Das mit allen Mitteln der Propaganda generierte Zerrbild vom »Feind im Osten« lässt hierzulande zum einen eine nachgerade groteske Kriegshysterie grassieren, während zugleich immer drängender der Ruf nach einem Wiederaufleben des 2011 ausgesetzten militärischen Zwangsdienstes in Gestalt der allgemeinen Wehrpflicht – diesmal jedoch sowohl für Männer als auch für Frauen – erschallt. Zum anderen feiern an der Heimatfront in schöner Regelmäßigkeit die abgestanden-totalitären Parolen einer vorgeblich dringend erforderlichen »allgemeinen Dienstpflicht«, einem »verpflichtenden sozialen Jahr« oder einem »Gesellschaftsjahr« für die Gesamtheit aller Bürger/innen fröhliche Urständ. Solcherart Zwangsarbeit wurde in den glorreichen Zeiten des »1000jährigen Reiches« als »Reichsarbeitsdienst« verbrämt. Heutzutage nun salbadert Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) in herzergreifender Manier von seiner Überzeugung, »dass eine soziale Pflichtzeit eine verbindende Erfahrung in einer Gesellschaft der verschiedenen Lebenswege ermöglicht«. Nota bene: Jene Politphrase pseudo-altruistischer Fürsorglichkeit entfleuchte eben jenem »feinen Herrn«, der unter Kanzler Gerhard Schröder als Chef des Bundeskanzleramtes und Leiter der exklusiven sogenannten »Präsidentenrunde« diesen Geheimzirkel am 29. Oktober 2002 eiskalt und menschenverachtend dazu bewogen hatte, den Menschen Murat Kurnaz fünf Jahre seines Lebens im US-amerikanischen Folterlager Guantanamo verrotten zu lassen.
Dabei spukt die sozialromantische Idee, dass es doch wohl nicht schaden könne, der – in der Tat unentbehrlichen – gesellschaftlichen Solidarität mittels Zwangs ein wenig nachzuhelfen, seit langen Jahren schon in allzu vielen Köpfen umher. So auch wenig überraschend in der CDU: In deren Reihen plädierten u. a. der damalige Bundesverteidigungsminister Franz Josef Jung, die zeitweilige CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer sowie der stellvertretende CDU-Vorsitzende Carsten Linnemann für die Einführung eines verpflichtenden Gesellschaftsjahres, auch der mittlerweile zum Bundeskanzler avancierte Friedrich Merz unterstützt ein solches Unterfangen. Darüber hinaus wurde auf dem Bundesparteitag im September 2022 ein entsprechender Grundsatzbeschluss gefasst. Prominente Werbung für den Arbeitsdienstgedanken machen zudem die Juristin, Soziologin und Publizistin Sibylle Tönnies sowie der Populärphilosoph Richard David Precht. Den diesbezüglichen Höhepunkt der Entblödung dürfte aktuell die Forderung des Präsidenten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, darstellen, der zum Besten gab: »Wir sollten ein verpflichtendes soziales Jahr für alle Rentnerinnen und Rentner einführen,« Was zu einem derartigen Unfug zu sagen ist, brachte der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) auf den Punkt: »Wir warnen davor, mit solchen Vorschlägen Generationen gegeneinander auszuspielen. Die Frage, wer tatsächlich auf wessen Kosten lebt, ist in allererster Linie eine Frage zwischen Reich und Arm, also zwischen Kapital und Arbeit, und nicht etwa zwischen den Generationen.« Genauso ist es!
Hinter all dem rhetorischen Getrommel steckt die populistische Forderung, eine neuartige Verpflichtung zu kreieren, der die Betroffenen je nach individueller Präferenz wahlweise in allen möglichen gesellschaftlich nützlichen Bereichen nachkommen könnten, obschon unter Wehr- und Zivildienstexperten unumstritten ist, dass sich eine allgemeine Dienstpflicht weder rechtlich noch finanziell praktisch realisieren lässt.
So gerät üblicherweise die Größenordnung eines »sozialen Pflichtjahres« völlig aus dem Blick. Denn ein durchschnittlicher Geburtsjahrgang umfasst immerhin rund 800.000 Männer und Frauen. Ein Teil davon entfiele auf die Bundeswehr, bei der unter äußerst optimistisch kalkulierten Prämissen möglicherweise in einigen Jahren maximal 200.000 junge Erwachsene pro Jahr ihren militärischen Dienst an der Waffe ableisten könnten. Übrig blieben dann pro Jahr bis annähernd 600.000 junge Erwachsene, die auf »Dienstpflichtplätzen« im sozialen Sektor unterzubringen wären. Das erscheint bereits unter Organisationsaspekten kaum als realistisch, vollends utopisch indes wären die Kosten. Als absolutes Minimum für die Vergütung der zukünftig Zwangsdienstverpflichteten zugrunde zu legen wäre zumindest der gesetzliche Mindestlohn, auch wenn eine solche Regelung nicht eben als Ausdruck überbordender gesellschaftlicher Wertschätzung gelten könnte. Dieser liegt momentan bei 12,82 Euro pro Stunde und steigt in den kommenden Jahren auf 14,60 Euro. Aus letzterem resultiert, geht man von einem Arbeitsjahr aus, welches 220 Acht-Stunden-Tage umfasst, ein Lohnkostenaufwand von rund 25.700 Euro pro Person, was für die gesamte Jahrgangskohorte wiederum einen Budgetansatz von etwa 20,6 Mrd. Euro bedeutet – ohne Berücksichtigung der an die Sozialversicherungen abzuführenden Arbeitgeberbeiträge (in dieser Rechnung circa 5 Mrd. Euro). Zusätzlich anfallen würden noch Regiekosten und Subventionen für die bereitzustellenden Dienstleistungsplätze. Ein soziales Pflichtjahr für jedermann und -frau würde demnach weit über 30 Mrd. Euro jährlich kosten – wohlgemerkt zusätzlich zu den momentan ohnehin schon exorbitanten Haushaltsansätzen für die aktuelle Freiwilligentruppe und deren Aufrüstung gemäß dem von »Fritze Tünkram« ausgegebenen Motto »whatever it takes«.
Freilich sind nicht derartige budgetäre »Peanuts« maßgeblich für die Beurteilung einer allgemeinen Dienstpflicht, sondern die althergebrachte Maxime des Königsberger Philosophen Immanuel Kant, der einst gefordert hatte: »Das Recht muss nie der Politik, wohl aber jederzeit die Politik dem Recht gehorchen.« Hieraus folgt zwingend, dass letztlich Recht und Gesetz den Ausschlag dafür geben, ob eine allgemeine Dienstpflicht überhaupt eingeführt werden kann – auch wenn eine erkleckliche Anzahl politischer Irrlichter der alten Sponti-Parole »legal-illegal-scheißegal« nachhängt und dabei sogar die Zustimmung einer knappen Mehrheit der Bürger/innen dieses Landes findet.
Rechtlich zentrale Bedeutung für die Problematik besitzt der Artikel 12 des Grundgesetzes. Dieser garantiert allen Deutschen »das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen«. Die Freiheit von Zwangsarbeit stellt mithin ein verfassungsrechtlich geschütztes, fundamentales Menschenrecht dar. Wie das Bundesverfassungsgericht dargelegt hat, wollten die Urheber des Grundgesetzes insbesondere die im Nationalsozialismus angewandten Formen des staatlichen Arbeitszwangs (»Reicharbeitsdienst«), der Jugenddienstpflicht (»Hitlerjugend«) und der Zwangsarbeit mit ihrer Herabwürdigung der menschlichen Persönlichkeit ein für allemal ausschließen. Nicht zuletzt diese höchstrichterliche Rechtsauslegung stellt unmissverständlich klar, dass jeder Forderung nach einer allgemeinen Dienstpflicht in Deutschland eine totalitäre Tendenz innewohnt. Erinnert sei in diesem Kontext an den Umstand, dass zuletzt 1935 von der NS-Diktatur ein »Gesetz der Allgemeinen Dienstpflicht für männliche und weibliche Jugendliche« verabschiedet wurde. Konzipiert hatte diesen der Erfinder des Reichsarbeitsdienstes, Konstantin Hierl, als »soziale Schule der Nation« – ähnlich nun also der aktuell amtierende Bundespräsident
Ein zweiter Teil des Beitrags erscheint im nächsten Heft.