Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

Ökonomie und Fremdenfeindlichkeit

In mei­ner Jugend, in den Sech­zi­ger­jah­ren des ver­gan­ge­nen Jahr­hun­derts, nahm die Zahl der »Gast­ar­bei­ter« genann­ten Frem­den zu, was aller­dings vor allem für Kin­der nicht sogleich ersicht­lich war. Denn es gab ande­re Men­schen, die auch irgend­wie fremd waren – ein­ge­wan­der­te Sude­ten­deut­sche, Bana­ter Schwa­ben, ande­re »Volks­deut­sche« Genann­te, deren Spra­che nicht orts­üb­lich klang, auch eini­ge Ungarn aus 1956. Aber man lern­te bald zu unter­schei­den: Die »Jugos«, die damals noch aus­schließ­lich »Gast­ar­bei­ter« genannt wur­den, waren zunächst vor allem allein­ste­hen­de Män­ner, von denen man annahm, dass sie nur vor­über­ge­hend ins Land kamen, damit die Gesell­schaft mit dem dama­li­gen Arbeits­kräf­te­man­gel zuran­de kam. Zudem war Hand­ar­beit, unge­lern­te Hilfs­ar­beit, in einem ver­gleichs­wei­se unge­heu­ren Aus­maß noch gefragt. Bald beka­men die »»Jugos« den abwer­ten­den Namen »Tschusch«, eine umgangs­sprach­li­che Bezeich­nung für vom Bal­kan Abstam­men­de. Ein wei­te­rer typi­scher Begriff hielt sich eben­falls lan­ge: »Jugo-Kof­fer« – für Pla­stik-Tüten bzw., wie das in Öster­reich hieß: »Nylon-Sackerl«. Und als der Begriff »Gast­ar­bei­ter« bereits ver­schwun­den war, gab es immer noch die unfall­träch­ti­ge »Gast­ar­bei­ter­rou­te« als Stra­ße quer durch mein Bun­des­land Steiermark.

Arbeit und Bezah­lung waren in der Regel schlech­ter als für Ein­hei­mi­sche, die Unter­künf­te oft deso­lat und über­teu­ert, jeden­falls eng und häu­fig über­füllt, und die Iso­lie­rung der »Gast­ar­bei­ter« in der Öffent­lich­keit auch auf­grund der feh­len­den oder man­gel­haf­ten Sprach­kennt­nis­se augen­schein­lich. Bahn­hö­fe waren ein belieb­ter und cha­rak­te­ri­sti­scher Treff­punkt für sie. Mit ihrer zah­len­mä­ßi­gen Zunah­me und dem Kon­junk­tur­ein­bruch zu Beginn der Sieb­zi­ger­jah­re nah­men Res­sen­ti­ments und abfäl­li­ge Bemer­kun­gen zu. Im Jahr 1973 erschie­nen plötz­lich und groß­flä­chig über das gan­ze Land ver­teilt Pla­ka­te in schwarz-weiß, auf denen ein gro­ßer Mann mit kor­rek­ter, aber etwas abge­tra­gen wir­ken­der Klei­dung und Schie­ber­müt­ze auf einen klei­nen Buben in kur­zer Hose freund­lich run­ter­schaut und die­ser fra­gend zu ihm auf: »I haaß Kola­ric /​ du haaßt Kola­ric /​ War­um sog’s /​ zu dir Tschusch?«

Nun stamm­te die­se Initia­ti­ve nicht von einer Par­tei oder beson­de­ren Men­schen­freun­den oder gar Vor­läu­fern von »NGOs«, die es in heu­te staats­a­li­men­tier­ter Form noch nicht gab, son­dern von der öster­rei­chi­schen Wer­be­wirt­schaft, die für ein bes­se­res Image der damals als »Rekla­me« etwas abwer­tend bezeich­ne­ten Wer­bung sor­gen woll­te. Das kon­kre­te Motiv lie­fer­te die US-Agen­tur Lin­tas, die zum Uni­le­ver-Kon­zern gehör­te. Nichts­de­sto­trotz wirk­te der Spruch noch jah­re­lang gegen ober­fläch­li­ches Abwer­ten von Men­schen ande­rer Herkunft.

Eine Gene­ra­ti­on spä­ter zeig­te ich mei­nen ver­wun­der­ten Kin­dern ein Foto aus dem Spie­gel vom 10. Sep­tem­ber 1964, auf dem der por­tu­gie­si­sche Gast­ar­bei­ter Arman­do Rodri­gues de Sá umringt von Wich­tig­män­nern zu sehen ist, als er als mil­li­on­ster Gast­ar­bei­ter bei sei­ner Ankunft von der Bun­des­ver­ei­ni­gung deut­scher Arbeit­ge­ber ein Moped als Geschenk über­nimmt. Kom­men­tiert wur­de das Foto im klas­si­schem Spie­gel-Slang: »Von den Aus­län­dern kön­nen die Deut­schen gar nicht genug krie­gen.« So weit so histo­risch. Soweit aber auch öko­no­misch. Denn es war der Drang des Kapi­tals nach Ver­wer­tung und Pro­fit, der Arbeits­kräf­te aus frem­den Län­dern anlock­te, anwarb und ein­lud – wobei die damit ver­bun­de­nen gesell­schaft­li­chen Fol­gen von der Bevöl­ke­rung und den staat­li­chen Insti­tu­tio­nen zu bewäl­ti­gen waren.

Dies ver­stärk­te sich bei der zwei­ten Wel­le. Im Ver­lauf der Neun­zi­ger­jah­re wur­den die »vier Grund­frei­hei­ten« der Euro­päi­schen Uni­on ver­trag­lich durch­ge­setzt (frei­er Waren­ver­kehr, Per­so­nen­frei­zü­gig­keit, Dienst­lei­stungs­frei­heit, frei­er Kapi­tal- und Zah­lungs­ver­kehr). Die­se bedeu­ten nun auch gren­zen­lo­se Frei­heit für die Mobi­li­tät des Kapi­tals inner­halb der EU und gren­zen­lo­se »Frei­heit« der EU-Bür­ge­rin­nen und -Bür­ger, die­sem zu fol­gen. In den EU-Kern­län­dern folg­te dann wei­te­re Zuwan­de­rung, wäh­rend an der Peri­phe­rie die in den Kern­län­dern nie the­ma­ti­sier­te Abwan­de­rung die Fol­ge war: Bul­ga­ri­en, Rumä­ni­en, Ex-Jugo­sla­wi­en, auch bal­ti­sche Län­der usw. wur­den seit­her erheb­lich ent­völ­kert, ins­be­son­de­re von jun­gen und qua­li­fi­zier­ten Arbeits­kräf­ten, unge­ach­tet der tag­täg­lich als segens­reich pro­pa­gier­ten »EU-Ost­erwei­te­rung«. Die Lösung der damit ver­bun­de­nen gesell­schaft­li­chen Pro­ble­me wur­de den Staa­ten sowie den Anstren­gun­gen von Bür­ge­rin­nen und Bür­gern zugewiesen.

Nicht oder kaum the­ma­ti­siert wur­de, dass die Zuwan­de­rung aus ande­ren EU-Län­dern den Druck auf die Löh­ne und Gehäl­ter aller Lohn­ab­hän­gi­gen in den öko­no­misch bes­ser ent­wickel­ten Län­dern suk­zes­si­ve erhöh­te, so dass schließ­lich die Löh­ne und Gehäl­ter sta­gnier­ten und man­che bis heu­te auch san­ken. Mit der Kon­se­quenz, dass mehr und mehr Men­schen sich von die­ser Poli­tik abwand­ten und viel­fach die Zuwan­de­rung miss­trau­isch ver­folg­ten. Eben­so för­der­te der freie Waren- und Kapi­tal­ver­kehr den Druck auf öko­no­misch schwä­che­re Gesell­schaf­ten inner­halb der EU und dor­ti­ge weni­ger pro­fi­ta­ble Betrie­be, so dass vie­le Unter­neh­men in Ost­eu­ro­pa, die »in Ost­block-Zei­ten« unter ande­rem Roma und Sin­ti Anstel­lun­gen boten, geschlos­sen wur­den. Deren Beleg­schaf­ten und Nach­kom­men fin­det man seit vie­len Jah­ren teil­wei­se bet­telnd in Mit­tel- und Nord­eu­ro­pa und häu­fig als Sün­den­böcke von fal­schen Propheten.

Sage nun nie­mand, das sei­en Bin­sen­weis­hei­ten, die alle­samt längst bekannt sei­en. Wäre dem näm­lich so, müss­ten sich dann nicht die Kämp­fe­rin­nen und Kämp­fer gegen »Frem­den­feind­lich­keit« auch mit den öko­no­mi­schen Ent­wick­lun­gen und Ursa­chen befas­sen? Und dazu bei­tra­gen, dass Kon­zep­te gegen die herr­schen­de Poli­tik ent­wickelt wer­den? Und sich nicht nur gegen die poli­ti­schen Pro­fi­teu­re die­ser Poli­tik rich­ten, die laut­star­ken Het­zer mit den alt­be­kann­ten Rezepten?

Dies trifft noch stär­ker auf die Ein­wan­de­rung jener Men­schen zu, die sich aus armen Län­dern des Südens auf­ma­chen, um im »rei­chen Nor­den« ihr Glück zu fin­den. In den Sech­zi­ger- und Sieb­zi­ger­jah­ren des ver­gan­ge­nen Jahr­hun­derts gerie­ten die als »Drit­te Welt« bezeich­ne­ten Län­der stär­ker in den Blick der Euro­pä­er – weil es vie­le Ein­wan­de­rer oder Flücht­lin­ge aus die­sen Gebie­ten gab, aber in erster Linie, weil revo­lu­tio­nä­re und Unab­hän­gig­keits­be­we­gun­gen die Sicht auf die sozia­le Lage dort eben­so frei­leg­ten, wie die man­nig­fal­ti­gen Ursa­chen durch den Kolo­nia­lis­mus. Ange­hö­ri­ge des »rei­chen Nor­dens«, die zu einer posi­ti­ven Ent­wick­lung bei­tra­gen woll­ten, teil­ten sich im Wesent­li­chen in zwei Grup­pen: Unter­stüt­zer der Unab­hän­gig­keits­be­stre­bun­gen und Befrei­ungs­kämp­fe einer­seits und – vor allem aus christ­li­chen Moti­ven gespei­ste – Ver­fech­ter und Betrei­ber von Ent­wick­lungs­hil­fe ande­rer­seits, letz­te­re oft­mals nicht staat­lich orga­ni­siert, son­dern als Pri­vat­in­itia­ti­ve von Ein­zel­per­so­nen oder Gruppen.

Vie­le damals Wohl­mei­nen­de, ob revo­lu­tio­när oder kari­ta­tiv gesinnt, sehen sich heu­te ent­täuscht – einer­seits durch vie­le Ent­wick­lun­gen in den offi­zi­ell unab­hän­gig gewor­de­nen Län­dern des Südens, deren Revo­lu­tio­nen und Befrei­ungs­be­we­gun­gen geschei­tert schei­nen; ande­rer­seits hat sich »Ent­wick­lungs­hil­fe« viel­fach des­avou­iert, weil sie – staat­lich und über inter­na­tio­na­le Orga­ni­sa­tio­nen wie Welt­bank und WTO orga­ni­siert – neo­ko­lo­nia­le Macht­ver­hält­nis­se geför­dert und die sozia­le Ent­wick­lung ver­schlech­tert oder nicht gebes­sert haben. Sowohl das weit­ge­hen­de Schei­tern der Befrei­ung vom Kolo­nia­lis­mus als auch die neo­ko­lo­nia­le Poli­tik führ­ten dazu, dass vie­le Men­schen in den betrof­fe­nen Län­dern ihre Zuver­sicht ver­lo­ren, eine indi­vi­du­el­le Lösung such­ten und sich auf den Weg in Rich­tung Nor­den mach­ten. Dazu ani­mier­ten letzt­lich auch Fort­schrit­te bei den Rei­se­mög­lich­kei­ten. Wobei es in der Regel nicht die Ärm­sten sind, die dies schaf­fen, son­dern die Klüg­sten, Gewief­te­sten oder finan­zi­ell für den dor­nen­rei­chen Weg eini­ger­ma­ßen gut Ausgestatteten.

Hin­zu kom­men noch zwei zusätz­li­che Phä­no­me­ne, des­sen erstes bereits beim Zusam­men­bruch der sowjet­so­zia­li­sti­schen Län­der Ost­eu­ro­pas eine Rol­le gespielt hat­te. Die Macht der Bil­der der welt­wei­ten Kul­tur­in­du­strie för­dert unrea­li­sti­sche Vor­stel­lun­gen und Illu­sio­nen vom Leben in den ver­klär­ten »rei­chen Län­dern«. Zwei­tens erhiel­ten durch die Nie­der­la­gen der anti­im­pe­ria­li­sti­schen Kämp­fe und Staats­mo­del­le reak­tio­nä­re Bewe­gun­gen in den armen Län­dern Ober­was­ser, die fun­da­men­ta­li­stisch-reli­gi­ös, vor­zugs­wei­se isla­misch domi­niert sind. Die­ses reli­giö­se Sen­dungs­be­wusst­sein eines Teils der Geflüch­te­ten, eben­so wie manch­mal noch archai­sche Fami­li­en­struk­tu­ren, erreich­ten nun die zuneh­mend säku­la­rer wer­den­den Gesell­schaf­ten des Nor­dens und führ­ten zu zusätz­li­chen Kol­li­sio­nen der Bevöl­ke­rung mit den auf sie tref­fen­den Einwanderern.

Eine krea­ti­ve und pro­gres­si­ve Poli­tik der Migra­ti­on gegen­über müss­te all die­se Umstän­de berück­sich­ti­gen. Mensch­li­cher Umgang mit den hier mit oder ohne Staats­bür­ger­schaft Leben­den – gut und schön. Aber ohne ent­schie­de­ne Ableh­nung der Ver­fol­gung von Kapi­tal­in­ter­es­sen und geziel­te Ver­su­che, die­se ein­zu­schrän­ken, wer­den vor allem die unte­ren Klas­sen nicht dafür zu gewin­nen sein. Und ohne eine sol­che Per­spek­ti­ve für die Mehr­heit der Bevöl­ke­rung sind alle Kla­gen über unmensch­li­che Geset­ze oder men­schen­feind­li­chen Umgang mit Frem­den nicht sehr aus­sichts­reich, manch­mal auch kon­tra­pro­duk­tiv. Das beginnt schon damit, dass das Anwer­ben von Arbeits­kräf­ten aus armen Län­dern (neu­er­dings für Pfle­ge und der­glei­chen), statt hier Leben­de aus­zu­bil­den und bes­ser zu bezah­len, auch für die Her­kunfts­län­der schäd­lich ist. Und bil­li­ge Paro­len von »no bor­ders«, kei­ne Gren­zen, sind der sicher­ste Weg, sämt­li­che erkämpf­ten sozia­len Errun­gen­schaf­ten aus­zu­höh­len. Eine Welt ohne Gren­zen ist wohl wünsch­bar; aber unter der Herr­schaft des Mono­pol­ka­pi­tals erfüll­te sie ledig­lich des­sen Träume.

Ausgabe 15.16/2025