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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Pflichtdiensthalluzinationen (1)

Das mit allen Mit­teln der Pro­pa­gan­da gene­rier­te Zerr­bild vom »Feind im Osten« lässt hier­zu­lan­de zum einen eine nach­ge­ra­de gro­tes­ke Kriegs­hy­ste­rie gras­sie­ren, wäh­rend zugleich immer drän­gen­der der Ruf nach einem Wie­der­auf­le­ben des 2011 aus­ge­setz­ten mili­tä­ri­schen Zwangs­dien­stes in Gestalt der all­ge­mei­nen Wehr­pflicht – dies­mal jedoch sowohl für Män­ner als auch für Frau­en – erschallt. Zum ande­ren fei­ern an der Hei­mat­front in schö­ner Regel­mä­ßig­keit die abge­stan­den-tota­li­tä­ren Paro­len einer vor­geb­lich drin­gend erfor­der­li­chen »all­ge­mei­nen Dienst­pflicht«, einem »ver­pflich­ten­den sozia­len Jahr« oder einem »Gesell­schafts­jahr« für die Gesamt­heit aller Bürger/​innen fröh­li­che Urständ. Sol­cher­art Zwangs­ar­beit wur­de in den glor­rei­chen Zei­ten des »1000jährigen Rei­ches« als »Reichs­ar­beits­dienst« ver­brämt. Heut­zu­ta­ge nun sal­ba­dert Bun­des­prä­si­dent Frank-Wal­ter Stein­mei­er (SPD) in herz­er­grei­fen­der Manier von sei­ner Über­zeu­gung, »dass eine sozia­le Pflicht­zeit eine ver­bin­den­de Erfah­rung in einer Gesell­schaft der ver­schie­de­nen Lebens­we­ge ermög­licht«. Nota bene: Jene Polit­phra­se pseu­do-altru­isti­scher Für­sorg­lich­keit ent­fleuch­te eben jenem »fei­nen Herrn«, der unter Kanz­ler Ger­hard Schrö­der als Chef des Bun­des­kanz­ler­am­tes und Lei­ter der exklu­si­ven soge­nann­ten »Prä­si­den­ten­run­de« die­sen Geheim­zir­kel am 29. Okto­ber 2002 eis­kalt und men­schen­ver­ach­tend dazu bewo­gen hat­te, den Men­schen Murat Kur­naz fünf Jah­re sei­nes Lebens im US-ame­ri­ka­ni­schen Fol­ter­la­ger Guan­ta­na­mo ver­rot­ten zu lassen.

Dabei spukt die sozi­al­ro­man­ti­sche Idee, dass es doch wohl nicht scha­den kön­ne, der – in der Tat unent­behr­li­chen – gesell­schaft­li­chen Soli­da­ri­tät mit­tels Zwangs ein wenig nach­zu­hel­fen, seit lan­gen Jah­ren schon in all­zu vie­len Köp­fen umher. So auch wenig über­ra­schend in der CDU: In deren Rei­hen plä­dier­ten u. a. der dama­li­ge Bun­des­ver­tei­di­gungs­mi­ni­ster Franz Josef Jung, die zeit­wei­li­ge CDU-Vor­sit­zen­de Anne­gret Kramp-Kar­ren­bau­er sowie der stell­ver­tre­ten­de CDU-Vor­sit­zen­de Car­sten Lin­ne­mann für die Ein­füh­rung eines ver­pflich­ten­den Gesell­schafts­jah­res, auch der mitt­ler­wei­le zum Bun­des­kanz­ler avan­cier­te Fried­rich Merz unter­stützt ein sol­ches Unter­fan­gen. Dar­über hin­aus wur­de auf dem Bun­des­par­tei­tag im Sep­tem­ber 2022 ein ent­spre­chen­der Grund­satz­be­schluss gefasst. Pro­mi­nen­te Wer­bung für den Arbeits­dienst­ge­dan­ken machen zudem die Juri­stin, Sozio­lo­gin und Publi­zi­stin Sibyl­le Tön­nies sowie der Popu­lär­phi­lo­soph Richard David Precht. Den dies­be­züg­li­chen Höhe­punkt der Ent­blö­dung dürf­te aktu­ell die For­de­rung des Prä­si­den­ten des Deut­schen Insti­tuts für Wirt­schafts­for­schung (DIW), Mar­cel Fratz­scher, dar­stel­len, der zum Besten gab: »Wir soll­ten ein ver­pflich­ten­des sozia­les Jahr für alle Rent­ne­rin­nen und Rent­ner ein­füh­ren,« Was zu einem der­ar­ti­gen Unfug zu sagen ist, brach­te der Deut­sche Gewerk­schafts­bund (DGB) auf den Punkt: »Wir war­nen davor, mit sol­chen Vor­schlä­gen Gene­ra­tio­nen gegen­ein­an­der aus­zu­spie­len. Die Fra­ge, wer tat­säch­lich auf wes­sen Kosten lebt, ist in aller­er­ster Linie eine Fra­ge zwi­schen Reich und Arm, also zwi­schen Kapi­tal und Arbeit, und nicht etwa zwi­schen den Gene­ra­tio­nen.« Genau­so ist es!

Hin­ter all dem rhe­to­ri­schen Getrom­mel steckt die popu­li­sti­sche For­de­rung, eine neu­ar­ti­ge Ver­pflich­tung zu kre­ieren, der die Betrof­fe­nen je nach indi­vi­du­el­ler Prä­fe­renz wahl­wei­se in allen mög­li­chen gesell­schaft­lich nütz­li­chen Berei­chen nach­kom­men könn­ten, obschon unter Wehr- und Zivil­dienst­ex­per­ten unum­strit­ten ist, dass sich eine all­ge­mei­ne Dienst­pflicht weder recht­lich noch finan­zi­ell prak­tisch rea­li­sie­ren lässt.

So gerät übli­cher­wei­se die Grö­ßen­ord­nung eines »sozia­len Pflicht­jah­res« völ­lig aus dem Blick. Denn ein durch­schnitt­li­cher Geburts­jahr­gang umfasst immer­hin rund 800.000 Män­ner und Frau­en. Ein Teil davon ent­fie­le auf die Bun­des­wehr, bei der unter äußerst opti­mi­stisch kal­ku­lier­ten Prä­mis­sen mög­li­cher­wei­se in eini­gen Jah­ren maxi­mal 200.000 jun­ge Erwach­se­ne pro Jahr ihren mili­tä­ri­schen Dienst an der Waf­fe ablei­sten könn­ten. Übrig blie­ben dann pro Jahr bis annä­hernd 600.000 jun­ge Erwach­se­ne, die auf »Dienst­pflicht­plät­zen« im sozia­len Sek­tor unter­zu­brin­gen wären. Das erscheint bereits unter Orga­ni­sa­ti­ons­aspek­ten kaum als rea­li­stisch, voll­ends uto­pisch indes wären die Kosten. Als abso­lu­tes Mini­mum für die Ver­gü­tung der zukünf­tig Zwangs­dienst­ver­pflich­te­ten zugrun­de zu legen wäre zumin­dest der gesetz­li­che Min­dest­lohn, auch wenn eine sol­che Rege­lung nicht eben als Aus­druck über­bor­den­der gesell­schaft­li­cher Wert­schät­zung gel­ten könn­te. Die­ser liegt momen­tan bei 12,82 Euro pro Stun­de und steigt in den kom­men­den Jah­ren auf 14,60 Euro. Aus letz­te­rem resul­tiert, geht man von einem Arbeits­jahr aus, wel­ches 220 Acht-Stun­den-Tage umfasst, ein Lohn­ko­sten­auf­wand von rund 25.700 Euro pro Per­son, was für die gesam­te Jahr­gangs­ko­hor­te wie­der­um einen Bud­get­an­satz von etwa 20,6 Mrd. Euro bedeu­tet – ohne Berück­sich­ti­gung der an die Sozi­al­ver­si­che­run­gen abzu­füh­ren­den Arbeit­ge­ber­bei­trä­ge (in die­ser Rech­nung cir­ca 5 Mrd. Euro). Zusätz­lich anfal­len wür­den noch Regie­ko­sten und Sub­ven­tio­nen für die bereit­zu­stel­len­den Dienst­lei­stungs­plät­ze. Ein sozia­les Pflicht­jahr für jeder­mann und -frau wür­de dem­nach weit über 30 Mrd. Euro jähr­lich kosten – wohl­ge­merkt zusätz­lich zu den momen­tan ohne­hin schon exor­bi­tan­ten Haus­halts­an­sät­zen für die aktu­el­le Frei­wil­li­gen­trup­pe und deren Auf­rü­stung gemäß dem von »Frit­ze Tün­kram« aus­ge­ge­be­nen Mot­to »wha­te­ver it takes«.

Frei­lich sind nicht der­ar­ti­ge bud­ge­tä­re »Pea­nuts« maß­geb­lich für die Beur­tei­lung einer all­ge­mei­nen Dienst­pflicht, son­dern die alt­her­ge­brach­te Maxi­me des Königs­ber­ger Phi­lo­so­phen Imma­nu­el Kant, der einst gefor­dert hat­te: »Das Recht muss nie der Poli­tik, wohl aber jeder­zeit die Poli­tik dem Recht gehor­chen.« Hier­aus folgt zwin­gend, dass letzt­lich Recht und Gesetz den Aus­schlag dafür geben, ob eine all­ge­mei­ne Dienst­pflicht über­haupt ein­ge­führt wer­den kann – auch wenn eine erkleck­li­che Anzahl poli­ti­scher Irr­lich­ter der alten Spon­ti-Paro­le »legal-ille­gal-scheiß­egal« nach­hängt und dabei sogar die Zustim­mung einer knap­pen Mehr­heit der Bürger/​innen die­ses Lan­des findet.

Recht­lich zen­tra­le Bedeu­tung für die Pro­ble­ma­tik besitzt der Arti­kel 12 des Grund­ge­set­zes. Die­ser garan­tiert allen Deut­schen »das Recht, Beruf, Arbeits­platz und Aus­bil­dungs­stät­te frei zu wäh­len«. Die Frei­heit von Zwangs­ar­beit stellt mit­hin ein ver­fas­sungs­recht­lich geschütz­tes, fun­da­men­ta­les Men­schen­recht dar. Wie das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt dar­ge­legt hat, woll­ten die Urhe­ber des Grund­ge­set­zes ins­be­son­de­re die im Natio­nal­so­zia­lis­mus ange­wand­ten For­men des staat­li­chen Arbeits­zwangs (»Reich­ar­beits­dienst«), der Jugend­dienst­pflicht (»Hit­ler­ju­gend«) und der Zwangs­ar­beit mit ihrer Her­ab­wür­di­gung der mensch­li­chen Per­sön­lich­keit ein für alle­mal aus­schlie­ßen. Nicht zuletzt die­se höchst­rich­ter­li­che Rechts­aus­le­gung stellt unmiss­ver­ständ­lich klar, dass jeder For­de­rung nach einer all­ge­mei­nen Dienst­pflicht in Deutsch­land eine tota­li­tä­re Ten­denz inne­wohnt. Erin­nert sei in die­sem Kon­text an den Umstand, dass zuletzt 1935 von der NS-Dik­ta­tur ein »Gesetz der All­ge­mei­nen Dienst­pflicht für männ­li­che und weib­li­che Jugend­li­che« ver­ab­schie­det wur­de. Kon­zi­piert hat­te die­sen der Erfin­der des Reichs­ar­beits­dien­stes, Kon­stan­tin Hierl, als »sozia­le Schu­le der Nati­on« – ähn­lich nun also der aktu­ell amtie­ren­de Bundespräsident

 Ein zwei­ter Teil des Bei­trags erscheint im näch­sten Heft.