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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Raum für Würde

Nach UN-Anga­ben befin­den sich zur­zeit fast 123 Mil­lio­nen Men­schen welt­weit auf der Flucht, sie flie­hen vor­wie­gend vor Gewalt, Krieg und ver­än­der­ten Umwelt­be­din­gun­gen. Für jeden ein­zel­nen die­ser Geflüch­te­ten ist der Ver­lust des gewohn­ten Lebens in der Hei­mat ein schwe­rer bio­gra­fi­scher Bruch, eine trau­ma­ti­sche, wenn nicht lebens­be­dro­hen­de Erfahrung.

In Ber­lin höre ich von einem Run­den Tisch für geflüch­te­te Frau­en. Er wird ehren­amt­lich gelei­tet von der 44-jäh­ri­gen Asya Aldi­ri, die vor zehn Jah­ren aus Syri­en geflo­hen ist. Mit ihren damals 9- und 11-jäh­ri­gen Töchtern.

Asya stammt aus einer eher links ori­en­tier­ten Fami­lie. Schon der Groß­va­ter war in der Sozia­li­sti­schen Par­tei. Was aber nicht bedeu­te­te, dass er für Gleich­be­rech­ti­gung ein­ge­tre­ten wäre. Er hat Frau und Kin­der geschla­gen, die dann anschlie­ßend im Stall schla­fen muss­ten. Er hei­ra­te­te wie üblich eine wei­te­re Frau. Auch Asy­as Schwie­ger­va­ter war ein Lin­ker, er hat­te sich in der Sowjet­uni­on gebil­det und war dort zum Kom­mu­ni­sten gewor­den. Groß­va­ter und Schwie­ger­va­ter blie­ben nicht ohne Ein­fluss auf Asya. »Die gan­ze Geschich­te mit der Reli­gi­on hat mich nicht über­zeugt«, sagt sie mir bei einem Kaf­fee im schat­ti­gen Park. Sie selbst woll­te Mit­glied der Baath-Par­tei wer­den. Deren revo­lu­tio­nä­rer Säku­la­ris­mus schien zunächst ein gang­ba­rer Weg. Aber man nahm sie und ihren Mann nicht auf, da sie aus einer kom­mu­ni­sti­schen Fami­lie kamen – und Kom­mu­ni­sten den der Par­tei so zen­tra­len, natio­na­li­sti­schen Pan­ara­bis­mus ablehnten.

Der Baat­his­mus war in die­ser Hin­sicht wider­sprüch­lich – so erzäh­len es auch ande­re Flücht­lin­ge aus der Regi­on –, er stand dem Inter­na­tio­na­lis­mus der Lin­ken ent­ge­gen. Prä­si­dent Baschar al-Assad woll­te Syri­en zu einem Umschlag­platz der rie­si­gen eige­nen Gas- und Ölvor­kom­men mit einer 5000-km-Pipe­line nach Euro­pa machen. Russ­land und der Iran unter­stütz­ten das. Aber das ehr­gei­zi­ge Vor­ha­ben stör­te die stra­te­gi­schen Inter­es­sen des US-Kon­zerns Exxon­Mo­bil, der eige­ne Pipe­line-Plä­ne mit Katar hat­te. Groß­bri­tan­ni­en, Frank­reich, Isra­el und die Tür­kei misch­ten sich bom­big in den Kampf um Explo­ra­ti­ons­rech­te ein. Auch die Bun­des­wehr schick­te eine Fre­gat­te und Auf­klä­rungs­flug­zeu­ge. Der tür­ki­sche Justiz­mi­ni­ster kom­men­tier­te: »Wir sehen ganz deut­lich, dass in Syri­en ein Ener­gie-Krieg tobt und der IS als Instru­ment die­ses Ver­tei­lungs­kamp­fes genutzt wird.« Vier Jah­re lang wur­de Syri­en unter Feu­er genom­men und mit Söld­ner- und Ter­ror­grup­pen auf­ge­mischt, was nach UN-Anga­ben fast 400 000 Tote for­der­te. Erst dann star­te­te Russ­land 2015 auf Wunsch der syri­schen Regie­rung sei­ne Mili­tär­in­ter­ven­ti­on und bom­bar­dier­te den IS in Alep­po. Assad war durch west­li­che Sank­tio­nen zusätz­lich unter Druck gera­ten und erdrei­ste­te sich, den Rus­sen Gas-För­der­rech­te vor sei­ner Küste anzu­bie­ten. Es ging immer auch um sein poli­ti­sches und leib­li­ches Überleben.

Asy­as Mann hat über sei­ne Arbeit nie viel erzählt. Aber er ist gleich zu Beginn der krie­ge­ri­schen Aus­ein­an­der­set­zun­gen von Assads Leu­ten ver­haf­tet wor­den. Und sie wur­de als Kin­der­gärt­ne­rin ent­las­sen, ihre Kin­der durf­ten die Schu­le in Damas­kus nicht mehr betre­ten. Asya hat sie seit­her allein unter­rich­tet. Alle drei Mona­te durf­te sie ihren Mann für weni­ge Minu­ten besu­chen. Sie hat­te stän­dig Angst, dass er umge­bracht wird. Es war demü­ti­gend, von den Almo­sen der Fami­lie zu leben.

In ihrem Leben habe es dann meh­re­re Wun­der gege­ben, sagt sie. Dass ihr Mann nach drei­ein­halb Jah­ren lebend aus dem Gefäng­nis kam, war das erste. Er floh in ein Lager in der Tür­kei, wur­de aber dort von den isla­mi­sti­schen Al Nus­ra-Mili­zen mas­siv bedrängt, die ihn zur Zusam­men­ar­beit zwin­gen woll­ten. Es gelang ihm mit Hil­fe von Ver­wand­ten, nach Deutsch­land zu flie­hen. Das war das zwei­te Wun­der. Und er woll­te, dass die Fami­lie nach­kommt. Aber es gab kei­nen lega­len Weg.

So ist Asya los­ge­lau­fen, mit den Kin­dern, zehn Tage durch syri­sche Fel­der, Wäl­der und Flüs­se. Bis zu einem Lager an der tür­ki­schen Gren­ze, das zwar von Amne­stie Inter­na­tio­nal betrie­ben wur­de, ihnen aber kaum mehr als Was­ser und Brot gewähr­te. Manch­mal wur­de auch Mehl ver­teilt oder Fer­tig­es­sen. Sie schlie­fen zu dritt in einem Bett. Sie­ben Mona­te lang. In einem Zelt, in dem sie im Win­ter fro­ren und im Som­mer kaum atmen konn­ten. Das näch­ste WC war 15 Minu­ten ent­fernt, ein gera­de nachts sehr gefähr­li­cher Weg. Um ihren geflüch­te­ten Mann tele­fo­nisch zu errei­chen, muss­te Asya wegen des schwa­chen Net­zes auf einen Berg stei­gen, das Geld für die Sim­kar­te hat­te sie sich vom Mun­de abgespart.

Ihr müsst über die Grenz­mau­er, hat er gesagt, die Kin­der sei­en in Syri­en nicht sicher. Aber das war lebens­ge­fähr­lich. Oft wur­den Flücht­lin­ge an oder auf der Mau­er erschos­sen. Um Mit­ter­nacht hat­te jede Per­son nur drei Minu­ten, sie zu über­win­den – dann war die Pau­se der Wachen um. Der Schleu­ser wuss­te wohl, dass nur Panik die Kräf­te frei­setzt, die nötig sind. In der Tür­kei haben sie dann Schmugg­ler mit dem Auto nach Istan­bul gebracht. Dort schlie­fen sie ein paar Tage auf der Stra­ße. Dann ging es mit dem Bus nach Izmir, wofür der Fah­rer von jedem 100 Dol­lar haben woll­te; das Geld, noch ein Wun­der, hat ein Mit­flücht­ling ihr geborgt.

Nach eini­gen Tagen in Parks konn­ten sie ein Schlauch­boot bestei­gen, das mehr als fünf­zig Flücht­lin­ge nach Grie­chen­land brin­gen soll­te. Doch der Boots­füh­rer war betrun­ken, der Motor setz­te aus. Sie war­fen alle Taschen über Bord, um nicht unter­zu­ge­hen. Zufäl­lig kam ein tür­ki­sches Küsten­schiff vor­bei, und so lan­de­ten sie, klatsch­nass, wie sie waren, in einem tür­ki­schen Gefäng­nis. Um Mit­ter­nacht wur­den sie alle auf die Stra­ße ent­las­sen. Es sei eben­falls ein Wun­der, dass sie nicht erfro­ren sind, nur in leich­ter Hose und Blu­se. Es war Mit­te Okto­ber. Sie und die Kin­der hat­ten Durch­fall, wun­de Füße mit Blut­beu­len. »Nur die Hoff­nung hat gewärmt.«

Nach eini­gen Tagen bot sich wie­der ein Schlauch­boot an, doch der Fah­rer ver­lang­te neu­es Geld; wie schon im Bus half der­sel­be Mit­flücht­ling erneut aus. Dies­mal erreich­ten sie tat­säch­lich das berüch­tig­te Flücht­lings­la­ger Moria auf Les­bos, wo sie sich von Küchen­ab­fäl­len aus einem Hotel ernähr­ten. Von dort, machen wir es kurz, gelang­ten sie schließ­lich nach Maze­do­ni­en, wo sie neben Müll­con­tai­nern unter­ka­men, über Ser­bi­en, wo man nachts im Lager beklaut wur­de, und Öster­reich, wo sie das erst Mal »rich­ti­ges« Essen beka­men, nach Mün­chen. 15. Novem­ber, Minus­gra­de, Blu­se, kein Deutsch. Dann geschah ein wei­te­res Wun­der. Eine älte­re Frau nahm sie mit zu einem Imbiss-Auto und gab ihnen zu Essen. Dort stan­den auch zwei Kar­tons mit war­men Sachen. Die haben Asya und ihre Töch­ter drei Jah­re lang getra­gen. »Die Frau hat uns das Leben geret­tet. Ich woll­te mich spä­ter bei ihr bedan­ken, aber wir haben sie nicht mehr gefunden.«

Ein Bus bringt sie ans Ziel der Odys­see: Ber­lin, wo ihr Mann sie erwar­ten wird. Was dann geschah, war das Gegen­teil von Wun­der. »Kein Wun­der«, sagt man wohl. Ihr Mann ist nicht mehr der­sel­be. Haft und Flucht haben ihn trau­ma­ti­siert – es ist nicht sei­ne Schuld. Er kann die Erwar­tun­gen nicht erfül­len. Sie muss es ver­ste­hen und akzep­tie­ren. Sie wer­den nicht zusammenleben.

Doch das ihr zuge­ord­ne­te Schick­sal woll­te sie nicht mehr hin­neh­men, sie sei nach und nach eine rebel­li­sche Frau gewor­den, sagt sie. In der ersten Not­un­ter­kunft, einer Turn­hal­le, hat sie sich von Bett­wä­sche Vor­hän­ge gefer­tigt. Auch wenn ihnen der Auf­ent­halt dort schon wie das Para­dies vor­ge­kom­men sei, woll­ten sie raus. Aber das schaff­ten nur die, die Deutsch oder Eng­lisch konn­ten und nicht so her­un­ter­ge­kom­men aus­sa­hen. Sie fragt nach einem Kurs für deut­sche Spra­che und Kul­tur, will wis­sen, was man hier darf und was nicht. Aber sie wird nur aus­ge­lacht, Kur­se gibt es nicht. Sie sucht sich selbst einen und eine Schu­le für die Töch­ter. Bekommt schließ­lich eine Bera­te­rin, einen Auf­ent­halts­ti­tel und – nach hart­näcki­ger Suche – eine Woh­nung. Asya hät­te gern wie­der Kin­der betreut, macht das gefor­der­te Prak­ti­kum. Aber Eltern hat­ten Vor­ur­tei­le, akzep­tier­ten nicht, dass eine syri­sche Frau ihre Kin­der erzieht. Schließ­lich konn­te sie ihre Erfah­run­gen als Inte­gra­ti­ons­lot­sin einbringen.

Damit erst fing das Leben in Deutsch­land an. Sie über­setz­te Rat­ge­ber-Bro­schü­ren ins Ara­bi­sche. Qua­li­fi­zier­te sich zur Sozi­al­be­ra­te­rin. Erfuhr, dass auch in Deutsch­land jede drit­te Frau ein­mal von Gewalt betrof­fen ist; unter den Geflüch­te­ten ist es jede. Sie grün­de­te einen Run­den Tisch für Exil-Frau­en, will ihnen Selbst­be­wusst­sein geben, fin­det viel Zuspruch. Auch für Män­ner, vor denen sie sich immer gefürch­tet hat­te, schafft sie spä­ter einen Stamm­tisch. Durch deren Flucht­er­fah­run­gen sind sie nicht min­der trau­ma­ti­siert – wie ihr eige­ner Mann. 2023 bekommt sie mit den Töch­tern die deut­sche Staats­bür­ger­schaft. Die klei­ne stu­diert Phar­ma­zie, die gro­ße Unter­neh­mens­füh­rung. Sie sind trau­rig, als nach dem Sturz von Assad in der deut­schen Öffent­lich­keit als erstes über­legt wird, wie man nun schnell so vie­le Syrer wie mög­lich wie­der los­wer­den kann. Also sind sie immer noch nicht will­kom­men. Aber Asya zwei­felt, ob der Über­gangs­prä­si­dent Al-Scha­raa und sei­ne isla­mi­sti­sche Miliz eine demo­kra­ti­sche Alter­na­ti­ve für Syri­en sein können.

Das Ber­li­ner Lan­des­amt für Flücht­lings­an­ge­le­gen­hei­ten hat gera­de eine Antho­lo­gie mit dem Titel »Hei­mat suchen – Hei­mat fin­den« her­aus­ge­ge­ben. Dar­in reflek­tie­ren Ange­kom­me­ne ihre Erfah­run­gen – Pro­fes­sio­nel­le, Ama­teu­re, Jugend­li­che. Asya Aldi­ri schreibt: »Hei­mat ist für mich heu­te kein Punkt auf der Land­kar­te mehr. Sie ist ein Ort in uns selbst, ein Raum, den wir mit Mensch­lich­keit, Wür­de, Hoff­nung fül­len. Ein Raum, der uns alle ver­bin­det.« Möge es so bleiben.