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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Neo-Kolonialistische Amnesie

Frantz Fanon ist für die poli­ti­sche Sozia­li­sa­ti­on einer gan­zen Gene­ra­ti­on links­po­li­tisch Akti­ver sehr wich­tig gewe­sen. Sein 100. Geburts­tag ist Anlass genug, den Umgang mit ihm rück­blickend zu über­den­ken. Mei­ne The­se lau­tet: Unse­re Rezep­ti­on sei­nes Lebens­wer­kes war gleich dop­pelt verkürzt.

Erstens wur­de er hin- und her­ge­dreht, mit ana­ly­ti­schen Skal­pel­len seziert, zer­legt in den phi­lo­so­phi­schen, den psych­ia­tri­schen, den anti­ko­lo­nia­li­sti­schen, den anti­ras­si­sti­schen, den akti­vi­sti­schen, den gewalt­ver­herr­li­chen­den Fanon. Wenn man sich in die ein­schlä­gi­gen Tex­te zu Fanon ver­tieft, stellt sich irgend­wann Irri­ta­ti­on ein: In typisch posi­ti­vi­sti­scher Art wird ein Mensch zer­stückelt, der vor allem eines war: ein Kämp­fer um die vom Kolo­nia­lis­mus zer­stör­ten See­len und gegen den kolo­nia­li­sti­schen Moloch selbst.

Wich­ti­ger aber ist die zwei­te Ver­kür­zung: Wir haben Frantz Fanon für unse­re Gesell­schafts­kri­tik ver­ein­nahmt, und zugleich haben wir sei­ne Bot­schaft an uns Bewohner/​innen des glo­ba­len Nor­dens ent­kernt und damit die Glaub­wür­dig­keit unse­res poli­ti­schen Den­kens und Han­delns untergraben.

Ich gehe fünf­zig Jah­re zurück. Wir lin­ken Stu­die­ren­den und spä­ter beruf­lich und prak­tisch-poli­tisch Akti­ven waren, ganz im Sin­ne von Fanon, ent­schlos­sen, der zer­stö­re­ri­schen Dyna­mik der soge­nann­ten Markt­wirt­schaft, die­sem euphe­mi­sti­schen Eti­kett für kapi­ta­li­sti­sche Aus­beu­tung, ent­ge­gen­zu­tre­ten. Kapi­ta­lis­mus­kri­tik, Impe­ria­lis­mus­kri­tik, Wis­sen­schafts­kri­tik waren für uns so selbst­ver­ständ­lich wie die Kri­tik an der prak­ti­schen Arbeit, etwa der Ver­hal­tens­the­ra­pie als tech­no­kra­ti­sche Anpas­sung an die Gesell­schaft, an der system­af­fi­nen Koope­ra­ti­on der aka­de­mi­schen Zunft in Schu­len und Hoch­schu­len, in den Knä­sten, im sozia­len Feld, eigent­lich in allen gesell­schaft­li­chen Berei­chen. Wir ent­wickel­ten Gegen­ent­wür­fe der sozia­len und the­ra­peu­ti­schen Arbeit mit eman­zi­pa­to­ri­schem Anspruch, ver­bun­den mit der Hoff­nung auf eine bes­se­re, eine nicht-kapi­ta­li­sti­sche, eine gerech­te Welt, bau­ten Kin­der­lä­den auf, Gesund­heits­zen­tren und alter­na­ti­ve Schu­len, wir mach­ten sub­ver­si­ve Kna­st­ar­beit und mobi­li­sier­ten in Obdach­lo­sen­asy­len. Und wir betei­lig­ten uns an dem, was man durch­aus psych­ia­tri­sche Revo­lu­ti­on nen­nen kann, als demo­kra­ti­sche Psych­ia­trie in Ita­li­en, als Sozi­al­psych­ia­trie in Deutsch­land, als Anti­psych­ia­trie In Groß­bri­tan­ni­en, als radi­ka­le Psych­ia­trie in den USA, als insti­tu­tio­nel­le Psy­cho­the­ra­pie in Frankreich.

Unser kri­ti­sches Wir­ken beweg­te in gesell­schaft­li­chen Teil­be­rei­chen durch­aus etwas – aber es blieb in der Vor­läu­fig­keit, viel­leicht auch in der Bequem­lich­keit, oder doch in der Halb­her­zig­keit stecken. Schon 1975 warf Fran­co Basa­glia, Psych­ia­ter wie Fanon und Befrei­er der Irren in Gori­zia und in Tri­est, sei­nen intel­lek­tu­el­len, wis­sen­schaft­lich wie prak­tisch täti­gen Kol­le­gin­nen und Kol­le­gen nicht nur Schein­hei­lig­keit, son­dern Befrie­dungs­ver­bre­chen vor. Ähn­lich kri­tisch äußer­ten sich Noam Chom­sky, der von den »Neu­en Man­da­ri­nen«, oder Jean-Paul Sart­re, der von den »Tech­ni­kern des prak­ti­schen Wis­sens« sprach. Vor allem Fran­co Basa­glia aber leg­te die heuch­le­ri­schen kri­ti­schen Atti­tü­den bloß, die gern klein gere­de­te, aber groß wir­ken­de Loya­li­tät mit den Herr­schen­den. Mit ihren Anpas­sungs­ri­tua­len und Dome­sti­zie­rungs­pro­jek­ten tra­gen vie­le Kol­le­gen, so Basa­glia, ent­schei­dend zur Festi­gung kapi­ta­li­sti­scher Gewalt­ver­hält­nis­se bei. Ihre wohl­fei­le Anpas­sung an den gesell­schaft­li­chen Sta­tus quo fand ihren prak­ti­schen Aus­druck schließ­lich im geschei­ter­ten »Marsch durch die Insti­tu­tio­nen«, der für vie­le in satu­rier­ten Posi­tio­nen inner­halb des kri­ti­sier­ten Systems und in bür­ger­li­cher Exi­stenz mit grün-libe­ra­lem Touch ende­te. Rus­sel Jaco­by, bri­ti­scher Psy­cho­ana­ly­ti­ker, sprach tref­fend von der »sozia­len Amne­sie« in den acht­zi­ger Jah­ren, das revo­lu­tio­nä­re Auf­bäu­men fiel in sich zusam­men, sei­ne Zie­le waren ver­ges­sen – oder sind nie ent­schlos­sen und lei­den­schaft­li­che ver­folgt worden.

Die­se Kri­tik an der lin­ken Gesell­schafts­kri­tik kon­kre­ti­siert und ver­schärft Fran­co Basa­glia durch sei­ne Rezep­ti­on der wis­sen­schaft­li­chen und prak­ti­schen Arbeit sei­nes alge­ri­schen Kol­le­gen Frantz Fanon. Der ita­lie­ni­sche und der alge­ri­sche Psych­ia­ter spitz­ten ihre umfas­sen­de System­kri­tik auf das Fun­da­ment aller gesell­schaft­li­chen Desa­ster zu: das kolo­nia­li­sti­sche Dra­ma. Ihm nähert sich Basa­glia im Nach­wort des Büch­leins »Die negier­te Insti­tu­ti­on oder Die Gemein­schaft der Aus­ge­schlos­se­nen« an, in dem er ein resi­gna­ti­ves Resü­mee sei­ner psych­ia­tri­schen Tätig­keit zieht: »Die insti­tu­tio­nel­le Kar­rie­re schließt auf allen Ebe­nen einen jeden von uns in sei­nen engen Kom­pe­tenz­kreis ein. (…) Sind wir heu­te dazu ver­ur­teilt, unser Leben und Han­deln wei­ter­hin dafür ein­zu­set­zen, dass die Insti­tu­tio­nen des Systems fort­be­stehen kön­nen? (…) Die Kar­rie­re Frantz Fanons zeigt uns einen Weg, den er selbst bis zum Ende kon­se­quent gegan­gen ist, als er sich der alge­ri­schen Revo­lu­ti­on anschloss. (…) Er zeigt auf, dass die Arzt-Pati­ent-Bezie­hung (so wie die Bezie­hung zwi­schen dem wei­ßen Mann und dem Schwar­zen, folg­lich zwi­schen dem Mäch­ti­gen und dem Macht­lo­sen) immer eine insti­tu­tio­nel­le Bezie­hung war, in der die Rol­len vom System fest­ge­legt wur­den. Fanons Akti­on konn­te besten­falls zu Refor­men und zur tech­ni­schen Per­fek­ti­on einer Insti­tu­ti­on füh­ren, die – als Preis für die Abhän­gig­keits­be­stä­ti­gung des Kran­ken – ›Gene­sung‹ und die sozia­le Wie­der­ein­glie­de­rung in eine Rea­li­tät ver­sprach, die er als ›zum System erho­be­ne Ent­mensch­li­chung‹ bezeich­ne­te. Der the­ra­peu­ti­sche Akt erwies sich als ein Akt still­schwei­gen­der Hin­nah­me des Systems, und so muss­te sich Fanon für die Revo­lu­ti­on ent­schei­den (…). Fanon konn­te sich für die Revo­lu­ti­on ent­schei­den; aus offen­kun­di­gen und objek­ti­ven Grün­den kön­nen wir die­sen Weg nicht beschrei­ten. Für uns heißt es wei­ter­hin, die Wider­sprü­che des System, das uns kon­di­tio­niert, leben und ertra­gen; eine Insti­tu­ti­on ver­wal­ten, die wir ableh­nen; the­ra­peu­ti­sche Arbeit lei­sten, von der wir nicht über­zeugt sind, und dage­gen ange­hen, dass unse­re Insti­tu­ti­on (…) für das System wei­ter­hin nur funk­tio­nal ist; dar­über hin­aus müs­sen wir ver­su­chen, den Fang­grif­fen der immer neu­en wis­sen­schaft­li­chen Ideo­lo­gie Wider­stand zu lei­sten, weil sie ja doch nur die Wider­sprü­che ver­schlei­ert, die wir uns ver­pflich­tet füh­len auf­zu­decken, auch wenn wir uns durch­aus bewusst sind, dass wir uns in eine absur­de Wet­te ein­las­sen, wenn wir für die Exi­stenz von Wer­ten plä­die­ren, wäh­rend Recht­lo­sig­keit, Ungleich­heit und das täg­li­che mensch­li­che Ster­ben gesetz­mä­ßig legi­ti­miert sind.«

Die­se Wor­te sind für mich ein Schlüs­sel zur Erklä­rung der offen­kun­di­gen Gren­zen lin­ker Gesell­schafts­kri­tik – und zugleich Auf­for­de­rung zum not­wen­di­gen Wider­stand. Basa­glia beklagt, dass wir nicht, wie Fanon, zur Waf­fe grei­fen und uns einem Befrei­ungs­kampf anschlie­ßen kön­nen, den es nicht gibt, wenn auch die RAF oder die Roten Bri­ga­den oder etwa das Sozia­li­stisch Pati­en­ten­kol­lek­tiv Hei­del­berg mit sei­nem Slo­gan »aus der Krank­heit eine Waf­fe machen« der irri­gen Mei­nung waren, ihn erfolg­reich füh­ren zu kön­nen. Zwi­schen den Zei­len aber, in sei­nem expli­zi­ten Bezug auf Fanon, macht Basa­glia deut­lich, dass er den revo­lu­tio­nä­ren Kampf eigent­lich für nötig hiel­te. Die Zwän­ge und Wider­sprü­che ver­steht er, wie Fanon, als inner­ge­sell­schaft­li­chen Abdruck der kolo­nia­li­sti­schen Grund­la­gen unse­res Lebens, selbst noch unse­rer Kämp­fe gegen das kapi­ta­li­sti­sche System.

Für Basa­glia hat Fanon die rich­ti­gen Schluss­fol­ge­run­gen aus sei­nen Ana­ly­sen und Erfah­run­gen gezo­gen: Haupt­feind des Frie­dens, der Men­schen­wür­de, der armen und unter­drück­ten und lei­den­den Men­schen welt­weit, sind der Kolo­nia­lis­mus und sein ideo­lo­gi­scher Kern, die ras­si­sti­sche Hybris der Men­schen auf der Nord­halb­ku­gel – also auch unse­re. Wir hat­ten Fanon ent­deckt als einen der Unse­ren, als einen Kämp­fer gegen Unge­rech­tig­keit und Unter­drückung, gegen impe­ria­li­sti­sche Gewalt, wie sie im Viet­nam­krieg fast ein Volk aus­ge­rot­tet hat­te. Aber wir hat­ten sei­ne zen­tra­le Bot­schaft nicht gehört oder nicht ver­stan­den: Dass der Kampf gegen den Kapi­ta­lis­mus ein Schein­ge­fecht ist, solan­ge sein Lebens­eli­xier, die kolo­nia­li­sti­sche Bar­ba­rei, theo­re­tisch und prak­tisch aus­ge­blen­det wird, solan­ge wir nicht begrei­fen, dass der Kern unse­res Daseins seit Jahr­hun­der­ten kolo­nia­li­stisch ist. Wir haben auch die radi­ka­le Kri­tik von Sart­re in sei­nem Vor­wort zu »Die Ver­damm­ten die­ser Erde«, in dem er die neo­ko­lo­nia­li­sti­sche Unter­wer­fung und Aus­beu­tung des Südens anpran­gert, kaum zur Kennt­nis genom­men. Und die Abwehr­me­cha­nis­men sind intakt, denn poli­tisch-theo­re­ti­sche Impul­se in jün­ge­rer Zeit, etwa von Ulrich Brandt & Mar­kus Wis­sen, die unse­re »impe­ria­le Lebens­wei­se« anpran­gern und Umden­ken und Umhan­deln for­dern, oder von Ste­phan Les­se­nich über die Exter­na­li­sie­rung von Wohl­stands­müll und den durch­aus gewalt­tä­ti­gen Extrak­ti­vis­mus frem­der Roh­stof­fe als Fun­da­men­te unse­res ange­neh­men Lebens, oder die schon vor Jahr­zehn­ten geäu­ßer­ten Ankla­gen gegen unse­ren Neo­ko­lo­nia­lis­mus von Edu­ar­do Gale­a­no in „Die offe­nen Adern Latein­ame­ri­kas« fin­den wenig Reso­nanz in system­kri­ti­schen Debat­ten und Aktio­nen. Die deut­sche Pro­fes­so­rin für Umwelt und Nach­hal­tig­keit an der Uni­ver­si­dad Andi­na Simón Bolí­var in Ecua­dor, Miri­am Lang, spricht vom »grü­nen Kolo­nia­lis­mus« und trifft damit ins Schwar­ze unse­res Lebens: Kli­ma­ret­tung, grü­ne Ener­gie, sau­be­re Umwelt in Euro­pa schlie­ßen naht­los an das 500jährige kolo­nia­li­sti­sche Erbe an, als Neo-Kolo­nia­lis­mus, der wei­ter­hin Men­schen und Natur auf der Süd­halb­ku­gel syste­ma­tisch aus­beu­tet. Unser Leben, unse­re sat­te Exi­stenz waren und blei­ben elends- und blutgetränkt.

Anders gesagt: Wir haben Frantz Fanon erst wirk­lich ver­stan­den, wenn wir begrei­fen, dass Deko­lo­ni­sie­rung hier, in unse­ren nord­west­li­chen Gesell­schaf­ten, statt­fin­den muss. Wenn das »gute Leben«, »Buen Vivir«, für alle Men­schen unser Ziel ist, müs­sen wir das in sei­nem Kern kolo­nia­li­sti­sche und ras­si­sti­sche System in uns und um uns her­um über­win­den. Fanons und Basa­gli­as psych­ia­tri­sche Pra­xis wie ihre poli­ti­schen Ana­ly­sen ent­sprin­gen der glei­chen Erfah­rung von Gewalt, Ent­frem­dung und Unter­drückung, Fanons radi­ka­le Kri­tik am Kolo­nia­lis­mus hat des­sen Kern frei­ge­legt. Sie soll­te uns in Kopf und See­le bren­nen, dass Befrei­ung vom kapi­ta­li­sti­schen Mon­ster nur gelin­gen kann, wenn sie den kolo­nia­len Kern der Herr­schafts­ver­hält­nis­se mit­denkt und bekämpft. Fanon fasst das gan­ze Dra­ma unse­rer Lebens­ver­hält­nis­se in Die Ver­damm­ten die­ser Erde in einem kur­zen Satz zusam­men: »Euro­pa ist buch­stäb­lich die Schöp­fung der Drit­ten Welt.« Die­ser Satz gilt heu­te wie vor sech­zig, vor fünf­hun­dert Jah­ren. In Euro­pa, so sei­ne Auf­for­de­rung, muss der glo­ba­le Süden gleich­be­rech­tigt und gleich­wer­tig gemacht wer­den – bei uns, von uns.