In meiner Jugend, in den Sechzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts, nahm die Zahl der »Gastarbeiter« genannten Fremden zu, was allerdings vor allem für Kinder nicht sogleich ersichtlich war. Denn es gab andere Menschen, die auch irgendwie fremd waren – eingewanderte Sudetendeutsche, Banater Schwaben, andere »Volksdeutsche« Genannte, deren Sprache nicht ortsüblich klang, auch einige Ungarn aus 1956. Aber man lernte bald zu unterscheiden: Die »Jugos«, die damals noch ausschließlich »Gastarbeiter« genannt wurden, waren zunächst vor allem alleinstehende Männer, von denen man annahm, dass sie nur vorübergehend ins Land kamen, damit die Gesellschaft mit dem damaligen Arbeitskräftemangel zurande kam. Zudem war Handarbeit, ungelernte Hilfsarbeit, in einem vergleichsweise ungeheuren Ausmaß noch gefragt. Bald bekamen die »»Jugos« den abwertenden Namen »Tschusch«, eine umgangssprachliche Bezeichnung für vom Balkan Abstammende. Ein weiterer typischer Begriff hielt sich ebenfalls lange: »Jugo-Koffer« – für Plastik-Tüten bzw., wie das in Österreich hieß: »Nylon-Sackerl«. Und als der Begriff »Gastarbeiter« bereits verschwunden war, gab es immer noch die unfallträchtige »Gastarbeiterroute« als Straße quer durch mein Bundesland Steiermark.
Arbeit und Bezahlung waren in der Regel schlechter als für Einheimische, die Unterkünfte oft desolat und überteuert, jedenfalls eng und häufig überfüllt, und die Isolierung der »Gastarbeiter« in der Öffentlichkeit auch aufgrund der fehlenden oder mangelhaften Sprachkenntnisse augenscheinlich. Bahnhöfe waren ein beliebter und charakteristischer Treffpunkt für sie. Mit ihrer zahlenmäßigen Zunahme und dem Konjunktureinbruch zu Beginn der Siebzigerjahre nahmen Ressentiments und abfällige Bemerkungen zu. Im Jahr 1973 erschienen plötzlich und großflächig über das ganze Land verteilt Plakate in schwarz-weiß, auf denen ein großer Mann mit korrekter, aber etwas abgetragen wirkender Kleidung und Schiebermütze auf einen kleinen Buben in kurzer Hose freundlich runterschaut und dieser fragend zu ihm auf: »I haaß Kolaric / du haaßt Kolaric / Warum sog’s / zu dir Tschusch?«
Nun stammte diese Initiative nicht von einer Partei oder besonderen Menschenfreunden oder gar Vorläufern von »NGOs«, die es in heute staatsalimentierter Form noch nicht gab, sondern von der österreichischen Werbewirtschaft, die für ein besseres Image der damals als »Reklame« etwas abwertend bezeichneten Werbung sorgen wollte. Das konkrete Motiv lieferte die US-Agentur Lintas, die zum Unilever-Konzern gehörte. Nichtsdestotrotz wirkte der Spruch noch jahrelang gegen oberflächliches Abwerten von Menschen anderer Herkunft.
Eine Generation später zeigte ich meinen verwunderten Kindern ein Foto aus dem Spiegel vom 10. September 1964, auf dem der portugiesische Gastarbeiter Armando Rodrigues de Sá umringt von Wichtigmännern zu sehen ist, als er als millionster Gastarbeiter bei seiner Ankunft von der Bundesvereinigung deutscher Arbeitgeber ein Moped als Geschenk übernimmt. Kommentiert wurde das Foto im klassischem Spiegel-Slang: »Von den Ausländern können die Deutschen gar nicht genug kriegen.« So weit so historisch. Soweit aber auch ökonomisch. Denn es war der Drang des Kapitals nach Verwertung und Profit, der Arbeitskräfte aus fremden Ländern anlockte, anwarb und einlud – wobei die damit verbundenen gesellschaftlichen Folgen von der Bevölkerung und den staatlichen Institutionen zu bewältigen waren.
Dies verstärkte sich bei der zweiten Welle. Im Verlauf der Neunzigerjahre wurden die »vier Grundfreiheiten« der Europäischen Union vertraglich durchgesetzt (freier Warenverkehr, Personenfreizügigkeit, Dienstleistungsfreiheit, freier Kapital- und Zahlungsverkehr). Diese bedeuten nun auch grenzenlose Freiheit für die Mobilität des Kapitals innerhalb der EU und grenzenlose »Freiheit« der EU-Bürgerinnen und -Bürger, diesem zu folgen. In den EU-Kernländern folgte dann weitere Zuwanderung, während an der Peripherie die in den Kernländern nie thematisierte Abwanderung die Folge war: Bulgarien, Rumänien, Ex-Jugoslawien, auch baltische Länder usw. wurden seither erheblich entvölkert, insbesondere von jungen und qualifizierten Arbeitskräften, ungeachtet der tagtäglich als segensreich propagierten »EU-Osterweiterung«. Die Lösung der damit verbundenen gesellschaftlichen Probleme wurde den Staaten sowie den Anstrengungen von Bürgerinnen und Bürgern zugewiesen.
Nicht oder kaum thematisiert wurde, dass die Zuwanderung aus anderen EU-Ländern den Druck auf die Löhne und Gehälter aller Lohnabhängigen in den ökonomisch besser entwickelten Ländern sukzessive erhöhte, so dass schließlich die Löhne und Gehälter stagnierten und manche bis heute auch sanken. Mit der Konsequenz, dass mehr und mehr Menschen sich von dieser Politik abwandten und vielfach die Zuwanderung misstrauisch verfolgten. Ebenso förderte der freie Waren- und Kapitalverkehr den Druck auf ökonomisch schwächere Gesellschaften innerhalb der EU und dortige weniger profitable Betriebe, so dass viele Unternehmen in Osteuropa, die »in Ostblock-Zeiten« unter anderem Roma und Sinti Anstellungen boten, geschlossen wurden. Deren Belegschaften und Nachkommen findet man seit vielen Jahren teilweise bettelnd in Mittel- und Nordeuropa und häufig als Sündenböcke von falschen Propheten.
Sage nun niemand, das seien Binsenweisheiten, die allesamt längst bekannt seien. Wäre dem nämlich so, müssten sich dann nicht die Kämpferinnen und Kämpfer gegen »Fremdenfeindlichkeit« auch mit den ökonomischen Entwicklungen und Ursachen befassen? Und dazu beitragen, dass Konzepte gegen die herrschende Politik entwickelt werden? Und sich nicht nur gegen die politischen Profiteure dieser Politik richten, die lautstarken Hetzer mit den altbekannten Rezepten?
Dies trifft noch stärker auf die Einwanderung jener Menschen zu, die sich aus armen Ländern des Südens aufmachen, um im »reichen Norden« ihr Glück zu finden. In den Sechziger- und Siebzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts gerieten die als »Dritte Welt« bezeichneten Länder stärker in den Blick der Europäer – weil es viele Einwanderer oder Flüchtlinge aus diesen Gebieten gab, aber in erster Linie, weil revolutionäre und Unabhängigkeitsbewegungen die Sicht auf die soziale Lage dort ebenso freilegten, wie die mannigfaltigen Ursachen durch den Kolonialismus. Angehörige des »reichen Nordens«, die zu einer positiven Entwicklung beitragen wollten, teilten sich im Wesentlichen in zwei Gruppen: Unterstützer der Unabhängigkeitsbestrebungen und Befreiungskämpfe einerseits und – vor allem aus christlichen Motiven gespeiste – Verfechter und Betreiber von Entwicklungshilfe andererseits, letztere oftmals nicht staatlich organisiert, sondern als Privatinitiative von Einzelpersonen oder Gruppen.
Viele damals Wohlmeinende, ob revolutionär oder karitativ gesinnt, sehen sich heute enttäuscht – einerseits durch viele Entwicklungen in den offiziell unabhängig gewordenen Ländern des Südens, deren Revolutionen und Befreiungsbewegungen gescheitert scheinen; andererseits hat sich »Entwicklungshilfe« vielfach desavouiert, weil sie – staatlich und über internationale Organisationen wie Weltbank und WTO organisiert – neokoloniale Machtverhältnisse gefördert und die soziale Entwicklung verschlechtert oder nicht gebessert haben. Sowohl das weitgehende Scheitern der Befreiung vom Kolonialismus als auch die neokoloniale Politik führten dazu, dass viele Menschen in den betroffenen Ländern ihre Zuversicht verloren, eine individuelle Lösung suchten und sich auf den Weg in Richtung Norden machten. Dazu animierten letztlich auch Fortschritte bei den Reisemöglichkeiten. Wobei es in der Regel nicht die Ärmsten sind, die dies schaffen, sondern die Klügsten, Gewieftesten oder finanziell für den dornenreichen Weg einigermaßen gut Ausgestatteten.
Hinzu kommen noch zwei zusätzliche Phänomene, dessen erstes bereits beim Zusammenbruch der sowjetsozialistischen Länder Osteuropas eine Rolle gespielt hatte. Die Macht der Bilder der weltweiten Kulturindustrie fördert unrealistische Vorstellungen und Illusionen vom Leben in den verklärten »reichen Ländern«. Zweitens erhielten durch die Niederlagen der antiimperialistischen Kämpfe und Staatsmodelle reaktionäre Bewegungen in den armen Ländern Oberwasser, die fundamentalistisch-religiös, vorzugsweise islamisch dominiert sind. Dieses religiöse Sendungsbewusstsein eines Teils der Geflüchteten, ebenso wie manchmal noch archaische Familienstrukturen, erreichten nun die zunehmend säkularer werdenden Gesellschaften des Nordens und führten zu zusätzlichen Kollisionen der Bevölkerung mit den auf sie treffenden Einwanderern.
Eine kreative und progressive Politik der Migration gegenüber müsste all diese Umstände berücksichtigen. Menschlicher Umgang mit den hier mit oder ohne Staatsbürgerschaft Lebenden – gut und schön. Aber ohne entschiedene Ablehnung der Verfolgung von Kapitalinteressen und gezielte Versuche, diese einzuschränken, werden vor allem die unteren Klassen nicht dafür zu gewinnen sein. Und ohne eine solche Perspektive für die Mehrheit der Bevölkerung sind alle Klagen über unmenschliche Gesetze oder menschenfeindlichen Umgang mit Fremden nicht sehr aussichtsreich, manchmal auch kontraproduktiv. Das beginnt schon damit, dass das Anwerben von Arbeitskräften aus armen Ländern (neuerdings für Pflege und dergleichen), statt hier Lebende auszubilden und besser zu bezahlen, auch für die Herkunftsländer schädlich ist. Und billige Parolen von »no borders«, keine Grenzen, sind der sicherste Weg, sämtliche erkämpften sozialen Errungenschaften auszuhöhlen. Eine Welt ohne Grenzen ist wohl wünschbar; aber unter der Herrschaft des Monopolkapitals erfüllte sie lediglich dessen Träume.