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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Unser Wille geschehe!

Das Tak­tie­ren der Euro­pä­er wird immer unver­ständ­li­cher. Es ist offen­sicht­lich, dass die USA das Inter­es­se an dem Krieg ver­lo­ren haben. Die Euro­pä­er wis­sen, dass sie und die Ukrai­ne allein Russ­land nicht besie­gen kön­nen. Aber wis­sen sie selbst, wor­um es ihnen noch geht?

Weder Putin noch Trump haben die Euro­pä­er aus­ge­trickst, son­dern in erster Linie sie sich selbst. Denn sie wol­len die Wirk­lich­keit nicht aner­ken­nen und glau­ben immer noch, im Kon­zert der Gro­ßen mit­spie­len zu kön­nen, sie die ehe­ma­li­gen Kolo­ni­al­her­ren. Sie wol­len nicht wahr­ha­ben, dass sie trotz eige­nem beschei­de­nen Atom­waf­fen­ar­se­nal und ganz guter, aber zer­fran­ster Rüstungs­in­du­strie nur noch Regio­nal­mäch­te sind. Sie den­ken immer noch in Vor­stel­lun­gen alter Grö­ße und wol­len ein­fach nicht aner­ken­nen, dass die USA, Russ­land und Chi­na das Spiel bestimmen.

Die Euro­pä­er schwan­ken im Kon­flikt um die anste­hen­de Frie­dens­re­ge­lung zwi­schen Selbst­über­schät­zung, indem sie glau­ben, Russ­land Bedin­gun­gen stel­len und damit die Füh­rung im Kreml unter Druck set­zen zu kön­nen. Ande­rer­seits wie­der rufen sie klein­mü­tig bei Donald Trump an und ver­su­chen, aus des­sen Wor­ten eine Zustim­mung oder gar Unter­stüt­zung für ihre aus­ge­tüf­tel­ten Plä­ne zu bekommen.

Die euro­päi­schen Schlau­mei­er haben sich näm­lich etwas aus­ge­dacht, womit sie glau­ben, Putin und Russ­land das Heft des Han­delns wie­der aus der Hand schla­gen zu kön­nen, nach­dem der Kreml über­ra­schend Kiew direk­te Ver­hand­lun­gen vor­ge­schla­gen hat­te. Sie ver­su­chen, einen grö­ße­ren Kon­flikt dar­aus zu machen, dass Putin nicht ihrer und Selen­sky­js For­de­rung nach­kommt, in Istan­bul am Ver­hand­lungs­tisch zu erschei­nen. Sie kon­stru­ie­ren dar­aus, dass der Kreml kein Inter­es­se an einer Frie­dens­re­ge­lung habe.

Denn Mos­kaus Ansin­nen, direkt mit Kiew zu ver­han­deln, passt den Euro­pä­ern ganz und gar nicht. Mit dem Vor­schlag einer ein­mo­na­ti­gen Waf­fen­ru­he hat­ten sie Putins Ver­hand­lungs­be­reit­schaft und Frie­dens­wil­len öffent­lich als ver­lo­gen vor­füh­ren wol­len, waren sie sich doch sicher, dass der Kreml dar­auf nicht ein­ge­hen wer­de. Schon bei frü­he­rer Gele­gen­heit hat­te Mos­kau die­ses Dana­er­ge­schenk abge­lehnt. Der Kreml befürch­tet, dass den Ukrai­nern Zeit gege­ben wer­den sol­le, um sich dem rus­si­schen Druck an der Front zu ent­zie­hen. In der Zwi­schen­zeit könn­ten die Euro­pä­er die ukrai­ni­schen Arse­na­le wie­der auf­fül­len. Das hat­ten die Rus­sen auch so der Welt­öf­fent­lich­keit mit­ge­teilt, und die­se schien die rus­si­sche Sicht­wei­se zu verstehen.

Sicher­lich dach­te man in den euro­päi­schen Haupt­städ­ten, Putin mit die­ser For­de­rung nach einer Waf­fen­ru­he am Haken zu haben und ihn so vor der Welt­öf­fent­lich­keit als Bau­ern­fän­ger am Nasen­ring durch die Mane­ge zie­hen zu kön­nen. Nun aber kommt der listi­ge Kreml mit dem Vor­schlag direk­ter Ver­hand­lun­gen um die Ecke. Dar­auf waren die Euro­pä­er nun gar nicht vorbereitet.

Sicher­lich hat­te man damit gerech­net, dass Mos­kau wei­ter­hin bei sei­nem bis­he­ri­gen Stand­punkt blei­ben wür­de, kei­ne Ver­hand­lun­gen mit Selen­skyj zu füh­ren, weil die­ser durch die ukrai­ni­sche Ver­fas­sung nicht mehr legi­ti­miert sei. Nun aber ver­hält sich Russ­land auf ein­mal ganz anders als erwar­tet. Es passt sich den ver­än­der­ten Bedin­gun­gen an. Mit die­ser Wen­dig­keit rus­si­scher Poli­tik konn­te nie­mand rech­nen, der wie die Euro­pä­er in Recht­ha­be­rei und Rach­sucht ver­fan­gen ist.

Denn ihr Pro­blem mit die­sem rus­si­schen Vor­schlag besteht dar­in, dass sie selbst dar­in nicht vor­kom­men. Ande­rer­seits aber ist es ja eigent­lich genau das, was man bis­her immer ver­langt hat­te: Ver­hand­lun­gen auf Augen­hö­he, bei denen die Ukrai­ne nicht über­gan­gen wird. Wie hieß es doch bis­her aus den euro­päi­schen Haupt­städ­ten: »Kei­ne Ver­hand­lun­gen über die Ukrai­ne ohne sie!« Das rus­si­sche Ange­bot ist sogar noch mehr, als man erwar­ten konnte.

Hat­ten die Euro­pä­er sich immer für die Fort­set­zung des Krie­ges aus­ge­spro­chen, damit die Ukrai­ner mit Putin aus einer Posi­ti­on der Stär­ke ver­han­deln kön­nen, so bie­tet der Kreml nun sogar Gesprä­che an, obwohl die Ukrai­ne so schwach ist wie nie zuvor. Das wirft euro­päi­sche Sicht­wei­sen über den Hau­fen. Auch die Behaup­tung, Putin ver­ste­he nur die Spra­che der Gewalt, wird mit dem rus­si­schen Ange­bot als falsch ent­larvt. Und nun das: Ver­hand­lun­gen mit der Ukrai­ne, aber ohne die Europäer.

So war das nun auch wie­der nicht gedacht. Die For­de­rung, dass nichts über die Köp­fe der Ukrai­ner hin­weg ent­schie­den wer­den darf, heißt in Wirk­lich­keit: Es darf nichts über die Köp­fe der Euro­pä­er hin­weg ent­schie­den wer­den. Denn sonst gäbe es kei­nen Grund, gegen Putins Vor­schlag ins Feld zu zie­hen. Das kann man aber nicht öffent­lich sagen. Also kon­stru­iert man nun einen Kon­flikt um die Teil­nah­me Putins an den Istan­bu­ler Gesprä­chen. Dabei ist es doch voll­kom­men nor­mal, dass vor­ab Ver­hand­lun­gen auf unte­rer Ebe­ne geführt wer­den, um am Ende ein Doku­ment zu haben, das dann von den Reprä­sen­tan­ten der Staa­ten unter­zeich­net wird.

Weil man sich mit die­ser Wen­dung der Ereig­nis­se nicht abfin­den kann, dro­hen die Euro­pä­er in voll­kom­me­ner Selbst­über­schät­zung Russ­land mit wei­te­ren Sank­tio­nen. Putin wird schon sehen, was es bedeu­tet, wenn man den Euro­pä­ern nicht gehorcht. Anschei­nend haben sie bis heu­te nicht gemerkt, dass all die vor­an­ge­gan­ge­nen sech­zehn Sank­ti­ons­pa­ke­te, die man als töd­lich für Russ­land dar­ge­stellt hat­te, ihr Ziel bis­her bei wei­tem ver­fehlt haben. Russ­land reagier­te auf die­se voll­mun­di­gen Dro­hun­gen unauf­ge­regt, dass man mit sich nicht in der Spra­che der Ulti­ma­ten reden lasse.

In einem Inter­view mit der Frank­fur­ter All­ge­mei­ne Zei­tung lie­fert der neue deut­sche Außen­mi­ni­ster Johann Wade­phul ein wei­te­res Doku­ment für die Rea­li­täts­fer­ne deut­scher Poli­tik, ver­gleich­bar der sei­ner Vor­gän­ge­rin. Als neu­er Besen scheint er zu glau­ben, mit mar­ki­gen Wor­ten Ent­schlos­sen­heit unter Beweis stel­len zu müs­sen: »Putin muss sich dar­auf ein­rich­ten, dass Euro­pa Gewicht hat und in die­sem Pro­zess eine Rol­le spielt« (FAZ, 14.05.2025). Glaubt er, damit Russ­land Angst ein­ja­gen zu können?

Grö­ßen­wahn und Rach­sucht auf­sei­ten der Euro­pä­er sind der­zeit die größ­ten Hin­der­nis­se und Gefah­ren in die­sem Pro­zess der Frie­dens­fin­dung. Die Ame­ri­ka­ner den­ken an ihren Vor­teil – wirt­schaft­lich wie poli­tisch. Für Trump ste­hen eher die wirt­schaft­li­chen Aus­sich­ten im Vor­der­grund, wes­halb er einen Krieg been­den will, der bis­her nur den Waf­fen­kon­zer­nen nutz­te, die ame­ri­ka­ni­sche Ver­schul­dung aber wei­ter in die Höhe trieb. Biden such­te den poli­ti­schen Vor­teil, indem er Russ­land mili­tä­risch und wirt­schaft­lich zu schwä­chen hoff­te. Er dach­te im Sti­le eines kal­ten Krie­gers der alten Schu­le, für den Putin und Russ­land wei­ter­hin der Haupt­feind sind, so wie es auch die Euro­pä­er immer noch größ­ten­teils zu sehen scheinen.

Die­se aber hat­ten bei die­sem Krieg nichts zu gewin­nen, wenn man ihn sach­lich betrach­tet hät­te, das heißt nicht durch die Bril­le zwei­deu­ti­ger Wer­te, son­dern der eige­nen Inter­es­sen. Das war auch anfangs die Hal­tung der deut­schen Bun­des­re­gie­rung, bis sie dann im moral­ge­trie­be­nen Tau­mel Opfer ihrer eige­nen Wer­te­po­li­tik wur­de und unter wach­sen­dem poli­ti­schem Druck die Zei­ten­wen­de aus­rief. Und da alle Exper­ten und Mei­nungs­ma­cher in ihrer Ver­blen­dung eher den eige­nen Wunsch­träu­men glaub­ten, als die Wirk­lich­keit genau zu unter­su­chen, waren alle fest davon über­zeugt, Russ­land besie­gen und Putin zum Teu­fel jagen zu können.

Nun nach Russ­lands Ange­bot an Kiew, direkt mit­ein­an­der zu ver­han­deln, befürch­ten die Euro­pä­er, im Regen ste­hen­ge­las­sen zu wer­den. Dabei haben auch sie gewal­ti­ge Sum­men in die­sen Krieg gesteckt. Inzwi­schen aber hat Trump sich bereits die Roh­stoff­vor­kom­men der Ukrai­ne unter den Nagel geris­sen, so weit nicht bereits Russ­land die Hand dar­auf hat. In die­ser Lage klingt Wade­phuls Dro­hung, Russ­land ver­schärft ins Gebet zu neh­men, zahn­los, fast lächer­lich. Wie soll das gesche­hen ange­sichts der wir­kungs­lo­sen Sank­tio­nen, der weit­ge­hend leer geräum­ten Arse­na­le und der Vor­be­hal­te, eige­ne Trup­pen in die Ukrai­ne zu schicken?

Den­noch ist Wade­phul unver­bes­ser­lich über­zeugt, weil er aus Trumps Äuße­run­gen Unter­stüt­zung für die euro­päi­schen Plä­ne her­aus­las: »Jetzt gibt es jeden­falls ein neu­es euro­päi­sches Momen­tum, das ist ein Fak­tor in der Welt­po­li­tik, der über­all wahr­ge­nom­men wird. Dazu trägt Deutsch­land bei, weil wir wie­der als Aktiv­po­sten gese­hen wer­den« (FAZ, ebd.).

Meint er die­ses Euro­pa, das von jeder Ver­hand­lung bis­her aus­ge­schlos­sen war? Jenes Euro­pa, das eigent­lich nir­gend­wo mehr ernst genom­men wird, weil es gegen sei­ne eige­nen Inter­es­sen han­delt und vor allem, weil die Welt außer­halb gar nicht mehr erken­nen kann, was eigent­lich das Ziel die­ser euro­päi­schen Poli­tik ist.

Russ­land will mit der Ukrai­ne an den Ver­hand­lun­gen von 2022 anknüp­fen, und zwar in Istan­bul. Die­se Stadt ist sehr sym­bol­träch­tig. Russ­land macht damit nicht nur dort wei­ter, wo man damals auf­ge­hört hat. Es führt gleich­zei­tig auch den Ukrai­nern vor Augen, wo sie heu­te ste­hen, ver­gli­chen mit den Bedin­gun­gen, die bei ihrem letz­ten Tref­fen an die­sem Ort geherrscht hat­ten. Die­se wären für die Ukrai­ner sehr viel gün­sti­ger gewe­sen, hät­ten sie nicht auf die Euro­pä­er und den Rest des poli­ti­schen Westens gehört.

Und es wird auch deut­lich, dass es heu­te wie­der die Euro­pä­er sind, die sich zum Scha­den der Ukrai­ne in die Vor­gän­ge ein­zu­mi­schen ver­su­chen. Was aber haben die euro­päi­schen Super­stra­te­gen Merz, Star­mer und der super­schlaue Macron der Ukrai­ne noch zu bie­ten, was Aus­sicht auf Frie­den, geschwei­ge denn gar den Sieg über Russ­land böte? Man habe einen Plan, glän­zen die gro­ßen Stra­te­gen gegen­über Trump: Man will zwei­glei­sig fah­ren: »eine Waf­fen­ru­he für drei­ßig Tage, um Frie­dens­ver­hand­lun­gen vor­zu­be­rei­ten« (FAZ, 12.05.2025). Der zwei­te Teil besteht dar­in, Putin durch Dro­hun­gen mit Sank­tio­nen zum Ein­len­ken zu zwingen.

Sie schei­nen ernst­haft zu glau­ben, damit eine ganz neue Stra­te­gie gefun­den zu haben, und sie mer­ken nicht, dass sie wei­ter auf dem Weg der bis­he­ri­gen Erfolg­lo­sig­keit tau­meln. Anders als Putin fällt ihnen nichts Neu­es mehr ein, als wei­ter­zu­ma­chen wie bis­her. Zudem steht all das unter dem Vor­be­halt, dass sie Trump auf ihre Sei­te zie­hen kön­nen, anstatt dass die­ser mit Putin ein Ende des Krie­ges aushandelt.

Denn trotz aller voll­mun­di­gen Kraft­meie­rei wis­sen sie, dass sie ohne Ame­ri­ka Russ­land hoff­nungs­los unter­le­gen sind. Aber wahr­ha­ben wol­len sie es nicht und noch weni­ger sich danach ver­hal­ten. Denn immer­hin waren sie einst die Her­ren der Welt, vie­le schei­nen sich wei­ter­hin als Her­ren­men­schen zu füh­len, zumin­dest was die mora­li­sche Über­le­gen­heit angeht. Des­halb gilt in ihren Augen immer noch: Unser Wil­le geschehe.

Rüdi­ger Rauls ist Repro­fo­to­graf und Buch­au­tor. Er betreibt den Blog »Poli­ti­sche Ana­ly­se.«