Es ist schon lange her, dass man in deutschen Zeitungen die Rubrik »Aus den Kolonien« lesen konnte. Auch das Bestaunen echter Neger im Hamburger Tierpark Hagenbeck war nach dem Verlust des Kolonialreichs aus der Mode gekommen. Die Abneigung gegen die Fremden, jene, die nicht so aussehen wie wir, ist geblieben. Als in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts die Franzosen das Rheinland besetzten, empfand es die deutsche Volksseele als besondere Demütigung, dass dort schwarze Soldaten eingesetzt wurden. Bereits zehn Jahre nach dem Ende des Dritten Reiches, nach der Befreiung der Millionen »Fremdarbeiter«, kamen die ersten italienischen Arbeiter, die man nun »Gastarbeiter« nannte. Später folgten Abkommen mit weiteren Ländern, das Wirtschaftswunder forderte immer mehr menschlichen Nachschub. Dass die meisten Gäste blieben, Sozialabgaben zahlten, Familien gründeten und schließlich auch ihre Rente hier genießen wollten, war eigentlich nicht vorgesehen.
Nach 1989 konnte im Osten ein neues Potential an preiswerten Arbeitskräften und Produktionsstätten erschlossen werden. Die schnelle Eingliederung früherer Staaten des Warschauer Paktes in den Schoß der EU wurde durch die Nato-Osterweiterung abgesichert. Bulgarische Erntehelfer, die von skrupellosen Subunternehmern günstig verliehen werden, rumänische Fernfahrer, die für einen Hungerlohn quer durch Europa Waren kutschieren, und natürlich Pflegepersonal und Ärzte. Vor allem die schlecht bezahlten Amtsärzte haben häufig polnische Namen. Unzählige Frauen aus den östlichen Ländern arbeiten als Reinigungskraft in bundesdeutschen Haushalten, überwiegend schwarz. Für viele Familien käme es einer Katastrophe gleich, wenn die über Agenturen vermittelten Pflegerinnen, welche die alten, oft dementen Eltern betreuen, plötzlich ausblieben.
Auf den heutigen Sklavenschiffen, die von Nordafrika nach Südeuropa fahren, wird sich kaum eine Hand heben, wenn die Frage auftaucht, ob denn ein Arzt an Bord sei. Hier verfügt niemand über jene Qualifikationen, die so händeringend gesucht werden. Die Passagiere liegen zwar nicht in Ketten und bezahlen ihre Reise selbst – und doch ist die Chance, lebend ans Ziel zu kommen, wahrscheinlich schlechter als vor 250 Jahren. Das liegt am mangelnden Interesse der »Abnehmer«. Dabei sind es nicht die Ärmsten der Armen, welche die gefährliche Route wagen, denn schon die beschwerliche Reise an das südliche Ufer des Mittelmeers kostet viel Geld, ganz zu schweigen von dem Platz im Boot. Aber sie sind nicht erwünscht, das Boot ist voll. Italien, Spanien und Griechenland haben in Dublin den schwarzen Peter gezogen, sie sollen das tun, was heutzutage salopp als »Drecksarbeit« bezeichnet wird. Wer nicht ertrinkt oder schon vorher in der Wüste verdurstet, den erwartet ein prekäres Leben in der Illegalität, in andalusischen Treibhäusern, auf italienischen Tomatenfeldern, oder, schlimmer noch, in hastig eingerichteten menschenunwürdigen Lagern.
Freilich gibt es auch Emigranten, die händeringend gesucht werden. Während die 55-jährige Iranerin, die in Teheran lange als Friseuse gearbeitet hat, eine komplizierte Prüfung bei der Friseurinnung ablegen muss, werden andere Abschlüsse im Schnellverfahren anerkannt. Der albanische Arzt, die brasilianische Krankenschwester müssen lediglich einen Deutschkurs mit Schwerpunkt Medizin belegen, und können danach anfangen. Die Bundesländer, zuständig für die Finanzierung der Studienplätze, haben jahrelang die medizinische Ausbildung vernachlässigt, vor allem das Medizinstudium hat schon seit den 70er Jahren einen strengen Numerus clausus. Ein Student der Humanmedizin kostet pro Jahr ca. 31.690 Euro. Da wundert es nicht, dass irgendwann jemand auf die geniale Idee kam, die Ausbildungskosten auszulagern. So wirbt Deutschland medizinisches Personal ab, vorzugsweise in Ländern, die nicht gerade über einen Überschuss an Krankenpflegern und Ärzten klagen. Mit diesen werden die schon aus den 50er Jahren bekannten »Anwerbeabkommen« geschlossen, natürlich nur für die bekannten Mangelberufe.
Inzwischen kommt fast jede fünfte Pflegekraft aus dem Ausland, das sind ca. 300.000, Tendenz steigend. Das derzeitige Beschäftigungswachstum in der Pflege geht seit 2022 ausschließlich auf ausländisches Personal zurück. Bei den Ärzten lag der Anteil ausländischer Ärzte 2024 bei 15,6 Prozent, das sind 68.100. Vor allem im ländlichen Raum sind der Großteil der neu eingestellten Ärzte Ausländer. Bemerkenswert: Fast 6.500 kommen aus Syrien, einem Land, das bekanntlich unter einer schrecklichen Ärzteschwemme leidet. Übrigens: Albanien verlangt inzwischen von abgeworbenen Pflegekräften und Ärzten vor der Ausreise die Erstattung der Ausbildungskosten. Längst gibt es einen weltweiten Wettbewerb um medizinisches Personal. Deutschland ist zwar attraktiv, aber es hat sich herumgesprochen, dass die deutsche Sprache schwer zu erlernen ist und es in Deutschland Rassismus und Diskriminierung von Ausländern gibt. Da werden andere Länder oft vorgezogen. Probleme gibt es vor allem mit ausländerfeindlichen Patienten, aber auch mit den biodeutschen Kollegen. Umgekehrt emigrieren übrigens auch deutsche Ärzte und Krankenpfleger in Länder wie Schweden und die Schweiz, wo Bezahlung und Arbeitsbedingungen wesentlich attraktiver sind.
Jene, die heute lautstark »Remigration« fordern, scheinen sich bester Gesundheit zu erfreuen und Krankenhäuser nur von Hörensagen zu kennen. Anders ist es nicht zu erklären, wie man auf die Idee kommen kann, jeden auszuweisen, der nicht hier geboren ist. Die vielen oft unsichtbaren Geister, die Putzkräfte aus der Türkei und der Ukraine, der Amazon-Bote aus Uganda, die Pflegerin aus Albanien oder eben die Pflegekräfte und Ärzte aus aller Welt sind längst »systemrelevant« geworden, ohne sie würde nichts mehr funktionieren.
Letztes Jahr habe ich mich – unfreiwillig - einem Selbstversuch unterzogen. Erste Station: Das anthroposophische Krankenhaus in Berlin-Kladow, Kardiologie. Die Stationsärztin kam aus der Türkei, die Putzkraft war Afrikanerin. Zweite Station: Kardiologie Virchow-Krankenhaus in Berlin-Wedding. Der Stationsarzt war Albaner, die Krankenschwester eine junge Türkin, eine Brasilianerin bereitete mich auf die OP vor. Sie war die einzige, deren Deutsch kaum zu verstehen war. Dritte Station: Das Herzzentrum. Die Narkosevorbereitung übernahm eine gut gelaunte Tunesierin, wir unterhielten uns auf Französisch. Vierte Station: Post-OP-Raum: Ein enges Vierbett-Zimmer. Der Stationsarzt ist aus Venezuela, die Schwestern sind fast alle altgedientes routiniertes Personal aus der Vorwendezeit. Das Essen servierte eine Türkin, eine Afrikanerin war für die Zimmerreinigung zuständig. Fünfte Station: Ein Krankenhaus im Berliner Westend, eine Außenstelle des Herzzentrum Berlin für Patienten mit Komplikationen. Auf der Fahrt dorthin betreute mich ein Mann aus Togo. Die dortige Stationsärztin war aus der Türkei, der Physiotherapeut aus Kroatien. Sechste Station: Reha (im tiefsten Brandenburg) Dort kümmerte sich eine pakistanische Ärztin drei Wochen um meine Gesundheit.
Da mich mein bisheriger Kardiologe zwölf Tage vor der Operation als Simulanten nach Hause geschickt hatte, bin ich jetzt in einer Praxis in Berlin-Steglitz. Dort bin ich in Händen eines Kardiologen aus Indien, er ist im Kardiologenteam hauptsächlich für Kassenpatienten wie mich zuständig.
Mein derzeitiger Urologe ist übrigens ein Schwarzafrikaner aus Kenia, der beste, den ich bisher hatte.