Es ist, als hätte Philip K. Dick, von Fans PKD genannt, schon früh Theodor W. Adornos »Reflexionen aus dem beschädigten Leben« gelesen und dabei besonders einen Satz aus der Einleitung der Minima Moralia betitelten philosophischen Schrift verinnerlicht: dass, »wer die Wahrheit übers unmittelbare Leben erfahren« wolle, »dessen entfremdeter Gestalt nachforschen« müsse, »den objektiven Mächten, die die individuelle Existenz bis ins Verborgenste bestimmen«.
Philip K. who? Sie glauben, Sie hätten noch nichts von diesem Schriftsteller gehört? Vielleicht erkennen Sie ihn ja an seinen Werken.
»Auf den Planetenkolonien halten die Menschen sich moderne Sklaven: Androiden, perfekte Replikanten aus Fleisch und Blut. Exemplare der Serie Nexus 6 desertieren zur atomar verseuchten Erde. Einer muss die Androiden zur Strecke bringen. Sein Name: Rick Deckard. Sein Beruf: Blade Runner« (aus: Klappentext der erweiterten Neuausgabe, Haffmans Verlag, 1993.).
Der Film Blade Runner des US-amerikanischen Regisseurs Ridley Scott kam im Herbst 1982 in die bundesdeutschen Kinos. Das Drehbuch entstand auf der Grundlage des 1968 erschienenen Dick-Romans »Do Androids Dream of Electric Sheep?« / »Träumen Androiden von elektrischen Schafen?«. Heute ist der Film »Kult« und läuft immer mal wieder in Kinos und im Fernsehen.
»Die Menschen haben den Krieg gegen von ihnen mit künstlicher Intelligenz ausgestattete Maschinen verloren und werden von diesen fortan unter Kontrolle gehalten. Ein junger Hacker, der sich Neo nennt, trifft auf den Widerständler Morpheus, der ihm erklärt, dass die Welt, in der er zu leben glaubt, lediglich eine von den Maschinen entwickelte Computersimulation und er ein gefangener Sklave ist. Morpheus bietet Neo die Befreiung aus dieser Traumwelt, der Matrix, an.«
So startete 1999 der erste Science-Fiction-Film Matrix der Geschwister Lana und Lilly Wachowski, dem drei weitere Teile folgen sollten, der letzte erst 2021. Die Filme wurden inspiriert von Ideen aus Dicks Werken, zum Beispiel von dem Roman Ubik (1969), in dem mehrere Realitätsebenen ineinander verschachtelt sind. Alle Filme sind inzwischen »Kult« und werden regelmäßig in Kinos und im Fernsehen wiederholt.
»Die Handlung spielt im Jahr 2054 in Washington, D.C. Die Ermittler der Abteilung Precrime beschäftigen sogenannte Precogs, mit Medikamenten in einem Zustand zwischen Wachen und Traum gehaltene Personen mit hellseherischen Fähigkeiten. Sie sehen in ihren Visionen zukünftige Morde voraus und benennen Opfer und Täter. Die Polizei nimmt die vorausgesagten zukünftigen Täter ohne Prozesse ›in Verwahrung‹. Doch den Ermittlern wird verschwiegen, dass die Hellsehenden nicht immer die gleiche Zukunft voraussehen, dass es manchmal einen Minderheiten-Bericht gibt.«
2002 kam der Film Minority Report des Regisseurs Steven Spielberg in die deutschen Kinos. Das Drehbuch basiert auf der 1954 geschriebenen und 1956 veröffentlichten gleichnamigen Kurzgeschichte »Der Minderheiten-Bericht«, die 1993 bei Haffmans in Band 7 der Erzählungen Dicks erschienen ist. Auch Minority Report ist inzwischen, ich wiederhole mich, »Kult«.
»In den Träumen des irdischen Bauarbeiters Quaid tauchen immer wieder Erinnerungen auf an ein anderes Leben auf dem Mars. Er nimmt die Dienste des Unternehmens Rekall in Anspruch, das seinen Kunden verspricht, ihnen künstliche, nicht von echten zu unterscheidende Erinnerungen einzupflanzen. Eine brisante Entscheidung, die Zeit und Welt aus den Fugen geraten lässt.«
Total Recall des Regisseurs Paul Verhoeven aus dem Jahr 1990 wurde zu einem Blockbuster, auch dank Arnold Schwarzenegger in der Hauptrolle. Philip K. Dick hat die Kurzgeschichte 1965 geschrieben und 1966 unter dem Titel »We Can Remember it for You Wholesale« veröffentlicht; auf Deutsch als »Erinnerungen en gros« in Band 9 der Sämtlichen Erzählungen zu finden.
All das stammt also, mal mehr, mal weniger, aus literarischen Vorlagen Philip K. Dicks. Ich könnte noch mehr aufzählen: Zum Beispiel kam 2004 die Kurzgeschichte »Paycheck«/»Zahltag« unter demselben Titel ins Kino. Und 2015 diente der Roman »The Man in the High Castle«/»Das Orakel vom Berge« Amazon Prime als Streaming-Vorlage für schließlich vier Staffeln. Ihr Thema: Hitler hat den Zweiten Weltkrieg gewonnen und herrscht zusammen mit Japan über die zweigeteilten USA: Die Westküste ist japanisch, der Osten deutsch. Regisseur war wie bei Blade Runner Ridley Scott, gemeinsam mit dem Akte-X-Spezialisten Frank Spotnitz.
42 Romane und über 100 Kurzgeschichten hat PKD verfasst, in deutlich unterschiedlicher Qualität. Der polnische Schriftsteller und Philosoph Stanislaw Lem (1921-2006) hat sich in seiner fast 1000-seitigen Abhandlung »Phantastik und Futurologie« aus dem Jahr 1964 (1977 im Insel Verlag auf Deutsch erschienen) an einer Theorie der SF-Literatur versucht und sich dabei auch mit Dicks literarischem Mammutwerk befasst:
»Die Domäne Dicks ist der Zerfall, und seine Romane führen aus einer anfänglichen Ordnung zu Zuständen extremer Destruktion. Doch das sind keine tosenden Inferna, die durch Kriege und Kataklysmen verursacht wurden, obwohl Dick auch diese beschreibt. (…) Dick geht sogar noch weiter und zermalmt die Realität der Wirklichkeit. Daher sind seine Werke auch als objektivierte Projektionen innerlicher Zerrissenheit interpretierbar. (…) Dick hat die Basis des Spiels umgekehrt; seine Figuren bleiben trotz der sie umzingelnden Welt innerlich normal, weil diese Welt von Irrsinn geschlagen ist.«
Seit kurzem haben deutsche Leserinnen und Leser die Chance, diesen Autor zu entdecken oder näher kennenzulernen. 32 Jahre nach der Originalausgabe in Französisch ist endlich die romanhafte Biografie des französischen Schriftstellers und Filmregisseurs Emmanuel Carrère in der vorzüglichen Übersetzung von Claudia Hamm auf Deutsch erschienen. Leider hat das Buch trotz der seit seiner französischen Erstauflage verflossenen langen Zeit keine aktualisierende Nachbemerkung erfahren, die diese Jahre des Ruhms erfasst. Dennoch ist eine Stärke des Buches, dass Carrère sowohl die Biografie Dicks als auch die Entstehungsgeschichte und den Inhalt seiner wichtigsten Werke vermittelt und dabei die Dick umtreibenden Fragen herausarbeitet: Wie können wir uns sicher sein, in der Realität zu leben und nicht in einer Simulation? Wer zieht die Fäden? Was, wenn es eine kalte Macht aus Drähten und Metall ist, die das steuert, was wir für wahr halten? Und: «Wenn das Gegenteil des Menschen nicht das Tier oder das Ding ist, sondern ein Simulakrum, ein Roboter« (Dick), führt uns das dazu, »das Menschliche zu verteidigen, wie es Dick tat?« (Claudia Hamm).
Der am 16. Dezember 1928 in Chicago geborene Dick ist am 2. März 1982 im kalifornischen Santa Ana gestorben, ein halbes Jahr bevor der Blade Runner in die Kinos kam und der weltweite Ruhm sich einstellte. Für PKD war Fortschritt ein anderes Wort für Dystopie. In seiner Themenwahl war er visionär, obwohl er den heutigen, weltweit »im Netz« verbreiteten Unfug noch nicht einmal vorausahnen konnte. »Seit im November 2022 die Gratisversion von ChatGPT-4 online gegangen ist«, schreibt die Übersetzerin in ihrem Nachwort, »reißt die breite öffentliche und politische Diskussion um sogenannte Künstliche Intelligenz nicht mehr ab«. Zu den raubkopierten Trainingsdaten, mit denen die Modelle gebaut wurden, habe insbesondere Science-Fiction-Literatur gehört, »darunter ganz vorn Philip K. Dicks Werke«.
Im Roman »Blade Runner« stehen als Vorspruch in Englisch einige Zeilen des irischen Literaturnobelpreisträgers William Butler Yeats (1865-1939). Ich wähle eine deutsche Übersetzung: »Und noch immer träume ich, dass er den Rasen betritt, / Gespenstisch im Tau wandelnd, / Durchdrungen von meinem fröhlichen Gesang.« (Als Quelle habe ich Yeats Gedicht »The Song oft he Happy Shepherd« / »Das Lied vom glücklichen Hirten« identifiziert. Anm. K.N.)
Auch dieses Motto zeigt, dass die Frage vom Sein und vom Nichtsein für Philip K. Dick entschieden war: Das Leben ist ein Traum. Oder, wie ein Graffito in dem Roman Ubik verkündet, nach dem Carrère sein Buch betitelt hat: »Ich lebe und ihr seid tot.«
Emmanuel Carrère: Ich lebe und ihr seid tot, Matthes und Seitz, Berlin 2025, 366 S., 28 €.