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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Von Odessa nach Berlin

In der Gemäl­de­ga­le­rie der Staat­li­chen Muse­en zu Ber­lin ist eine hoch finan­zier­te Son­der­aus­stel­lung ange­lau­fen. Sie führt durch vier­hun­dert Jah­re Male­rei. Bestückt wird der Par­cours mit Leih­ga­ben aus dem »West-Öst­li­chen Muse­um« von Odes­sa. Ein Gang wie die­ser durch die Kunst­ge­schich­te macht mal rich­ti­gen Spaß. Nichts dar­in ist lang­wei­lig. Im aus­ge­hen­den Mit­tel­al­ter häuf­ten sich Dar­stel­lun­gen von Lastern. Als Sum­me buß­fer­ti­ger und ver­bor­ge­ner Lüste schuf Hie­ro­ny­mus Bosch um 1500 sein meter­lan­ges Tri­pty­chon, den »Gar­ten der Lüste«, heu­te im Madri­der Pra­do. Das war damals eine gran­dio­se Abrech­nung mit dem Mit­tel­al­ter. Im hier vor­ge­stell­ten Odes­saer Kon­vo­lut wird das Regi­ster der Sie­ben Tod­sün­den und Fünf Kar­di­nal­tu­gen­den gewis­ser­ma­ßen aus­ge­brei­tet. Was Jahr­hun­der­te ver­bo­ten war, ist alles auf ein­mal da. Neid, Völ­le­rei, Hab­gier, Unzucht, Träg­heit und Zorn, der voll­stän­di­ge Kata­log. Jede Sün­de gebiert ihre Tugend. Die Prä­sen­ta­ti­on bie­tet mit ihrem kunst­hi­sto­risch unver­stell­ten und viel­sei­ti­gen Zugang vie­le Über­ra­schun­gen. Ermög­licht hat die­ses Ereig­nis, zugleich ein deut­sches Soli­da­ri­täts­pro­jekt, das Odes­saer »Muse­um für West­li­che und Öst­li­che Kunst«, obwohl das süd­ukrai­ni­sche Muse­um kaum über Alt­be­stän­de ver­fügt, son­dern vor­wie­gend Samm­ler­nach­läs­se und Gemäl­de aus der Uni­ver­si­täts­samm­lung ver­wal­tet sowie das Weni­ge, was der Kunst­han­del im 19.Jahrhundert noch feilhielt.

Die­ser eng begrenz­te Bestand hat Grün­de. Ein­mal ist Odes­sa eine spä­te Stadt- und Hafen­grün­dung aus dem Jahr 1794. Katha­ri­na die Gro­ße hat­te im Krim­krieg über die Hohe Pfor­te gesiegt. Sie woll­te die nörd­li­che Schwarz­meer­kü­ste vor wei­te­ren Ein­fäl­len sichern. Denn das Gebiet gehör­te 400 Jah­re zum Osma­ni­schen Reich. Das Hin­ter­land hat für die Samm­lung west­li­cher Kunst nichts her­ge­ge­ben. Die Stadt ist rasch mul­ti­eth­nisch besie­delt wor­den, von Juden, Grie­chen, Rus­sen, Fran­zo­sen, Spa­ni­ern und Ukrai­nern. Das Han­dels­zen­trum stieg in kür­ze­ster Zeit zu einer Welt­han­dels­me­tro­po­le auf. Die­ser Schmelz­tie­gel der Kul­tu­ren stellt für Kunst­samm­lun­gen natur­ge­mäß ein Pro­blem dar. Vor­ge­stellt wer­den drei Samm­lun­gen von Adli­gen, die im Kriegs­ge­schäft und Getrei­de­han­del der Hafen-, Han­dels- und Gar­ni­sons­stadt Odes­sa reich gewor­den waren.

Eini­ge pri­va­te Samm­ler wer­den gezeigt, das sind Graf Micha­el Woron­zow, Gene­ral­gou­ver­neur von Neu­russ­land mit Sitz in Odes­sa, die Sän­ge­rin Emi­lia Bold­ri­ni, sie bril­lier­te an der Gro­ßen Oper, geschaf­fen nach dem Ent­wurf des Wie­ner Archi­tek­ten Fell­ner d. J., Bischof Wiken­tij Lyps­kij, Grün­der einer Mal­schu­le, sowie Hele­na Tol­stoi. Alle haben ihren Sam­mel­vor­lie­ben gefrönt, sind nicht dem kunst­hi­sto­ri­schen Kanon gefolgt. Im Kunst­han­del war jedoch erst­ran­gi­ge Male­rei nicht mehr zu erwer­ben. Im Muse­ums­be­stand sind heu­te daher vor allem Wer­ke der zwei­ten und drit­ten kunst­hi­sto­ri­schen Gar­ni­tur, also Mit­tel­maß. Dafür hat sich ein über­grei­fen­des The­ma nicht ergeben.

Ja, man kann in die­ser Aus­stel­lung eini­gen Epo­chen euro­päi­scher Male­rei fol­gen. Das »Muse­um für West­li­che und Öst­li­che Kunst« hat der Gemäl­de­ga­le­rie im Kul­tur­fo­rum eine gro­ße Aus­wahl sei­ner Samm­lungs­be­stän­de ita­lie­ni­scher, hol­län­di­scher, flä­mi­scher und fran­zö­si­scher Male­rei zur Ver­fü­gung gestellt. Sinn und Zweck der Gabe war es, ange­sichts des 100jährigen Odes­saer Muse­ums­ju­bi­lä­ums 2023 einem Kon­vo­lut von rund hun­dert, meist Groß­for­ma­ten über die Kriegs­zeit hin­weg die Not­aus­la­ge­rung in Odes­sa zu erspa­ren und es nach Deutsch­land zu brin­gen, Bil­der zu restau­rie­ren, Künst­ler­zu­schrei­bun­gen und Inven­ta­ri­sie­run­gen zu über­prü­fen, um der Öffent­lich­keit ein attrak­ti­ves Ergeb­nis zu prä­sen­tie­ren. Ent­stan­den ist ein Soli­da­ri­täts­pro­jekt der Staat­li­chen Muse­en zu Ber­lin für die Ukrai­ne. Clau­dia Roth, Beauf­trag­te der Bun­des­re­gie­rung für Kul­tur und Medi­en, und Bun­des­prä­si­dent Frank-Wal­ter Stein­mei­er, der sich als Schirm­herr zur Ver­fü­gung stellt, haben für groß­zü­gi­ge finan­zi­el­le Mit­tel gesorgt, so dass ein hoch­ran­gi­ges Staats­pro­jekt ent­ste­hen konn­te. Ange­sichts der Rie­sen­auf­ga­be, denen sich deut­sche Ver­an­stal­ter gestellt haben, wur­de noch eins drauf­ge­setzt: In ihrem zehn­sei­ti­gen Ein­gangs­text »Vor­wort und Dank­sa­gung« schreibt die Direk­to­rin der Gemäl­de­ga­le­rie, Dag­mar Hirsch­fel­der: »Aus Soli­da­ri­tät mit unse­ren ukrai­ni­schen Projektpartner:innen haben wir uns für die an das Ukrai­ni­sche ange­lehn­te Schreib­wei­se der Stadt ›Ode­sa‹ entschieden.«

Doch wie schwie­rig, auch pro­ble­ma­tisch ist das Pro­jekt in der Tat? Was kann man erwar­ten von einer so jun­gen Muse­ums­stadt? Erst recht, was dar­aus machen für eine Aus­stel­lung in einer der bedeu­tend­sten deut­schen Gemäl­de­ga­le­rien? Eine Idee war von Fach­leu­ten bald her­aus­kla­mü­se­rt. Zur Aus­wahl der sechs­und­sieb­zig Odes­saer Gemäl­de wur­den sie­ben­und­drei­ßig Gemäl­de aus eige­nen Bestän­den hin­zu­ge­fügt. Das ergab zusam­men fast hun­dert Bil­der. Aber wie macht man dar­aus ein Ensemble?

Um nicht mit der Tür ins Haus zu fal­len, hielt dazu der kunst­hi­sto­ri­sche Kanon den Schlüs­sel in der Hand. Die Geschich­te der euro­päi­schen Male­rei wird in neun The­men­krei­sen, streng nach iko­no­gra­phi­schen Kate­go­rien, auf­ge­schla­gen. Und die­ser Gang durch die Kunst­ge­schich­te macht gro­ßen Spaß.

Was wur­de denn gesam­melt? Die älte­sten Bil­der ver­eh­ren Maria als Him­mels­kö­ni­gin. Ein Muss in der Kunst­ge­schich­te. In Odes­sa war Maria nur noch zu haben mit dem Jesus­kna­ben im Rosen­hag oder im Hor­tus con­clus­us, wo himm­li­scher Glanz beson­ders hell leuch­tet. Es fol­gen die »bibli­schen und mytho­lo­gi­schen Histo­ri­en aus Ita­li­en«, dar­un­ter ein schwer erträg­li­cher Ecce Homo von Ber­nar­do Stroz­zi und gleich dane­ben Stroz­zis »Johan­nes­schüs­sel« aus der Ber­li­ner Gemäl­de­ga­le­rie. »Johan­nes­schüs­sel« ist ein hoch­ero­ti­sches iko­no­gra­phi­sches Bild­mu­ster, wo der blu­ten­de Kopf von Johan­nes auf einer Sil­ber­scha­le liegt und Salo­me end­lich den ver­wei­ger­ten Kuss auf des­sen Lip­pen pres­sen kann. Die wil­de Geschich­te vom Beth­leh­emi­ti­schen Kin­der­mord in uner­träg­li­cher Nahan­sicht von Anto­nio Alber­ti. In den Nie­der­lan­den wird gern die sünd­haf­te alt­te­sta­men­ta­ri­sche Geschich­te von »Lot und sei­nen Töch­tern« vor­ge­führt. Lots Töch­ter haben die Flucht aus dem bren­nen­den, ver­ruch­ten Nini­ve geschafft, und weil nun kei­ne Män­ner mehr da sind, schla­fen sie mit ihrem trun­ke­nen Vater. Der weib­li­che Akt ist damit ins Spiel gelangt. Neben einem anony­men »Mei­ster aus Ant­wer­pen« stellt die Gemäl­de­ga­le­rie ihren noch viel attrak­ti­ve­ren »Lot mit sei­nen Töch­tern« dane­ben, von Joa­chim Anto­nisz Wte­wa­el. Das Spek­trum der hol­län­di­schen Gen­re­ma­le­rei ist breit ver­tre­ten: zügel­lo­se Feste, Knei­pen, Sau­fe­rei­en, Bor­del­le und das unfei­ne Bau­ern­le­ben. Wird es ange­pran­gert oder bewun­dert? Ruhig dane­ben ste­hen flä­mi­sche Still­le­ben mit luxu­ri­ös auf­be­rei­te­ten Lebens­mit­teln für Spei­sen nach bur­gun­di­scher Art. Es läuft einem das Was­ser im Mund zusam­men. Sehn­suchtsor­te tun sich auf: schö­ne Land­schaf­ten und das städ­ti­sche Durch­ein­an­der. Am Ende feh­len nicht die im Kunst­han­del des spä­ten 19. Jahr­hun­derts reich­lich vor­han­de­nen fran­zö­si­schen Impres­sio­ni­sten, hier »Licht und Far­be« Maler genannt. Sogar ein Bild von Max von Gabri­el ist dabei, dem sym­bo­li­sti­schen Münch­ner Aka­de­mi­ker neben Karl von Pilo­ty. Zu vie­len Malern aus Odes­sa fand sich in Ber­lin ein noch schö­ne­res Bild. Zu jedem iko­no­gra­phi­schen The­ma immer eine bes­se­re Vari­an­te aus den Ber­li­ner Bestän­den. Zu jedem Ori­gi­nal­bild aus Odes­sa sind ein oder zwei Wer­ke aus Eigen­be­stand gehängt. Jedes Werk wird mit Kom­men­ta­ren in drei Spra­chen, deutsch, eng­lisch und ukrai­nisch, beglei­tet. Jedes ukrai­ni­sche Groß­for­mat hat einen herr­li­chen brei­ten Holz­rah­men erhal­ten. Auf einer Wand­ta­fel, auf die jeder Besu­cher eine Glanz­post­kar­te hef­ten kann, wird deut­lich, welch gro­ße Wel­le der Begei­ste­rung die­se Aus­stel­lung schon beim ukrai­ni­schen Publi­kum aus­ge­löst hat.

Bis 22. Juni 2025 in der Gemäl­de­ga­le­rie im Kul­tur­fo­rum am Kem­per­platz, Kata­log im Hirm­er Ver­lag Mün­chen, 32 €.