Nach UN-Angaben befinden sich zurzeit fast 123 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht, sie fliehen vorwiegend vor Gewalt, Krieg und veränderten Umweltbedingungen. Für jeden einzelnen dieser Geflüchteten ist der Verlust des gewohnten Lebens in der Heimat ein schwerer biografischer Bruch, eine traumatische, wenn nicht lebensbedrohende Erfahrung.
In Berlin höre ich von einem Runden Tisch für geflüchtete Frauen. Er wird ehrenamtlich geleitet von der 44-jährigen Asya Aldiri, die vor zehn Jahren aus Syrien geflohen ist. Mit ihren damals 9- und 11-jährigen Töchtern.
Asya stammt aus einer eher links orientierten Familie. Schon der Großvater war in der Sozialistischen Partei. Was aber nicht bedeutete, dass er für Gleichberechtigung eingetreten wäre. Er hat Frau und Kinder geschlagen, die dann anschließend im Stall schlafen mussten. Er heiratete wie üblich eine weitere Frau. Auch Asyas Schwiegervater war ein Linker, er hatte sich in der Sowjetunion gebildet und war dort zum Kommunisten geworden. Großvater und Schwiegervater blieben nicht ohne Einfluss auf Asya. »Die ganze Geschichte mit der Religion hat mich nicht überzeugt«, sagt sie mir bei einem Kaffee im schattigen Park. Sie selbst wollte Mitglied der Baath-Partei werden. Deren revolutionärer Säkularismus schien zunächst ein gangbarer Weg. Aber man nahm sie und ihren Mann nicht auf, da sie aus einer kommunistischen Familie kamen – und Kommunisten den der Partei so zentralen, nationalistischen Panarabismus ablehnten.
Der Baathismus war in dieser Hinsicht widersprüchlich – so erzählen es auch andere Flüchtlinge aus der Region –, er stand dem Internationalismus der Linken entgegen. Präsident Baschar al-Assad wollte Syrien zu einem Umschlagplatz der riesigen eigenen Gas- und Ölvorkommen mit einer 5000-km-Pipeline nach Europa machen. Russland und der Iran unterstützten das. Aber das ehrgeizige Vorhaben störte die strategischen Interessen des US-Konzerns ExxonMobil, der eigene Pipeline-Pläne mit Katar hatte. Großbritannien, Frankreich, Israel und die Türkei mischten sich bombig in den Kampf um Explorationsrechte ein. Auch die Bundeswehr schickte eine Fregatte und Aufklärungsflugzeuge. Der türkische Justizminister kommentierte: »Wir sehen ganz deutlich, dass in Syrien ein Energie-Krieg tobt und der IS als Instrument dieses Verteilungskampfes genutzt wird.« Vier Jahre lang wurde Syrien unter Feuer genommen und mit Söldner- und Terrorgruppen aufgemischt, was nach UN-Angaben fast 400 000 Tote forderte. Erst dann startete Russland 2015 auf Wunsch der syrischen Regierung seine Militärintervention und bombardierte den IS in Aleppo. Assad war durch westliche Sanktionen zusätzlich unter Druck geraten und erdreistete sich, den Russen Gas-Förderrechte vor seiner Küste anzubieten. Es ging immer auch um sein politisches und leibliches Überleben.
Asyas Mann hat über seine Arbeit nie viel erzählt. Aber er ist gleich zu Beginn der kriegerischen Auseinandersetzungen von Assads Leuten verhaftet worden. Und sie wurde als Kindergärtnerin entlassen, ihre Kinder durften die Schule in Damaskus nicht mehr betreten. Asya hat sie seither allein unterrichtet. Alle drei Monate durfte sie ihren Mann für wenige Minuten besuchen. Sie hatte ständig Angst, dass er umgebracht wird. Es war demütigend, von den Almosen der Familie zu leben.
In ihrem Leben habe es dann mehrere Wunder gegeben, sagt sie. Dass ihr Mann nach dreieinhalb Jahren lebend aus dem Gefängnis kam, war das erste. Er floh in ein Lager in der Türkei, wurde aber dort von den islamistischen Al Nusra-Milizen massiv bedrängt, die ihn zur Zusammenarbeit zwingen wollten. Es gelang ihm mit Hilfe von Verwandten, nach Deutschland zu fliehen. Das war das zweite Wunder. Und er wollte, dass die Familie nachkommt. Aber es gab keinen legalen Weg.
So ist Asya losgelaufen, mit den Kindern, zehn Tage durch syrische Felder, Wälder und Flüsse. Bis zu einem Lager an der türkischen Grenze, das zwar von Amnestie International betrieben wurde, ihnen aber kaum mehr als Wasser und Brot gewährte. Manchmal wurde auch Mehl verteilt oder Fertigessen. Sie schliefen zu dritt in einem Bett. Sieben Monate lang. In einem Zelt, in dem sie im Winter froren und im Sommer kaum atmen konnten. Das nächste WC war 15 Minuten entfernt, ein gerade nachts sehr gefährlicher Weg. Um ihren geflüchteten Mann telefonisch zu erreichen, musste Asya wegen des schwachen Netzes auf einen Berg steigen, das Geld für die Simkarte hatte sie sich vom Munde abgespart.
Ihr müsst über die Grenzmauer, hat er gesagt, die Kinder seien in Syrien nicht sicher. Aber das war lebensgefährlich. Oft wurden Flüchtlinge an oder auf der Mauer erschossen. Um Mitternacht hatte jede Person nur drei Minuten, sie zu überwinden – dann war die Pause der Wachen um. Der Schleuser wusste wohl, dass nur Panik die Kräfte freisetzt, die nötig sind. In der Türkei haben sie dann Schmuggler mit dem Auto nach Istanbul gebracht. Dort schliefen sie ein paar Tage auf der Straße. Dann ging es mit dem Bus nach Izmir, wofür der Fahrer von jedem 100 Dollar haben wollte; das Geld, noch ein Wunder, hat ein Mitflüchtling ihr geborgt.
Nach einigen Tagen in Parks konnten sie ein Schlauchboot besteigen, das mehr als fünfzig Flüchtlinge nach Griechenland bringen sollte. Doch der Bootsführer war betrunken, der Motor setzte aus. Sie warfen alle Taschen über Bord, um nicht unterzugehen. Zufällig kam ein türkisches Küstenschiff vorbei, und so landeten sie, klatschnass, wie sie waren, in einem türkischen Gefängnis. Um Mitternacht wurden sie alle auf die Straße entlassen. Es sei ebenfalls ein Wunder, dass sie nicht erfroren sind, nur in leichter Hose und Bluse. Es war Mitte Oktober. Sie und die Kinder hatten Durchfall, wunde Füße mit Blutbeulen. »Nur die Hoffnung hat gewärmt.«
Nach einigen Tagen bot sich wieder ein Schlauchboot an, doch der Fahrer verlangte neues Geld; wie schon im Bus half derselbe Mitflüchtling erneut aus. Diesmal erreichten sie tatsächlich das berüchtigte Flüchtlingslager Moria auf Lesbos, wo sie sich von Küchenabfällen aus einem Hotel ernährten. Von dort, machen wir es kurz, gelangten sie schließlich nach Mazedonien, wo sie neben Müllcontainern unterkamen, über Serbien, wo man nachts im Lager beklaut wurde, und Österreich, wo sie das erst Mal »richtiges« Essen bekamen, nach München. 15. November, Minusgrade, Bluse, kein Deutsch. Dann geschah ein weiteres Wunder. Eine ältere Frau nahm sie mit zu einem Imbiss-Auto und gab ihnen zu Essen. Dort standen auch zwei Kartons mit warmen Sachen. Die haben Asya und ihre Töchter drei Jahre lang getragen. »Die Frau hat uns das Leben gerettet. Ich wollte mich später bei ihr bedanken, aber wir haben sie nicht mehr gefunden.«
Ein Bus bringt sie ans Ziel der Odyssee: Berlin, wo ihr Mann sie erwarten wird. Was dann geschah, war das Gegenteil von Wunder. »Kein Wunder«, sagt man wohl. Ihr Mann ist nicht mehr derselbe. Haft und Flucht haben ihn traumatisiert – es ist nicht seine Schuld. Er kann die Erwartungen nicht erfüllen. Sie muss es verstehen und akzeptieren. Sie werden nicht zusammenleben.
Doch das ihr zugeordnete Schicksal wollte sie nicht mehr hinnehmen, sie sei nach und nach eine rebellische Frau geworden, sagt sie. In der ersten Notunterkunft, einer Turnhalle, hat sie sich von Bettwäsche Vorhänge gefertigt. Auch wenn ihnen der Aufenthalt dort schon wie das Paradies vorgekommen sei, wollten sie raus. Aber das schafften nur die, die Deutsch oder Englisch konnten und nicht so heruntergekommen aussahen. Sie fragt nach einem Kurs für deutsche Sprache und Kultur, will wissen, was man hier darf und was nicht. Aber sie wird nur ausgelacht, Kurse gibt es nicht. Sie sucht sich selbst einen und eine Schule für die Töchter. Bekommt schließlich eine Beraterin, einen Aufenthaltstitel und – nach hartnäckiger Suche – eine Wohnung. Asya hätte gern wieder Kinder betreut, macht das geforderte Praktikum. Aber Eltern hatten Vorurteile, akzeptierten nicht, dass eine syrische Frau ihre Kinder erzieht. Schließlich konnte sie ihre Erfahrungen als Integrationslotsin einbringen.
Damit erst fing das Leben in Deutschland an. Sie übersetzte Ratgeber-Broschüren ins Arabische. Qualifizierte sich zur Sozialberaterin. Erfuhr, dass auch in Deutschland jede dritte Frau einmal von Gewalt betroffen ist; unter den Geflüchteten ist es jede. Sie gründete einen Runden Tisch für Exil-Frauen, will ihnen Selbstbewusstsein geben, findet viel Zuspruch. Auch für Männer, vor denen sie sich immer gefürchtet hatte, schafft sie später einen Stammtisch. Durch deren Fluchterfahrungen sind sie nicht minder traumatisiert – wie ihr eigener Mann. 2023 bekommt sie mit den Töchtern die deutsche Staatsbürgerschaft. Die kleine studiert Pharmazie, die große Unternehmensführung. Sie sind traurig, als nach dem Sturz von Assad in der deutschen Öffentlichkeit als erstes überlegt wird, wie man nun schnell so viele Syrer wie möglich wieder loswerden kann. Also sind sie immer noch nicht willkommen. Aber Asya zweifelt, ob der Übergangspräsident Al-Scharaa und seine islamistische Miliz eine demokratische Alternative für Syrien sein können.
Das Berliner Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten hat gerade eine Anthologie mit dem Titel »Heimat suchen – Heimat finden« herausgegeben. Darin reflektieren Angekommene ihre Erfahrungen – Professionelle, Amateure, Jugendliche. Asya Aldiri schreibt: »Heimat ist für mich heute kein Punkt auf der Landkarte mehr. Sie ist ein Ort in uns selbst, ein Raum, den wir mit Menschlichkeit, Würde, Hoffnung füllen. Ein Raum, der uns alle verbindet.« Möge es so bleiben.