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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Über den Missbrauch des Wortes »illegal«

»Vor den Augen der Öffent­lich­keit einen Men­schen zum Pro­blem machen – das ist der erste Akt der Ent­rech­tung.« Die­ser Satz, der Han­nah Are­ndt zuge­schrie­ben wird, trifft mit bru­ta­ler Prä­zi­si­on auf die sprach­po­li­ti­sche Pra­xis zu, mit der in Euro­pa das Phä­no­men der Migra­ti­on behan­delt wird. Wer heu­te in Par­la­ments­re­den, Talk­shows oder Bou­le­vard­me­di­en auf­merk­sam zuhört, stößt auf ein Voka­bu­lar, das weni­ger beschreibt als ver­ur­teilt, weni­ger erklärt als ver­un­glimpft. Im Zen­trum die­ser dis­kur­si­ven Eska­la­ti­on steht ein Begriff, der mit fast magi­scher Wir­kung gan­ze Exi­sten­zen dele­gi­ti­miert: »ille­gal«.

Das Wort ist kurz, schnei­dend, end­gül­tig – und es ist falsch. Es unter­stellt eine Straf­tat, wo kei­ne ist, einen Vor­satz, wo oft Ver­zweif­lung herrscht, und eine Rechts­wid­rig­keit, wo das Recht selbst den Schutz gebie­tet. Die For­mel von der »ille­ga­len Migra­ti­on« hat sich tief in den poli­ti­schen Dis­kurs gefres­sen – nicht als neu­tra­le Beschrei­bung, son­dern als ideo­lo­gi­sche Kampf­an­sa­ge gegen die Idee uni­ver­sel­ler Menschenrechte.

Aber woher stammt die­ser Begriff? Wie wird er poli­tisch, juri­stisch und medi­al ver­wen­det? Wel­che Funk­tio­nen erfüllt er? Und was bedeu­tet sei­ne infla­tio­nä­re Anwen­dung für die Betrof­fe­nen – für die Men­schen, denen nicht Flucht, son­dern Flucht­ur­sa­chen vor­ge­wor­fen werden?

Die Ant­wort basiert auf juri­sti­schen Ana­ly­sen, sprach­kri­ti­schen Stu­di­en und men­schen­recht­li­chen Recher­chen – vor allem von Orga­ni­sa­tio­nen wie Pro Asyl, Amne­sty Inter­na­tio­nal, dem Netz­werk Flücht­lings­for­schung und Cor­rec­tiv. Ihr Ziel ist nicht nur die Ana­ly­se, son­dern auch die poli­ti­sche Ent­waff­nung eines Wor­tes, das nicht nur eine Gren­ze mar­kiert, son­dern eine gefähr­li­che Linie im Kopf zieht: zwi­schen »uns« und »denen«.

I.
»Kein Mensch ist ille­gal.« – Die­ser Satz, der seit den 1990er-Jah­ren auf Pla­ka­ten, Mau­ern und Trans­pa­ren­ten steht, ist kein gefüh­li­ger Appell, son­dern eine prä­zi­se juri­sti­sche Zurück­wei­sung. Denn wer »ille­ga­le Migran­ten« sagt, igno­riert nicht nur sprach­li­che Fein­hei­ten, son­dern ver­kennt gel­ten­des Recht.

Nach der Gen­fer Flücht­lings­kon­ven­ti­on von 1951, dem Zivil­pakt der Ver­ein­ten Natio­nen sowie der Euro­päi­schen Men­schen­rechts­kon­ven­ti­on (EMRK) hat jeder Mensch das Recht, Schutz vor Ver­fol­gung zu suchen – unab­hän­gig von der Art der Ein­rei­se. Auch Arti­kel 16a des Grund­ge­set­zes garan­tiert Asyl für poli­tisch Ver­folg­te, wenn auch mit Ein­schrän­kun­gen durch die soge­nann­ten »siche­ren Drittstaaten«.

Die juri­sti­sche Rea­li­tät ist klar: Die Ein­rei­se zum Zweck der Asyl­be­an­tra­gung ist nicht ille­gal – selbst wenn sie »uner­laubt« im tech­ni­schen Sin­ne geschieht, also ohne Pass, Visum oder über eine »nicht geneh­mig­te« Gren­ze. Die­se Unter­schei­dung ist ent­schei­dend. Denn das Straf­recht macht einen deut­li­chen Unter­schied zwi­schen einer Straf­tat und einer Ord­nungs­wid­rig­keit – und noch ein­mal zwi­schen einer sol­chen und einem men­schen­recht­lich gedeck­ten Verhalten.

Die Ver­wir­rung ent­steht nicht zufäl­lig, son­dern syste­misch. Im Rah­men der Dub­lin-Ver­ord­nun­gen wird Geflüch­te­ten vor­ge­schrie­ben, im »ersten siche­ren EU-Land« Asyl zu bean­tra­gen. Das führt zu absur­den Zustän­den: Wer etwa über Ita­li­en oder Grie­chen­land nach Deutsch­land kommt, gilt for­mal als »uner­laubt ein­ge­reist« – selbst wenn er oder sie in Ita­li­en oder Grie­chen­land nie Schutz oder Blei­be­per­spek­ti­ve hat­te. Das Pro­blem ist also nicht »ille­ga­le Migra­ti­on«, son­dern ein EU-inter­nes Zustän­dig­keits­ping­pong, das Flucht­we­ge kri­mi­na­li­siert, statt sie zu koordinieren.

§95 Auf­ent­halts­ge­setz stellt das Ver­blei­ben ohne gül­ti­gen Auf­ent­halts­ti­tel unter Stra­fe. Doch auch hier gilt: Wer einen Asyl­an­trag stellt, befin­det sich im Ver­fah­ren – und hat bis zur Ent­schei­dung einen lega­len Auf­ent­halts­sta­tus. Auch hier ver­sagt die gän­gi­ge Rhe­to­rik: Denn die »Ille­ga­li­tät« beginnt erst dann, wenn jemand aus­rei­se­pflich­tig wird – und selbst das ist kein Straf­tat­be­stand, son­dern häu­fig Resul­tat einer lan­gen Ket­te aus Behör­den­ver­sa­gen, Ver­fah­rens­wirr­warr und sach­frem­den Härteentscheidungen.

Dass Men­schen in Deutsch­land oder Euro­pa »ille­ga­li­siert« wer­den, ist daher kei­ne Fol­ge ihres Tuns – son­dern der poli­ti­schen Kate­go­ri­sie­rung. Wie die Poli­to­lo­gin Lea Mül­ler-Funk schreibt, ist Ille­ga­li­tät »nicht Eigen­schaft, son­dern Zustand« – ein Sta­tus, der von außen zuge­wie­sen wird. Er mar­kiert nicht eine Tat, son­dern einen Aus­schluss. Und die­ser Aus­schluss hat eine gra­vie­ren­de Kon­se­quenz: Wer als »ille­gal« gilt, hat weni­ger Rech­te – manch­mal gar keine.

II.
Spra­che ist nicht neu­tral. Sie schafft Wirk­lich­keit, formt Wahr­neh­mung und legi­ti­miert Han­deln. Wer den Begriff »ille­ga­le Migra­ti­on« gebraucht, stellt nicht nur eine Kate­go­rie auf – er trifft eine Wer­tung. Die­se seman­ti­sche Ent­schei­dung ist poli­tisch, denn sie signa­li­siert: Da kommt jemand, der sich nicht an Regeln hält, der sich vor­drän­gelt, der nicht dazu­ge­hört.

In kaum einem jour­na­li­sti­schen Bereich wird das deut­li­cher als im Bou­le­vard. Die Bild-Zei­tung titel­te etwa im Okto­ber 2023: »Ille­ga­le Migran­ten stür­men deut­sche Gren­ze – Poli­zei hilf­los!« (Bild, 16.10.2023). Eine fak­ti­sche Grund­la­ge? Fehl­an­zei­ge. Der Begriff »ille­ga­le Migran­ten« wird hier reflex­ar­tig gebraucht, auch wenn es sich um Asyl­be­wer­ber han­del­te, die ihr Men­schen­recht auf Schutz wahr­neh­men woll­ten. Die Wort­wahl sug­ge­riert Grenz­bruch, Inva­si­on, Cha­os. Und sie trägt Früch­te: Stu­di­en der Uni­ver­si­tät Leip­zig zei­gen, dass Men­schen, die regel­mä­ßig Bou­le­vard kon­su­mie­ren, Geflüch­te­te über­durch­schnitt­lich häu­fig mit Kri­mi­na­li­tät und Kon­troll­ver­lust assoziieren.

Doch die eigent­li­che Gefahr lau­ert nicht am äußer­sten Rand, son­dern in der Mit­te des poli­ti­schen Dis­kur­ses. Wenn etwa der CDU-Vor­sit­zen­de Fried­rich Merz im Herbst 2023 von »ille­ga­ler Migra­ti­on in unse­re Sozi­al­sy­ste­me« spricht (Bun­des­tags­re­de vom 27.09.2023), ist das mehr als Pole­mik – es ist rhe­to­ri­scher Dieb­stahl. Denn mit die­ser Wort­wahl über­nimmt Merz den Jar­gon rechts­po­pu­li­sti­scher Bewe­gun­gen, die längst von einem »Asyl-Tou­ris­mus« spre­chen und sug­ge­rie­ren, Schutz­su­chen­de wür­den Sozi­al­lei­stun­gen plün­dern statt Schutz suchen. Die For­mu­lie­rung impli­ziert Betrug – und berei­tet ideo­lo­gisch die Abschot­tungs­po­li­tik vor.

Ein wei­te­res Bei­spiel: Der CSU-Poli­ti­ker Alex­an­der Dob­rindt sprach 2022 im Bun­des­tag von einer »Wel­le ille­ga­ler Armuts­mi­gra­ti­on, die unse­re Ord­nung her­aus­for­dert«. Auch hier wie­der: der Begriff »ille­gal«, ver­bun­den mit einer Wer­tung des Motivs (»Armuts­mi­gra­ti­on«) – als ob Armut kein legi­ti­mer Flucht­grund sei. Dass Armut oft Fol­ge von Krieg, Kli­ma­kri­se, Kor­rup­ti­on oder west­li­cher Außen­wirt­schafts­po­li­tik ist, bleibt ausgeblendet.

Beson­ders alar­mie­rend ist, dass auch öffent­lich-recht­li­che Medi­en die Begrif­fe über­neh­men. So spricht die Tages­schau stän­dig von »ille­ga­ler Ein­rei­se«. Zwar wird gele­gent­lich klar­ge­stellt, dass es sich um eine juri­sti­sche Bewer­tung nach dem Auf­ent­halts­ge­setz han­delt – doch der Begriff wird unkom­men­tiert in Titel und Anmo­de­ra­ti­on über­nom­men. Die Wir­kung bleibt: Der Aus­druck »ille­gal« erzeugt Bil­der von Regel­bruch, von Schuld und von Gefahr. Sprach­lich ent­steht ein Kon­nex zwi­schen Migra­ti­on und Kri­mi­na­li­tät – und die­ser Kon­nex wirkt, selbst wenn er sach­lich falsch ist.

Wie Josef Klein in sei­ner Ana­ly­se »Poli­tik und Rhe­to­rik« (2022) zeigt, ist Spra­che das zen­tra­le Medi­um poli­ti­scher Deu­tungs­ho­heit. Die Wie­der­ho­lung von Begrif­fen schafft Plau­si­bi­li­tät. Wer täg­lich von »ille­ga­ler Migra­ti­on« liest oder hört, wird irgend­wann glau­ben, dass Men­schen ohne gül­ti­ge Papie­re grund­sätz­lich kri­mi­nell sei­en – obwohl das Gegen­teil rich­tig ist: Wer in Not flieht und Asyl bean­tragt, han­delt recht­lich gedeckt und mora­lisch begrün­det.

Der Dis­kurs erzeugt also kei­ne Beschrei­bung, son­dern ein Deu­tungs­an­ge­bot. Und die­ses Deu­tungs­an­ge­bot erfüllt eine Funk­ti­on: Es ver­schiebt die Ver­ant­wor­tung für die Migra­ti­ons­be­we­gun­gen vom glo­ba­len Ungleich­ge­wicht hin zum Indi­vi­du­um. Der Mensch auf der Flucht wird nicht als Opfer, son­dern als Täter beschrie­ben – nicht als Sub­jekt des Schutz­rechts, son­dern als Objekt der Abwehr.

III.
Migra­ti­on ist nicht erst seit der soge­nann­ten »Flücht­lings­kri­se« 2015 ein poli­ti­sches Reiz­the­ma – aber die Art, wie über Migra­ti­on gespro­chen wird, hat sich in den letz­ten Jah­ren deut­lich ver­schärft. Die Spra­che, die einst admi­ni­stra­ti­ve Ord­nung schaf­fen soll­te, ist zum Vehi­kel mora­li­scher Abwer­tung gewor­den. Aus Kon­trol­le wur­de Verachtung.

Die fran­zö­si­sche Poli­tik­wis­sen­schaft­le­rin Cathe­ri­ne Wih­tol de Wen­den spricht von einem »auto­ri­tä­ren Kon­sens« in der euro­päi­schen Migra­ti­ons­po­li­tik: Ein Kon­sens, der sich nicht auf das Recht stützt, son­dern auf Angst. Aus­ge­hend von einem ver­meint­li­chen Kon­troll­ver­lust – ver­stärkt durch media­le Insze­nie­run­gen – ent­steht ein Kli­ma, in dem migra­ti­ons­po­li­ti­sche Här­te nicht mehr als Aus­nah­me, son­dern als Nor­mal­fall gilt.

Die Debat­te ver­schiebt sich so: vom Recht auf Asyl zur Fra­ge, wie schnell abge­scho­ben wird. Vom Schutz vul­nerabler Grup­pen zur Begren­zung von Zuzug. Vom glo­ba­len Nord-Süd-Ver­hält­nis zur »Bela­stungs­gren­ze Deutsch­lands«. Die Ursa­chen von Flucht – Krieg, Aus­beu­tung, Kli­ma­kri­se – ver­schwin­den hin­ter Schlag­wor­ten wie »Pull-Fak­to­ren« oder »Asyl­miss­brauch«.

Mit der seman­ti­schen Auf­la­dung des Begriffs »ille­gal« wird ein gefähr­li­cher Neben­ef­fekt erzeugt: Nicht nur das Ver­hal­ten, son­dern die Per­son wird kri­mi­na­li­siert. Geflüch­te­te wer­den nicht nur als »ille­gal ein­ge­reist«, son­dern als per se ille­gal mar­kiert. Die Adjek­ti­vie­rung wird zur Iden­ti­tät. Das befeu­ert eine mora­li­sche Abwer­tung, die im öffent­li­chen Dis­kurs längst in offe­ne Feind­se­lig­keit umge­schla­gen ist.

Rech­te Grup­pen spre­chen von »Inva­so­ren«, bür­ger­li­che Politiker:innen von »Bevöl­ke­rungs­er­satz« und selbst libe­ra­le Medi­en grei­fen zur Flos­kel »unkon­trol­lier­ter Migra­ti­on«, als ob Migra­ti­on per se ein Risi­ko dar­stel­le. Die­se Rhe­to­rik funk­tio­niert wie eine Schleu­se: Was gestern noch als unak­zep­ta­bel galt, wird heu­te als Real­po­li­tik dis­ku­tiert. Spra­che berei­tet den Boden – für Maß­nah­men, die frü­her undenk­bar schienen.

War­um geschieht die­se Ver­schie­bung? Die Ant­wort ist so ein­fach wie bit­ter: Weil es poli­tisch nütz­lich ist. Migra­ti­on ist das idea­le Pro­jek­ti­ons­feld für gesell­schaft­li­che Äng­ste: öko­no­misch, kul­tu­rell, iden­ti­tär. Wer Kon­trol­le über Migra­ti­on ver­spricht – oder zumin­dest Här­te signa­li­siert –, gewinnt Stim­men. Es ist eine Poli­tik des auto­ri­tä­ren Prag­ma­tis­mus: Wer sich stark zeigt gegen »ille­ga­le Migra­ti­on«, muss nichts erklä­ren zu Woh­nungs­kri­se, Pre­ka­ri­sie­rung, Pfle­ge­not­stand oder Klimapolitik.

Im Schat­ten der Ille­ga­li­sie­rungs­rhe­to­rik gedeiht so eine Sym­bol­po­li­tik, die die Betrof­fe­nen ent­rech­tet, um die Mehr­heits­ge­sell­schaft zu beru­hi­gen. Das funk­tio­niert, weil der media­le Dis­kurs die Begrif­fe der Poli­tik über­nimmt – und weil sich kaum jemand die Mühe macht, zwi­schen Grenz­über­schrei­tung und Rechts­bruch, zwi­schen Flucht­grund und Visare­ge­lung zu unterscheiden.

Die Fol­gen sind fatal. Was als sprach­li­che Ver­schie­bung beginnt, endet in gesell­schaft­li­cher Ver­ro­hung. In Abschie­bun­gen in Kriegs­ge­bie­te. In Haft für Min­der­jäh­ri­ge. In Push­backs im Mit­tel­meer. Die Spra­che geht der Gewalt vor­aus. Der fran­zö­si­sche Sozio­lo­ge Didier Fas­sin nennt das den »kal­ten Tod durch Büro­kra­tie« – eine Mischung aus Indif­fe­renz und Ent­mensch­li­chung, die das Migra­ti­ons­re­gime Euro­pas prägt.

Und doch ist die­se Ent­wick­lung kein Natur­ge­setz. Sie ist das Resul­tat poli­ti­scher Ent­schei­dun­gen – und damit auch veränderbar.

IV.
Wenn Begrif­fe wie »ille­gal« zur All­tags­spra­che wer­den, bleibt das nicht ohne Fol­gen. Die dis­kur­si­ve Abwer­tung von Geflüch­te­ten schafft ein Kli­ma, in dem Gewalt gegen sie nicht nur gedul­det, son­dern struk­tu­rell vor­be­rei­tet wird. Die fol­gen­den Fall­bei­spie­le zei­gen: Die Linie zwi­schen Spra­che und Pra­xis ist schmal – und oft tödlich.

Ein jun­ger Mann aus Eri­trea steht in einem Regio­nal­zug von Frank­furt nach Ful­da. Er ist dun­kel­häu­tig, spricht Deutsch mit Akzent, zeigt ein Ticket. Und trotz­dem wird er kon­trol­liert – nicht von der Bahn, son­dern von der Bun­des­po­li­zei. Der Vor­wurf: Ver­dacht auf »ille­ga­len Auf­ent­halt«. Die­ses Sze­na­rio ist All­tag. Die Poli­zei selek­tiert nicht zufäl­lig, son­dern auf Grund­la­ge »per­so­nen­be­zo­ge­ner Lage­bil­der« – ein Euphe­mis­mus für Racial Profiling.

Zahl­rei­che Gerich­te haben die­ses Vor­ge­hen bereits kri­ti­siert (vgl. VG Koblenz, Urteil vom 28.02.2020, Az. 4 K 123/19.KO), doch die Pra­xis geht wei­ter. War­um? Weil die Sprach­re­ge­lung »ille­ga­le Ein­rei­se« eine stän­di­ge Kon­troll­be­reit­schaft legi­ti­miert. Wer als »ille­gal« gilt, hat kei­ne Unschulds­ver­mu­tung – son­dern ist ver­däch­tig qua Existenz.

In Deutsch­land sit­zen Men­schen mona­te­lang in Haft – ohne Straf­tat, ohne Gerichts­ver­hand­lung, allein auf­grund ihres auf­ent­halts­recht­li­chen Sta­tus. Das nennt sich Abschie­be­haft. Die Begrün­dung: Flucht­ge­fahr. Die Rea­li­tät: Vie­le die­ser Men­schen sind Opfer von Krieg, Fol­ter oder poli­ti­scher Ver­fol­gung. Sie haben Fami­lie hier, Arbeit, Per­spek­ti­ve. Doch das Aus­län­der­recht kennt kei­ne sozi­al­ethi­schen Erwä­gun­gen. Wer als »ille­gal auf­häl­tig« gilt, kann ein­ge­sperrt wer­den – wie ein Verbrecher.

Das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt hat 2011 betont, dass Abschie­be­haft stren­gen Anfor­de­run­gen unter­liegt (BVerfG, Beschluss v. 14.05.2011, 2 BvR 2365/​09). Doch die Pra­xis bleibt restrik­tiv – befeu­ert von einem Dis­kurs, der »ille­gal« nicht als büro­kra­ti­schen Zustand, son­dern als mora­li­sches Urteil versteht.

Beson­ders dra­ma­tisch ist die Lage von Fami­li­en mit Kin­dern. Immer wie­der berich­ten Orga­ni­sa­tio­nen wie Pro Asyl oder terre des hom­mes von Fäl­len, in denen Min­der­jäh­ri­ge mit ihren Eltern in Abschie­be­haft genom­men wer­den – oder nach der Abschie­bung in Lagern oder auf der Stra­ße lan­den. Die Begrün­dung ist stets die­sel­be: feh­len­der Auf­ent­halts­ti­tel, also »ille­ga­le« Anwesenheit.

Ein beson­ders erschüt­tern­der Fall ereig­ne­te sich im März 2023 in Nie­der­sach­sen: Eine Fami­lie aus dem Irak, seit sechs Jah­ren in Deutsch­land, wur­de nachts von der Poli­zei abge­holt. Die Kin­der – elf und vier­zehn Jah­re alt – muss­ten in Hand­schel­len mit ins Flug­zeug. Der Bür­ger­mei­ster des Ortes pro­te­stier­te, selbst die Schu­le zeig­te sich ent­setzt. Doch das zustän­di­ge Innen­mi­ni­ste­ri­um ver­tei­dig­te die Maß­nah­me – mit Ver­weis auf den »nicht lega­len Aufenthalt«.

Am gra­vie­rend­sten aber sind die Fol­gen an den Außen­gren­zen Euro­pas. Immer wie­der doku­men­tie­ren NGOs wie Bor­der Vio­lence Moni­to­ring, Human Rights Watch oder die Ärz­te ohne Gren­zen, wie Geflüch­te­te gewalt­sam zurück über Gren­zen gedrängt wer­den – ohne Ver­fah­ren, ohne Anhö­rung, ohne Rech­te. Die­se soge­nann­ten Push­backs sind völ­ker­rechts­wid­rig, denn sie ver­let­zen das Non-Refou­le­ment-Gebot der Gen­fer Flüchtlingskonvention.

Und doch gesche­hen sie tau­send­fach – auf dem Mit­tel­meer, am Evros, in Kroa­ti­en, in der Saha­ra. Der Begriff »ille­ga­le Migra­ti­on« dient hier als Recht­fer­ti­gung: Wer ille­gal sei, habe kein Recht auf Auf­nah­me. Wer kein Recht auf Auf­nah­me habe, kön­ne auch kei­ne Rech­te gel­tend machen. Die Logik ist per­fi­de – aber sie funk­tio­niert. Weil Spra­che hier zur Grenz­waf­fe wird.

V.
Der Begriff »ille­ga­le Migra­ti­on« ist mehr als nur eine rhe­to­ri­sche Ent­glei­sung – er ist Teil einer Ideo­lo­gie­pro­duk­ti­on, die das Asyl­recht syste­ma­tisch aus­höhlt. Doch die­ser Pro­zess ist kein Schick­sal. Er lässt sich benen­nen, kri­ti­sie­ren – und unter­bre­chen. Über­all in Euro­pa for­mie­ren sich Gegen­be­we­gun­gen, die sich dem toxi­schen Sprach­spiel ver­wei­gern und für men­schen­recht­li­che Inte­gri­tät eintreten.

Die Paro­le »Kein Mensch ist ille­gal« ent­stand 1997 auf der docu­men­ta X in Kas­sel und wur­de rasch zum Leit­satz einer gan­zen Bewe­gung. Was als künst­le­risch-poli­ti­sches State­ment begann, ist heu­te ein weit­ver­zweig­tes Netz­werk aus NGOs, Kir­chen­in­itia­ti­ven, See­not­ret­tern, Stu­die­ren­den­kol­lek­ti­ven und Jurist:innen. Ziel: Den Dis­kurs umdre­hen. Nicht der Mensch sei ille­gal, son­dern das System, das ihn entrechtet.

Pro­jek­te wie See­brücke, Bor­der­line Euro­pe oder die Refu­gee Law Cli­nics lei­sten nicht nur prak­ti­sche Hil­fe, son­dern auch Auf­klä­rungs­ar­beit. Sie zei­gen, dass Recht­spre­chung nicht neu­tral ist, son­dern poli­tisch form­bar – und dass Begrif­fe wie »ille­gal« nicht der Rea­li­tät ent­spre­chen, son­dern deren poli­ti­sche Ver­zer­rung sind.

Ein zen­tra­les Ele­ment der Gegen­stra­te­gie ist die Sprach­kri­tik. Initia­ti­ven wie die »Neu­en deut­schen Medienmacher*innen« oder das Pro­jekt »Cla­im – Alli­anz gegen Islam- und Mus­lim­feind­lich­keit« bie­ten Hand­rei­chun­gen für dis­kri­mi­nie­rungs­sen­si­ble Spra­che, ana­ly­sie­ren Medi­en­be­rich­te und benen­nen ras­si­sti­sche Framings. Sie for­dern einen Per­spek­tiv­wech­sel: vom ver­meint­lich »objek­ti­ven« Sprach­ge­brauch zur refle­xi­ven Medienethik.

Auch juri­sti­sche Orga­ni­sa­tio­nen wie Pro Asyl oder der Deut­sche Anwalt­ver­ein for­dern seit Jah­ren, den Begriff »ille­gal« aus dem offi­zi­el­len Sprach­ge­brauch zu strei­chen – zugun­sten prä­zi­ser, rechts­kon­for­mer Begrif­fe wie »nicht regu­lär«, »ohne Auf­ent­halts­ti­tel« oder »asyl­su­chend«.

In Ein­zel­fäl­len gelingt es auch vor Gericht, den Begriff zu ent­kräf­ten. So hat etwa das Ver­wal­tungs­ge­richt Düs­sel­dorf 2021 ent­schie­den, dass eine Geflüch­te­te aus Afgha­ni­stan nicht als »ille­gal ein­ge­reist« gel­ten kön­ne, da sie durch huma­ni­tä­re Grün­de zur Grenz­über­schrei­tung gezwun­gen war (VG Düs­sel­dorf, Urteil vom 13.08.2021, Az. 9 K 1477/20.A). Auch der Euro­päi­sche Gerichts­hof (EuGH) hat mehr­fach betont, dass Asyl­su­chen­de Anspruch auf ein fai­res Ver­fah­ren haben – unab­hän­gig von ihrem Ein­rei­se­weg (vgl. EuGH, C-36/20).

Doch die Justiz ist kein Auto­ma­tis­mus. Was fehlt, ist eine kla­re poli­ti­sche Linie, die nicht auf Abschreckung, son­dern auf Men­schen­rech­te setzt.

Ein zen­tra­ler Hebel liegt daher in der Rück­erobe­rung der Öffent­lich­keit. Auf­klä­rung muss nicht defen­siv sein – sie kann offen­siv, pole­misch und poe­tisch zugleich sein. Die Kunst, die Lite­ra­tur, das Thea­ter, der inve­sti­ga­ti­ve Jour­na­lis­mus: All die­se For­men kön­nen Räu­me öff­nen, in denen das herr­schen­de Nar­ra­tiv durch­bro­chen wird. Stücke wie Elfrie­de Jelin­eks »Die Schutz­be­foh­le­nen« oder Per­for­man­ces von Milo Rau set­zen genau hier an – sie machen aus »ille­ga­len« Men­schen wie­der sicht­ba­re Subjekte.

Auch alter­na­ti­ve Medi­en wie nd, taz, Ossietzky, jW, MiGA­ZIN oder Ana­ly­se & Kri­tik lei­sten Auf­klä­rungs­ar­beit, die über das »Pro­blem Migra­ti­on« hin­aus­weist – und hin­führt zu einer Kri­tik an glo­ba­ler Ungleich­heit, kapi­ta­li­sti­scher Ver­wer­tung und auto­ri­tä­rer Regierungskunst.

VI.
Spra­che ist nie harm­los. Sie trägt, was Han­nah Are­ndt einst die »Macht der Namens­ge­bung« nann­te – und mit ihr das Pri­vi­leg, zu ent­schei­den, was als nor­mal gilt und was als Abwei­chung. Wer den Begriff »ille­ga­le Migra­ti­on« benutzt, stellt eine sol­che Ent­schei­dung: Er rückt den Men­schen ins Unrecht, bevor geprüft wur­de, ob er ein Recht auf Schutz hat. Er rückt das Asyl­recht vom Zen­trum an den Rand, vom Prin­zip zur Ausnahme.

Dabei ist nichts an Flucht per se »ille­gal«. Ille­gal ist allen­falls das, was im Namen der Sicher­heit geschieht: Push­backs auf hoher See, Abschie­be­haft ohne rich­ter­li­chen Beschluss, Sprach­re­ge­lun­gen, die Men­schen ent­mensch­li­chen, bevor man ihnen je begeg­net ist. Ille­gal ist die Ver­wei­ge­rung von Schutz bei gleich­zei­ti­ger Ver­ant­wor­tung für die Ursa­chen der Flucht.

Der Kampf um Begrif­fe ist also nicht bloß ein aka­de­mi­scher. Er ist kon­kret, exi­sten­zi­ell, poli­tisch. Es geht nicht um Wort­klau­be­rei, son­dern um Men­schen­le­ben. Um das Recht, Rech­te zu haben – unab­hän­gig davon, ob man mit oder ohne Papie­re die Gren­ze übertritt.

Die Rede von der »ille­ga­len Migra­ti­on« kaschiert nicht nur glo­ba­le Ungleich­heit, sie repro­du­ziert sie. Sie ent­la­stet den glo­ba­len Nor­den mora­lisch und lädt die Schuld auf die Schul­tern derer ab, die vor sei­nen Fol­gen flie­hen. Sie ersetzt Ursa­chen­ana­ly­se durch Schuld­ver­mu­tung, Soli­da­ri­tät durch Abwehr.

Wer dage­gen anschreibt, spricht nicht »für die Migran­ten«, son­dern gegen ein System, das den Men­schen zum Risi­ko erklärt. Wer das Wort »ille­gal« hin­ter­fragt, betreibt nicht Rela­ti­vie­rung, son­dern Rekon­struk­ti­on. Eine Rück­ge­win­nung des Poli­ti­schen gegen das Tech­no­kra­ti­sche, des Ethos gegen die Bürokratie.

Denn letzt­lich ist es nicht das Asyl­recht, das Euro­pa bedroht. Es ist die Bereit­schaft, es für Stim­men­ge­winn, Macht­er­halt oder sym­bo­li­sche Sicher­heit zu opfern.

Der Auf­ruf ist klar: Been­den wir das Geschäft mit dem Wort »ille­gal«. Begin­nen wir, das Asyl­recht wie­der als das zu ver­ste­hen, was es ist – ein Akt der Mensch­lich­keit inmit­ten eines unmensch­li­chen Systems.

 

Ausgabe 15.16/2025