Frantz Fanon ist für die politische Sozialisation einer ganzen Generation linkspolitisch Aktiver sehr wichtig gewesen. Sein 100. Geburtstag ist Anlass genug, den Umgang mit ihm rückblickend zu überdenken. Meine These lautet: Unsere Rezeption seines Lebenswerkes war gleich doppelt verkürzt.
Erstens wurde er hin- und hergedreht, mit analytischen Skalpellen seziert, zerlegt in den philosophischen, den psychiatrischen, den antikolonialistischen, den antirassistischen, den aktivistischen, den gewaltverherrlichenden Fanon. Wenn man sich in die einschlägigen Texte zu Fanon vertieft, stellt sich irgendwann Irritation ein: In typisch positivistischer Art wird ein Mensch zerstückelt, der vor allem eines war: ein Kämpfer um die vom Kolonialismus zerstörten Seelen und gegen den kolonialistischen Moloch selbst.
Wichtiger aber ist die zweite Verkürzung: Wir haben Frantz Fanon für unsere Gesellschaftskritik vereinnahmt, und zugleich haben wir seine Botschaft an uns Bewohner/innen des globalen Nordens entkernt und damit die Glaubwürdigkeit unseres politischen Denkens und Handelns untergraben.
Ich gehe fünfzig Jahre zurück. Wir linken Studierenden und später beruflich und praktisch-politisch Aktiven waren, ganz im Sinne von Fanon, entschlossen, der zerstörerischen Dynamik der sogenannten Marktwirtschaft, diesem euphemistischen Etikett für kapitalistische Ausbeutung, entgegenzutreten. Kapitalismuskritik, Imperialismuskritik, Wissenschaftskritik waren für uns so selbstverständlich wie die Kritik an der praktischen Arbeit, etwa der Verhaltenstherapie als technokratische Anpassung an die Gesellschaft, an der systemaffinen Kooperation der akademischen Zunft in Schulen und Hochschulen, in den Knästen, im sozialen Feld, eigentlich in allen gesellschaftlichen Bereichen. Wir entwickelten Gegenentwürfe der sozialen und therapeutischen Arbeit mit emanzipatorischem Anspruch, verbunden mit der Hoffnung auf eine bessere, eine nicht-kapitalistische, eine gerechte Welt, bauten Kinderläden auf, Gesundheitszentren und alternative Schulen, wir machten subversive Knastarbeit und mobilisierten in Obdachlosenasylen. Und wir beteiligten uns an dem, was man durchaus psychiatrische Revolution nennen kann, als demokratische Psychiatrie in Italien, als Sozialpsychiatrie in Deutschland, als Antipsychiatrie In Großbritannien, als radikale Psychiatrie in den USA, als institutionelle Psychotherapie in Frankreich.
Unser kritisches Wirken bewegte in gesellschaftlichen Teilbereichen durchaus etwas – aber es blieb in der Vorläufigkeit, vielleicht auch in der Bequemlichkeit, oder doch in der Halbherzigkeit stecken. Schon 1975 warf Franco Basaglia, Psychiater wie Fanon und Befreier der Irren in Gorizia und in Triest, seinen intellektuellen, wissenschaftlich wie praktisch tätigen Kolleginnen und Kollegen nicht nur Scheinheiligkeit, sondern Befriedungsverbrechen vor. Ähnlich kritisch äußerten sich Noam Chomsky, der von den »Neuen Mandarinen«, oder Jean-Paul Sartre, der von den »Technikern des praktischen Wissens« sprach. Vor allem Franco Basaglia aber legte die heuchlerischen kritischen Attitüden bloß, die gern klein geredete, aber groß wirkende Loyalität mit den Herrschenden. Mit ihren Anpassungsritualen und Domestizierungsprojekten tragen viele Kollegen, so Basaglia, entscheidend zur Festigung kapitalistischer Gewaltverhältnisse bei. Ihre wohlfeile Anpassung an den gesellschaftlichen Status quo fand ihren praktischen Ausdruck schließlich im gescheiterten »Marsch durch die Institutionen«, der für viele in saturierten Positionen innerhalb des kritisierten Systems und in bürgerlicher Existenz mit grün-liberalem Touch endete. Russel Jacoby, britischer Psychoanalytiker, sprach treffend von der »sozialen Amnesie« in den achtziger Jahren, das revolutionäre Aufbäumen fiel in sich zusammen, seine Ziele waren vergessen – oder sind nie entschlossen und leidenschaftliche verfolgt worden.
Diese Kritik an der linken Gesellschaftskritik konkretisiert und verschärft Franco Basaglia durch seine Rezeption der wissenschaftlichen und praktischen Arbeit seines algerischen Kollegen Frantz Fanon. Der italienische und der algerische Psychiater spitzten ihre umfassende Systemkritik auf das Fundament aller gesellschaftlichen Desaster zu: das kolonialistische Drama. Ihm nähert sich Basaglia im Nachwort des Büchleins »Die negierte Institution oder Die Gemeinschaft der Ausgeschlossenen« an, in dem er ein resignatives Resümee seiner psychiatrischen Tätigkeit zieht: »Die institutionelle Karriere schließt auf allen Ebenen einen jeden von uns in seinen engen Kompetenzkreis ein. (…) Sind wir heute dazu verurteilt, unser Leben und Handeln weiterhin dafür einzusetzen, dass die Institutionen des Systems fortbestehen können? (…) Die Karriere Frantz Fanons zeigt uns einen Weg, den er selbst bis zum Ende konsequent gegangen ist, als er sich der algerischen Revolution anschloss. (…) Er zeigt auf, dass die Arzt-Patient-Beziehung (so wie die Beziehung zwischen dem weißen Mann und dem Schwarzen, folglich zwischen dem Mächtigen und dem Machtlosen) immer eine institutionelle Beziehung war, in der die Rollen vom System festgelegt wurden. Fanons Aktion konnte bestenfalls zu Reformen und zur technischen Perfektion einer Institution führen, die – als Preis für die Abhängigkeitsbestätigung des Kranken – ›Genesung‹ und die soziale Wiedereingliederung in eine Realität versprach, die er als ›zum System erhobene Entmenschlichung‹ bezeichnete. Der therapeutische Akt erwies sich als ein Akt stillschweigender Hinnahme des Systems, und so musste sich Fanon für die Revolution entscheiden (…). Fanon konnte sich für die Revolution entscheiden; aus offenkundigen und objektiven Gründen können wir diesen Weg nicht beschreiten. Für uns heißt es weiterhin, die Widersprüche des System, das uns konditioniert, leben und ertragen; eine Institution verwalten, die wir ablehnen; therapeutische Arbeit leisten, von der wir nicht überzeugt sind, und dagegen angehen, dass unsere Institution (…) für das System weiterhin nur funktional ist; darüber hinaus müssen wir versuchen, den Fanggriffen der immer neuen wissenschaftlichen Ideologie Widerstand zu leisten, weil sie ja doch nur die Widersprüche verschleiert, die wir uns verpflichtet fühlen aufzudecken, auch wenn wir uns durchaus bewusst sind, dass wir uns in eine absurde Wette einlassen, wenn wir für die Existenz von Werten plädieren, während Rechtlosigkeit, Ungleichheit und das tägliche menschliche Sterben gesetzmäßig legitimiert sind.«
Diese Worte sind für mich ein Schlüssel zur Erklärung der offenkundigen Grenzen linker Gesellschaftskritik – und zugleich Aufforderung zum notwendigen Widerstand. Basaglia beklagt, dass wir nicht, wie Fanon, zur Waffe greifen und uns einem Befreiungskampf anschließen können, den es nicht gibt, wenn auch die RAF oder die Roten Brigaden oder etwa das Sozialistisch Patientenkollektiv Heidelberg mit seinem Slogan »aus der Krankheit eine Waffe machen« der irrigen Meinung waren, ihn erfolgreich führen zu können. Zwischen den Zeilen aber, in seinem expliziten Bezug auf Fanon, macht Basaglia deutlich, dass er den revolutionären Kampf eigentlich für nötig hielte. Die Zwänge und Widersprüche versteht er, wie Fanon, als innergesellschaftlichen Abdruck der kolonialistischen Grundlagen unseres Lebens, selbst noch unserer Kämpfe gegen das kapitalistische System.
Für Basaglia hat Fanon die richtigen Schlussfolgerungen aus seinen Analysen und Erfahrungen gezogen: Hauptfeind des Friedens, der Menschenwürde, der armen und unterdrückten und leidenden Menschen weltweit, sind der Kolonialismus und sein ideologischer Kern, die rassistische Hybris der Menschen auf der Nordhalbkugel – also auch unsere. Wir hatten Fanon entdeckt als einen der Unseren, als einen Kämpfer gegen Ungerechtigkeit und Unterdrückung, gegen imperialistische Gewalt, wie sie im Vietnamkrieg fast ein Volk ausgerottet hatte. Aber wir hatten seine zentrale Botschaft nicht gehört oder nicht verstanden: Dass der Kampf gegen den Kapitalismus ein Scheingefecht ist, solange sein Lebenselixier, die kolonialistische Barbarei, theoretisch und praktisch ausgeblendet wird, solange wir nicht begreifen, dass der Kern unseres Daseins seit Jahrhunderten kolonialistisch ist. Wir haben auch die radikale Kritik von Sartre in seinem Vorwort zu »Die Verdammten dieser Erde«, in dem er die neokolonialistische Unterwerfung und Ausbeutung des Südens anprangert, kaum zur Kenntnis genommen. Und die Abwehrmechanismen sind intakt, denn politisch-theoretische Impulse in jüngerer Zeit, etwa von Ulrich Brandt & Markus Wissen, die unsere »imperiale Lebensweise« anprangern und Umdenken und Umhandeln fordern, oder von Stephan Lessenich über die Externalisierung von Wohlstandsmüll und den durchaus gewalttätigen Extraktivismus fremder Rohstoffe als Fundamente unseres angenehmen Lebens, oder die schon vor Jahrzehnten geäußerten Anklagen gegen unseren Neokolonialismus von Eduardo Galeano in „Die offenen Adern Lateinamerikas« finden wenig Resonanz in systemkritischen Debatten und Aktionen. Die deutsche Professorin für Umwelt und Nachhaltigkeit an der Universidad Andina Simón Bolívar in Ecuador, Miriam Lang, spricht vom »grünen Kolonialismus« und trifft damit ins Schwarze unseres Lebens: Klimarettung, grüne Energie, saubere Umwelt in Europa schließen nahtlos an das 500jährige kolonialistische Erbe an, als Neo-Kolonialismus, der weiterhin Menschen und Natur auf der Südhalbkugel systematisch ausbeutet. Unser Leben, unsere satte Existenz waren und bleiben elends- und blutgetränkt.
Anders gesagt: Wir haben Frantz Fanon erst wirklich verstanden, wenn wir begreifen, dass Dekolonisierung hier, in unseren nordwestlichen Gesellschaften, stattfinden muss. Wenn das »gute Leben«, »Buen Vivir«, für alle Menschen unser Ziel ist, müssen wir das in seinem Kern kolonialistische und rassistische System in uns und um uns herum überwinden. Fanons und Basaglias psychiatrische Praxis wie ihre politischen Analysen entspringen der gleichen Erfahrung von Gewalt, Entfremdung und Unterdrückung, Fanons radikale Kritik am Kolonialismus hat dessen Kern freigelegt. Sie sollte uns in Kopf und Seele brennen, dass Befreiung vom kapitalistischen Monster nur gelingen kann, wenn sie den kolonialen Kern der Herrschaftsverhältnisse mitdenkt und bekämpft. Fanon fasst das ganze Drama unserer Lebensverhältnisse in Die Verdammten dieser Erde in einem kurzen Satz zusammen: »Europa ist buchstäblich die Schöpfung der Dritten Welt.« Dieser Satz gilt heute wie vor sechzig, vor fünfhundert Jahren. In Europa, so seine Aufforderung, muss der globale Süden gleichberechtigt und gleichwertig gemacht werden – bei uns, von uns.