per­so­nen, über die zu urtei­len allein durch Recht und Gesetz erfol­gen könn­te. Nach UN-Char­ta sind sol­che Gewalt­maß­nah­men völ­ker­rechts­wid­rig und ver­bo­ten, auch wenn Debat­ten ver­su­chen, das Völ­ker­recht auf­zu­wei­chen. Die unglei­che Betrach­tung und Bewer­tung von Angriffs­krie­gen sei­tens der USA, Russ­lands oder Isra­els ist durch nichts zu recht­fer­ti­gen. Inso­weit ist der Ansatz von Real­po­li­tik, Kon­flik­te in einer Form zu lösen, die, ent­spre­chend einer gege­be­nen Lage und von gege­be­nen Macht­ver­hält­nis­sen, im Sin­ne aller Men­schen liegt, aus­ge­hend vom Frie­den als Grund­la­ge für Auf­bau und Entwicklung.

Dohn­anyi for­dert von Deutsch­land eine sou­ve­rä­ne, inter­es­sen­ge­lei­te­te und euro­pä­isch ori­en­tier­te Außen­po­li­tik, die sich von mora­li­scher Über­hö­hung und ein­sei­ti­ger Bünd­nis­treue löst; die trans­at­lan­ti­sche Part­ner­schaft sei kein Selbst­zweck, zumal die USA eige­ne glo­ba­le Inter­es­sen ver­fol­gen – oft mit mili­tä­ri­scher Gewalt und öko­no­mi­schen Pres­sio­nen. Die Kon­fron­ta­ti­on mit Russ­land sei gefähr­lich und kurzsichtig.

In sei­nem Vor­wort zur Neu­aus­ga­be kri­ti­siert Klaus von Dohn­anyi scharf die Mit­schuld der USA an der Zuspit­zung des Sicher­heits­pro­blems und die unter­wür­fi­ge Hal­tung der Euro­pä­er, die mut­los gesche­hen lie­ßen, was Bun­des­kanz­le­rin Mer­kel 2008 und ande­ren hoch­ran­gi­gen Diplo­ma­ten auf der Buka­re­ster Nato-Tagung durch­aus bewusst war: dass Putin die Aus­deh­nung der Nato bis in die Ukrai­ne und Geor­gi­en als Kriegs­er­klä­rung ver­ste­hen wür­de. Ent­ge­gen den Behaup­tun­gen soge­nann­ter Exper­ten, wie den Mili­tär­hi­sto­ri­ker Sön­ke Neit­zel, signa­li­sier­te Putins Rede im Deut­schen Bun­des­tag, die kon­struk­ti­ve Zusam­men­ar­beit zwi­schen bei­den Län­dern zu ver­tie­fen und bestehen­de Fra­gen und Pro­ble­me koope­ra­tiv zu lösen. »Alles, auch die Ursa­chen des Ukrai­ne­kriegs und der neue Kal­te Krieg zwi­schen dem Westen und Russ­land, begann mit dem Fall der Mau­er 1989 und ist des­we­gen eng ver­bun­den mit der Auf­lö­sung des sowje­ti­schen Impe­ri­ums nur zwei Jah­re spä­ter Ende 1991.« Die­se prä­zi­se und kla­re Ein­schät­zung, denen noch wei­te­re fol­gen, kön­nen den Mili­tär­ex­per­ten und ihrer Ver­wei­ge­rung nicht schmecken, sie ste­hen in Gefahr, ihr Gesicht zu ver­lie­ren. Berech­tig­te Sicher­heits­in­ter­es­sen ande­rer Staa­ten als Aus­gang zu neh­men für Ver­hand­lun­gen ohne Vor­be­din­gun­gen ist dem­ge­gen­über die ein­zi­ge Mög­lich­keit, Krie­ge zu been­den. Ein beden­kens­wer­tes und tief­sin­ni­ges Buch! Sehr zu empfehlen.

Klaus von Dohn­anyi: Natio­na­le Inter­es­sen. Ori­en­tie­rung für deut­sche und euro­päi­sche Poli­tik in Zei­ten glo­ba­ler Umbrü­che (Aktua­li­sier­te Neu­aus­ga­be: Die Fol­gen des Ukrai­ne-Krie­ges und die Zukunft Euro­pas), Sied­ler-Ver­lag Mün­chen 2025, 304 S., 26 €.