»Welche Wahnsinnigen haben das zu verantworten?«, fragte Daniela Klette, als sie im Mai 2025 zum ersten Mal in die eigens für ihren Strafprozess umgebaute Reithalle gebracht wurde. Der temporäre Gerichtssaal im niedersächsischen Verden-Eitze ist nun einer der größten in der Bundesrepublik. Hier verhandelt das Landgericht Verden gegen Daniela Klette wegen eines Dutzends bewaffneter Raubüberfälle, die sie mit zwei weiteren ehemaligen Militanten aus der Roten Armee Fraktion (RAF) durchgeführt haben soll. Das Geld aus Supermärkten und Geldtransportern sollte der Finanzierung ihres Lebens in der Illegalität dienen.
Daniela Klette war über 30 Jahre unter falschem Namen »untergetaucht«, die meiste Zeit davon lebte sie in Berlin-Kreuzberg, wo sie 2024 verhaftet wurde. Die 68-Jährige hat sich im laufenden Verfahren wiederholt zu Wort gemeldet und erklärt, dass »die Tötung von Menschen zur Geldbeschaffung unserem Selbstverständnis als radikale Linke vollkommen entgegensteht«. Trotzdem unterstellt das Gericht eine Tötungsbereitschaft, was eine höhere Verurteilung ermöglicht.
Die »Geldenteignungsaktionen« liegen bis zu 25 Jahre zurück, die letzte hat 2016 stattgefunden. Entsprechend verblasst sind die Erinnerungen der Zeugen, und ihr Gedächtnis spielt ihnen vermehrt Streiche. Eine im September geladene Frau spricht beispielsweise von einem roten Fluchtfahrzeug, obwohl keines der beteiligten Fahrzeuge diese Farbe hatte.
Eine weitere Zeugin hat vor Gericht ausgesagt, dass sie auf einem Parkplatz einen Knall gehört und dann sofort gedacht habe: »Das war die RAF.« Das sei »Eingebung« gewesen, meint die Frau auf dem Zeugenstuhl. Sie sei ja schon älter, antwortet sie auf Fragen der Verteidigung; sie habe in den 1970ern die Rasterfahndung miterlebt und damals auch die Reportagen von Stefan Aust zur RAF gelesen. Die deutsche Stadtguerilla war für sie offensichtlich spannend. Und nun war sie live in eine Geldbeschaffungsaktion hineingeraten – 20 Jahre nach der Selbstauflösung der RAF.
Auch andere Zeugen erlebten die Überfälle wie ein Abenteuer. Es sei »wie im Film« gewesen, berichten mehrere. Eine Zeugin dachte an »Versteckte Kamera« und brachte die Geschehnisse mit der Unterhaltungssendung »Verstehen Sie Spaß?« in Verbindung. Dagegen zielten die Fragen des Gerichts und der Staatsanwaltschaft vor allem darauf, eine Traumatisierung der Zeugen festzustellen. Bei diesen Befragungen war die Erkenntnis erschreckend, dass Geldtransportfahrer, die das berufliche Risiko eines Überfalls eingehen, von ihren Arbeitgebern weder vor Beschäftigungsbeginn auf ihre psychische Stabilität überprüft werden noch diesbezüglich Schulungen erhalten.
Unter den geladenen Zeugen sind auch sehr gesprächige, die weit ausschweifen, sich wiederholen und gar nicht mehr aufhören wollen zu reden. Sie werden deshalb vom Vorsitzenden Richter unterbrochen, indem er eine neue Frage stellt. Als Rechtsanwalt Lukas Theune im Anschluss ebenso vorgeht, fällt ihm die Staatsanwältin Annette Marquardt mit gehässigem Ton ins Wort: Er solle die Zeugin ausreden lassen. Als Zuhörer spürt man immer wieder die teils boshafte Abneigung, die Daniela Klettes Rechtsanwälten von Seiten der Staatsanwaltschaft entgegenschlägt.
Insgesamt sind die Zeugenaussagen nicht sehr beweiskräftig. Zudem ist bislang die Anwesenheit der Angeklagten an keinem der Tatorte belegt. In einem sichergestellten Fahrzeug fanden sich lediglich DNA-Spuren von Daniela Klette, außerdem gab es in ihrer Kreuzberger Wohnung neben Waffen auch ältere Stadtpläne von Orten, an denen Raubüberfälle stattgefunden hatten. Zusammengenommen wird dies dem Gericht voraussichtlich für eine Verurteilung ausreichen.
Der riesige, etwa 800 Quadratmeter große Gerichtssaal wirkt enorm überdimensioniert, vor allem auch durch die weitgehende Leere des Raums. Zudem bleiben viele Stühle unbesetzt, auch die meisten der etwa 100 Zuschauer- und Presseplätze. Das Gebäude wäre eher als Konzerthalle geeignet, wobei die auftretenden Bands auf eine bessere Ton- und Lichtanlage bestehen würden. Denn das gesprochene Wort aus den Lautsprechern im Zuschauerbereich ist übersteuert, und der hinzukommende Hall erfordert konzentriertes Zuhören, was auf Dauer anstrengend ist.
Vom Besucherbereich aus wirkt der Saal düster. Einige Außenfenster sind mit schwarzem Stoff abgehängt, damit auf den Laptops der Prozessbeteiligten und den installierten Flatscreens die Sonne nicht blendet. Die übrigen Fenster sind mit blickdichter Milchglasfolie beklebt. Die Richterbank ist geschätzt 40 Meter von den Zuschauer- und Pressebänken entfernt, dahinter das schwarze, ehemalige Eingangstor zur Reithalle. Die vier Richter und die Richterin erscheinen dort wie Miniaturen. Ihre Mimik ist auf die Entfernung kaum wahrzunehmen. Während an der Wand hinter Daniela Klette und ihren drei Anwälten weiße Stoffbahnen herunterhängen, erscheint die gegenüberliegende Seite – die der Anklage – mit den schwarzen Markisen als die dunkle Seite des Gerichtssaals.
Die Schwarz-Weiß-Optik des Raumes mit weißen Tischen samt Frontblenden, schwarzen Stühlen und Mikrophonen sowie grauem Teppichboden, wird durch das rote niedersächsische Landeswappen gebrochen, das auf dem Dutzend im Saal verteilten Flatscreens und dem Richterpult prangt – und allen vergegenwärtigt, wer hier Hausherr ist. Das Land Niedersachsen hat sich den Umbau dieses Bauwerks insgesamt 3,6 Millionen Euro kosten lassen – einzig für diesen Prozess.
Die ersten Prozesstage fanden von Ende März bis Mitte Mai noch in Celle statt, wo nur ein kleiner Teil der interessierten Öffentlichkeit Zugang zu den wenigen Zuschauerplätzen bekam. Der überwiegende Teil der Presse konnte in einem Audiosaal das Prozessgeschehen akustisch verfolgen, dabei aber nicht in jedem Moment wahrnehmen, wer von den Prozessbeteiligten gerade spricht. Die vorhandenen Flatscreens zeigten lediglich Standbilder des leeren Gerichtssaals.
Inzwischen hat das Interesse der Medien stark abgenommen. Mitte September kamen nur noch zwei Medienvertreter, die Zeugenvernehmungen versprechen keine Schlagzeilen. Deshalb könnte auch im Schwurgerichtssaal des Landgerichts in der Verdener Innenstadt verhandelt werden, der für die aktuellen Prozessbeteiligten vollkommen ausreichend wäre. Stattdessen wird aber weiterhin im Stadtteil Eitze prozessiert, vom Bahnhof etwa eine Stunde Fußweg, vorbei an verklinkerten Einfamilienhäusern und Pferdekoppeln, entfernt. Voraussichtlich erst zur Urteilsverkündung im kommenden Jahr wird das Medieninteresse wieder so groß sein, dass die Presse- und Zuschauerplätze weitgehend besetzt sein werden.
Wie alle Zuschauer/innen unterliegen auch die Pressevertreter/innen den außergewöhnlichen Sicherheitsvorkehrungen. Besucher müssen zur Kontrolle ihre Schuhe ausziehen, durch eine Sicherheitsschleuse gehen und werden dann noch intensiv abgetastet. Journalisten dürfen auf richterliche Anordnung weder Handys noch Laptops in den Saal mitnehmen, obwohl dies ihre zeitgemäßen Arbeitsmittel sind. Dabei würde schon die Trennwand mit bodentiefen Glasfenstern, die den Besucherbereich vom Rest des Saals abtrennt, die denkbare Gefahr ausschließen, dass mitgebrachte Gegenstände auf Prozessbeteiligte geworfen werden.
Sogar die Rechtsanwälte von Daniela Klette mussten bis Oktober ihre Taschen vor Beginn jeder Sitzung durchleuchten lassen, weil ihnen unterstellt wurde, unerlaubte Gegenstände mit in den Verhandlungssaal zu nehmen. Die Gründe für diesen maßlosen Sicherheitsaufwand erschließen sich nicht, zumal das Verfahren bislang – 37 Prozesstage sind vergangen – störungsfrei verlief.
Die Vorkehrungen vermitteln allerdings gegenüber der Öffentlichkeit, dass hier gegen eine höchstgefährliche Frau verhandelt wird. Die Rechtsanwälte Daniela Klettes sprechen deshalb von einer Vorverurteilung. Tatsächlich macht dieser ganze Aufwand deutlich, dass es sich hier mitnichten um einen gewöhnlichen Prozess handelt. Die Reithalle von Eitze ist zum Ausdruck politischer Justiz geworden, der die Irrationalität des Staates bei der Bekämpfung seiner Feinde zeigt.