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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Vom Sein und vom Nichtsein

Es ist, als hät­te Phil­ip K. Dick, von Fans PKD genannt, schon früh Theo­dor W. Ador­nos »Refle­xio­nen aus dem beschä­dig­ten Leben« gele­sen und dabei beson­ders einen Satz aus der Ein­lei­tung der Mini­ma Mora­lia beti­tel­ten phi­lo­so­phi­schen Schrift ver­in­ner­licht: dass, »wer die Wahr­heit übers unmit­tel­ba­re Leben erfah­ren« wol­le, »des­sen ent­frem­de­ter Gestalt nach­for­schen« müs­se, »den objek­ti­ven Mäch­ten, die die indi­vi­du­el­le Exi­stenz bis ins Ver­bor­gen­ste bestimmen«.

Phil­ip K. who? Sie glau­ben, Sie hät­ten noch nichts von die­sem Schrift­stel­ler gehört? Viel­leicht erken­nen Sie ihn ja an sei­nen Werken.

»Auf den Pla­ne­ten­ko­lo­nien hal­ten die Men­schen sich moder­ne Skla­ven: Andro­iden, per­fek­te Repli­kan­ten aus Fleisch und Blut. Exem­pla­re der Serie Nexus 6 deser­tie­ren zur ato­mar ver­seuch­ten Erde. Einer muss die Andro­iden zur Strecke brin­gen. Sein Name: Rick Deckard. Sein Beruf: Bla­de Run­ner« (aus: Klap­pen­text der erwei­ter­ten Neu­aus­ga­be, Haff­mans Ver­lag, 1993.).

Der Film Bla­de Run­ner des US-ame­ri­ka­ni­schen Regis­seurs Rid­ley Scott kam im Herbst 1982 in die bun­des­deut­schen Kinos. Das Dreh­buch ent­stand auf der Grund­la­ge des 1968 erschie­ne­nen Dick-Romans »Do Andro­ids Dream of Elec­tric Sheep?« /​ »Träu­men Andro­iden von elek­tri­schen Scha­fen?«. Heu­te ist der Film »Kult« und läuft immer mal wie­der in Kinos und im Fernsehen.

»Die Men­schen haben den Krieg gegen von ihnen mit künst­li­cher Intel­li­genz aus­ge­stat­te­te Maschi­nen ver­lo­ren und wer­den von die­sen fort­an unter Kon­trol­le gehal­ten. Ein jun­ger Hacker, der sich Neo nennt, trifft auf den Wider­ständ­ler Mor­pheus, der ihm erklärt, dass die Welt, in der er zu leben glaubt, ledig­lich eine von den Maschi­nen ent­wickel­te Com­pu­ter­si­mu­la­ti­on und er ein gefan­ge­ner Skla­ve ist. Mor­pheus bie­tet Neo die Befrei­ung aus die­ser Traum­welt, der Matrix, an.«

So star­te­te 1999 der erste Sci­ence-Fic­tion-Film Matrix der Geschwi­ster Lana und Lil­ly Wachow­ski, dem drei wei­te­re Tei­le fol­gen soll­ten, der letz­te erst 2021. Die Fil­me wur­den inspi­riert von Ideen aus Dicks Wer­ken, zum Bei­spiel von dem Roman Ubik (1969), in dem meh­re­re Rea­li­täts­ebe­nen inein­an­der ver­schach­telt sind. Alle Fil­me sind inzwi­schen »Kult« und wer­den regel­mä­ßig in Kinos und im Fern­se­hen wiederholt.

»Die Hand­lung spielt im Jahr 2054 in Washing­ton, D.C. Die Ermitt­ler der Abtei­lung Pre­crime beschäf­ti­gen soge­nann­te Pre­co­gs, mit Medi­ka­men­ten in einem Zustand zwi­schen Wachen und Traum gehal­te­ne Per­so­nen mit hell­se­he­ri­schen Fähig­kei­ten. Sie sehen in ihren Visio­nen zukünf­ti­ge Mor­de vor­aus und benen­nen Opfer und Täter. Die Poli­zei nimmt die vor­aus­ge­sag­ten zukünf­ti­gen Täter ohne Pro­zes­se ›in Ver­wah­rung‹. Doch den Ermitt­lern wird ver­schwie­gen, dass die Hell­se­hen­den nicht immer die glei­che Zukunft vor­aus­se­hen, dass es manch­mal einen Min­der­hei­ten-Bericht gibt.«

2002 kam der Film Mino­ri­ty Report des Regis­seurs Ste­ven Spiel­berg in die deut­schen Kinos. Das Dreh­buch basiert auf der 1954 geschrie­be­nen und 1956 ver­öf­fent­lich­ten gleich­na­mi­gen Kurz­ge­schich­te »Der Min­der­hei­ten-Bericht«, die 1993 bei Haff­mans in Band 7 der Erzäh­lun­gen Dicks erschie­nen ist. Auch Mino­ri­ty Report ist inzwi­schen, ich wie­der­ho­le mich, »Kult«.

»In den Träu­men des irdi­schen Bau­ar­bei­ters Quaid tau­chen immer wie­der Erin­ne­run­gen auf an ein ande­res Leben auf dem Mars. Er nimmt die Dien­ste des Unter­neh­mens Rekall in Anspruch, das sei­nen Kun­den ver­spricht, ihnen künst­li­che, nicht von ech­ten zu unter­schei­den­de Erin­ne­run­gen ein­zu­pflan­zen. Eine bri­san­te Ent­schei­dung, die Zeit und Welt aus den Fugen gera­ten lässt.«

Total Recall des Regis­seurs Paul Ver­hoe­ven aus dem Jahr 1990 wur­de zu einem Block­bu­ster, auch dank Arnold Schwar­zen­eg­ger in der Haupt­rol­le. Phil­ip K. Dick hat die Kurz­ge­schich­te 1965 geschrie­ben und 1966 unter dem Titel »We Can Remem­ber it for You Who­le­sa­le« ver­öf­fent­licht; auf Deutsch als »Erin­ne­run­gen en gros« in Band 9 der Sämt­li­chen Erzäh­lun­gen zu finden.

All das stammt also, mal mehr, mal weni­ger, aus lite­ra­ri­schen Vor­la­gen Phil­ip K. Dicks. Ich könn­te noch mehr auf­zäh­len: Zum Bei­spiel kam 2004 die Kurz­ge­schich­te »Paycheck«/»Zahltag« unter dem­sel­ben Titel ins Kino. Und 2015 dien­te der Roman »The Man in the High Castle«/»Das Ora­kel vom Ber­ge« Ama­zon Prime als Strea­ming-Vor­la­ge für schließ­lich vier Staf­feln. Ihr The­ma: Hit­ler hat den Zwei­ten Welt­krieg gewon­nen und herrscht zusam­men mit Japan über die zwei­ge­teil­ten USA: Die West­kü­ste ist japa­nisch, der Osten deutsch. Regis­seur war wie bei Bla­de Run­ner Rid­ley Scott, gemein­sam mit dem Akte-X-Spe­zia­li­sten Frank Spotnitz.

42 Roma­ne und über 100 Kurz­ge­schich­ten hat PKD ver­fasst, in deut­lich unter­schied­li­cher Qua­li­tät. Der pol­ni­sche Schrift­stel­ler und Phi­lo­soph Sta­nis­law Lem (1921-2006) hat sich in sei­ner fast 1000-sei­ti­gen Abhand­lung »Phan­ta­stik und Futu­ro­lo­gie« aus dem Jahr 1964 (1977 im Insel Ver­lag auf Deutsch erschie­nen) an einer Theo­rie der SF-Lite­ra­tur ver­sucht und sich dabei auch mit Dicks lite­ra­ri­schem Mam­mut­werk befasst:

»Die Domä­ne Dicks ist der Zer­fall, und sei­ne Roma­ne füh­ren aus einer anfäng­li­chen Ord­nung zu Zustän­den extre­mer Destruk­ti­on. Doch das sind kei­ne tosen­den Infer­na, die durch Krie­ge und Katak­lysmen ver­ur­sacht wur­den, obwohl Dick auch die­se beschreibt. (…) Dick geht sogar noch wei­ter und zer­malmt die Rea­li­tät der Wirk­lich­keit. Daher sind sei­ne Wer­ke auch als objek­ti­vier­te Pro­jek­tio­nen inner­li­cher Zer­ris­sen­heit inter­pre­tier­bar. (…) Dick hat die Basis des Spiels umge­kehrt; sei­ne Figu­ren blei­ben trotz der sie umzin­geln­den Welt inner­lich nor­mal, weil die­se Welt von Irr­sinn geschla­gen ist.«

Seit kur­zem haben deut­sche Lese­rin­nen und Leser die Chan­ce, die­sen Autor zu ent­decken oder näher ken­nen­zu­ler­nen. 32 Jah­re nach der Ori­gi­nal­aus­ga­be in Fran­zö­sisch ist end­lich die roman­haf­te Bio­gra­fie des fran­zö­si­schen Schrift­stel­lers und Film­re­gis­seurs Emma­nu­el Car­rè­re in der vor­züg­li­chen Über­set­zung von Clau­dia Hamm auf Deutsch erschie­nen. Lei­der hat das Buch trotz der seit sei­ner fran­zö­si­schen Erst­auf­la­ge ver­flos­se­nen lan­gen Zeit kei­ne aktua­li­sie­ren­de Nach­be­mer­kung erfah­ren, die die­se Jah­re des Ruhms erfasst. Den­noch ist eine Stär­ke des Buches, dass Car­rè­re sowohl die Bio­gra­fie Dicks als auch die Ent­ste­hungs­ge­schich­te und den Inhalt sei­ner wich­tig­sten Wer­ke ver­mit­telt und dabei die Dick umtrei­ben­den Fra­gen her­aus­ar­bei­tet: Wie kön­nen wir uns sicher sein, in der Rea­li­tät zu leben und nicht in einer Simu­la­ti­on? Wer zieht die Fäden? Was, wenn es eine kal­te Macht aus Dräh­ten und Metall ist, die das steu­ert, was wir für wahr hal­ten? Und: «Wenn das Gegen­teil des Men­schen nicht das Tier oder das Ding ist, son­dern ein Simu­lak­rum, ein Robo­ter« (Dick), führt uns das dazu, »das Mensch­li­che zu ver­tei­di­gen, wie es Dick tat?« (Clau­dia Hamm).

Der am 16. Dezem­ber 1928 in Chi­ca­go gebo­re­ne Dick ist am 2. März 1982 im kali­for­ni­schen San­ta Ana gestor­ben, ein hal­bes Jahr bevor der Bla­de Run­ner in die Kinos kam und der welt­wei­te Ruhm sich ein­stell­te. Für PKD war Fort­schritt ein ande­res Wort für Dys­to­pie. In sei­ner The­men­wahl war er visio­när, obwohl er den heu­ti­gen, welt­weit »im Netz« ver­brei­te­ten Unfug noch nicht ein­mal vor­aus­ah­nen konn­te. »Seit im Novem­ber 2022 die Gra­tis­ver­si­on von ChatGPT-4 online gegan­gen ist«, schreibt die Über­set­ze­rin in ihrem Nach­wort, »reißt die brei­te öffent­li­che und poli­ti­sche Dis­kus­si­on um soge­nann­te Künst­li­che Intel­li­genz nicht mehr ab«. Zu den raub­ko­pier­ten Trai­nings­da­ten, mit denen die Model­le gebaut wur­den, habe ins­be­son­de­re Sci­ence-Fic­tion-Lite­ra­tur gehört, »dar­un­ter ganz vorn Phil­ip K. Dicks Werke«.

Im Roman »Bla­de Run­ner« ste­hen als Vor­spruch in Eng­lisch eini­ge Zei­len des iri­schen Lite­ra­tur­no­bel­preis­trä­gers Wil­liam But­ler Yeats (1865-1939). Ich wäh­le eine deut­sche Über­set­zung: »Und noch immer träu­me ich, dass er den Rasen betritt, /​ Gespen­stisch im Tau wan­delnd, /​ Durch­drun­gen von mei­nem fröh­li­chen Gesang.« (Als Quel­le habe ich Yeats Gedicht »The Song oft he Hap­py She­p­herd« /​ »Das Lied vom glück­li­chen Hir­ten« iden­ti­fi­ziert. Anm. K.N.)

Auch die­ses Mot­to zeigt, dass die Fra­ge vom Sein und vom Nicht­sein für Phil­ip K. Dick ent­schie­den war: Das Leben ist ein Traum. Oder, wie ein Graf­fi­to in dem Roman Ubik ver­kün­det, nach dem Car­rè­re sein Buch beti­telt hat: »Ich lebe und ihr seid tot.«

 Emma­nu­el Car­rè­re: Ich lebe und ihr seid tot, Matthes und Seitz, Ber­lin 2025, 366 S., 28 €.