»Bin ich dabei, die Partei zu verlassen – oder verlässt meine Partei gerade mich?« (Bodo Ramelow, Tagebucheintrag vom 18. Juni 2025)
Von Anfang an war alles eine Frage des Maßstabs. Doch dieser war nie revolutionär, selten systemkritisch und stets bemüht, sich nicht zu weit vom guten Ton der Berliner Republik zu entfernen. Die »Bewegungslinke« in Thüringen hat sich in zehn Jahren Regierung zu einem Bewegungsmelder des gesellschaftlichen Mainstreams verwandelt: Bei Gefahr schnell reagieren, bei Dämmerung leuchten, aber nie selbst strahlen wollen.
Nun steht Bodo Ramelow am Rand seines eigenen Wirkens, schaut zurück auf eine Dekade linker Regierungsverantwortung – und sieht, was er zu vermeiden hoffte: den Aufstieg derer, die jede Idee von Solidarität, Gleichheit und Mitmenschlichkeit aus dem politischen Raum entfernen wollen. Die AfD liegt in Thüringen bei über 30 Prozent, während die Linke durch Spaltung, Mutlosigkeit und semantisches Selbstmitleid am Rande des parlamentarischen Überlebens balanciert.
Es ist ein grotesker Widerspruch – und Ramelow erkennt ihn sogar. Doch er zieht daraus nicht den Schluss, dass seine Partei auf das falsche Tor gespielt hat. Vielmehr beklagt er, dass das Publikum sich für das Spiel (auf ein Tor) nicht mehr interessiert.
Ramelow war ein Ministerpräsident, der stets darum bemüht war, nicht als linker Ministerpräsident aufzufallen. Er war Pragmatiker, Vermittler, Landesvater – also das, was die SPD gern gewesen wäre, wenn sie in Ostdeutschland noch ein soziales Sensorium hätte. Seine Regierungszeit glich einem unentwegten Versuch, mit den Konventionen des politisch Machbaren zu tanzen, ohne aus der Reihe zu fallen.
Doch wer sich dem neoliberalen Choreografen andient, tanzt am Ende nach fremden Rhythmen. Die Thüringer Linke wollte den »Thüringer Weg« nicht als radikale Systemalternative verstanden wissen, sondern als besser verwalteten Reformismus mit humanem Antlitz. Die große Transformation – sie wurde ins Reich der Lesekreise verbannt.
Wohin das führte, ließ sich bei der letzten Landtagswahl besichtigen: Die Wagenknecht-Abspaltung holte, was die Linke verlor. Die AfD wuchs im selben Atemzug weiter. Und die politische Mitte? Sie wanderte ab – in Richtung derer, die keine Mitte mehr wollen.
Ramelow beklagt in seinem jüngsten Tagebuchtext die Verrohung der öffentlichen Debatte, das Gift von Telegram, das Aufblühen des Populismus, die Sehnsucht nach dem »starken Mann mit Kettensäge«. Doch sein Ton bleibt der eines verständnisvollen Verwalters, nicht der eines entschlossenen Gegenspielers.
»Ich war gegen Waffenlieferungen – aber bitte auch gegen russische«, schreibt er. Ein Satz, der alles sagen will, aber nichts bewegt. Zwischen Pazifismus und Loyalität zur Nato bleibt kein Platz für wirkliche Opposition. Ramelow wählt den Spagat – und fällt dabei in die Mitte.
Der Realismus, auf den er pocht, war nie revolutionär, sondern stets realpolitischer Eskapismus: lieber dem Bundesrat gefallen als der Arbeiterklasse, lieber als Antipode zur AfD, denn als Alternative zum Kapitalismus. So ging auch die Mietpreisbremse flöten, so blieb Hartz IV auch unter neuer Bezeichnung erhalten – und so bekam Thüringen keine Vermögenssteuer, sondern Werbevideos für Demokratie und »Zusammenhalt«.
Die Linke in Thüringen hat in zehn Jahren Regierung kein System in Frage gestellt. Sie hat sich bemüht, mit den Grünen zu harmonieren und die SPD zu ertragen – beides keine kleinen Aufgaben. Doch während man auf Bundesebene Robert Habecks Heizpläne diskutierte, diskutierte man in Thüringen lieber nicht über Eigentumsverhältnisse oder Konzernmacht, sondern über Verwaltungsvorschriften und Satzungsfragen.
»Partei in Bewegung«, schreibt Ramelow. Doch bewegt wurde – nichts. Statt eines linken Aufbruchs gab es einen links verwalteten Stillstand. Die Bewegungslinke wurde zur Bewegungsvermeidungspartei. Ihre Gegner überholten sie rechts, während sie links abbiegen wollten, aber den Blinker nie setzten.
Wenn ein Ministerpräsident sich am Ende seiner Laufbahn damit tröstet, dass er persönlich »noch zugelegt« habe, obwohl seine Partei im freien Fall ist, dann verrät das vor allem eines: das Missverständnis, Personenkult mit Politik zu verwechseln. Die wichtigste Frage hingegen stellte Ramelow nie: Warum gelang es der Linken nicht, in Thüringen – wo sie zehn Jahre lang den Regierungschef stellte – die AfD kleinzuhalten?
Man war doch »nah bei den Leuten«, wie es heißt. Man war präsent auf Dorffesten und im Kreistag. Man kannte die Bäcker, die Förster, die Vereinsvorstände. Und doch: 2024 jubelte das halbe Land Höcke zu, während die Linke in den Meinungsumfragen kaum noch messbar war.
Wie konnte das geschehen? Die Antwort liegt auf der Hand – und wird doch von Ramelow umkreist wie ein Denkmal, das man lieber nicht entweiht.
Der politische Pragmatismus der Linken war in Wahrheit ein Zwang zur Anschlussfähigkeit an jene Koalitionspartner, die von Anfang an nicht auf Veränderung, sondern auf Regierungsmacht aus waren. Die SPD träumte von einer Sozialdemokratie, die längst im Museum steht. Die Grünen von technologischen Innovationen, die das Klima retten sollen, ohne das System zu berühren. Und die Linke?
Sie verwaltete die Harmonie.
Die soziale Frage, der Klassenkampf, der Umbau des Eigentums – all das wurde in den Keller der politischen Debatte verbannt, weil es gestört hätte. Weil es nicht mehrheitsfähig war. Weil die Wählerinnen und Wähler damit nicht zu gewinnen seien.
Doch was gewann man stattdessen? Nichts – außer den Vorwurf, selbst Teil des Systems zu sein, das man einst abschaffen wollte. Und genau diesen Vorwurf nutzte die AfD für sich. Sie sprach von Eliten, von Systemparteien, von Volksverrätern – und die Linke war, wie durch ein Wunder, plötzlich in der Aufzählung mitgemeint.
In Ramelows Text wimmelt es von Bekenntnissen zur Verantwortung, zur Verwaltung, zur Partei. Aber es fehlt das Eingeständnis des eigenen Versagens.
Er war Regierungschef – und doch blieb er politischer Statist im Stück des untergehenden Sozialstaats. Er beklagt den Verlust der »lebendigen Diskussion über Ostdeutschland«, aber hat selbst keine politische Vision für den Osten formuliert, die über Verwaltungsrecht hinausging.
Er spricht von Strützel und Gramsci, von marxistischer Dialektik und realpolitischer Handlungsfähigkeit – doch was dabei fehlt, ist die politische Imagination. Man kann Gramsci nicht zitieren und gleichzeitig den gesellschaftlichen Konsens zur Richtschnur des Regierungshandelns machen. Man kann Marx nicht beschwören und zugleich in zehn Jahren nicht eine einzige strukturelle Eigentumsfrage im Landtag stellen. Und man kann die SED-Gleichsetzung nicht beklagen, wenn man im selben Atemzug der Klage jede grundlegende Kritik an Machtverhältnissen in den Apparat der pragmatischen Rücksichtnahme einspeist.
Die Linke in Thüringen ist kein Opfer ihrer Gegner, sondern ihrer selbst. Sie hat es versäumt, als sozialistische Kraft eine andere Wirklichkeit zu entwerfen. Sie war so sehr mit ihrer Regierungsfähigkeit beschäftigt, dass sie vergaß, worum es ging: Gerechtigkeit, Gleichheit, soziale Umwälzung.
Sie hat sich eingelassen auf Koalitionen, die nie auf Veränderung, sondern auf Selbstbestätigung aus waren. Und sie hat sich treiben lassen von der Illusion, man könne Systemkritik institutionalisieren.
Doch das System hat das Spiel längst gewonnen. Es absorbierte die Linke – und spuckte sie wieder aus, als sie nicht mehr nützlich war.
Ramelow hat sich bemüht. Er war bemüht. Und man darf ihm abnehmen, dass er es ernst meinte mit der sozialen Gerechtigkeit. Doch Ernsthaftigkeit ersetzt keine Vision. Und Popularität kein politisches Profil.
Wenn man sich am Ende seiner Karriere damit tröstet, dass Menschen »Team Bodo«-Shirts tragen, dann ist das kein Zeichen von Stärke, sondern von politischem Endstadium: Person statt Programm, Figur statt Forderung.
Thüringen steht heute vor einem politischen Abgrund – und das hat auch mit zehn Jahren Regierung zu tun, in denen die Linke nicht wagte, wirklich links zu sein.