In der Gemäldegalerie der Staatlichen Museen zu Berlin ist eine hoch finanzierte Sonderausstellung angelaufen. Sie führt durch vierhundert Jahre Malerei. Bestückt wird der Parcours mit Leihgaben aus dem »West-Östlichen Museum« von Odessa. Ein Gang wie dieser durch die Kunstgeschichte macht mal richtigen Spaß. Nichts darin ist langweilig. Im ausgehenden Mittelalter häuften sich Darstellungen von Lastern. Als Summe bußfertiger und verborgener Lüste schuf Hieronymus Bosch um 1500 sein meterlanges Triptychon, den »Garten der Lüste«, heute im Madrider Prado. Das war damals eine grandiose Abrechnung mit dem Mittelalter. Im hier vorgestellten Odessaer Konvolut wird das Register der Sieben Todsünden und Fünf Kardinaltugenden gewissermaßen ausgebreitet. Was Jahrhunderte verboten war, ist alles auf einmal da. Neid, Völlerei, Habgier, Unzucht, Trägheit und Zorn, der vollständige Katalog. Jede Sünde gebiert ihre Tugend. Die Präsentation bietet mit ihrem kunsthistorisch unverstellten und vielseitigen Zugang viele Überraschungen. Ermöglicht hat dieses Ereignis, zugleich ein deutsches Solidaritätsprojekt, das Odessaer »Museum für Westliche und Östliche Kunst«, obwohl das südukrainische Museum kaum über Altbestände verfügt, sondern vorwiegend Sammlernachlässe und Gemälde aus der Universitätssammlung verwaltet sowie das Wenige, was der Kunsthandel im 19.Jahrhundert noch feilhielt.
Dieser eng begrenzte Bestand hat Gründe. Einmal ist Odessa eine späte Stadt- und Hafengründung aus dem Jahr 1794. Katharina die Große hatte im Krimkrieg über die Hohe Pforte gesiegt. Sie wollte die nördliche Schwarzmeerküste vor weiteren Einfällen sichern. Denn das Gebiet gehörte 400 Jahre zum Osmanischen Reich. Das Hinterland hat für die Sammlung westlicher Kunst nichts hergegeben. Die Stadt ist rasch multiethnisch besiedelt worden, von Juden, Griechen, Russen, Franzosen, Spaniern und Ukrainern. Das Handelszentrum stieg in kürzester Zeit zu einer Welthandelsmetropole auf. Dieser Schmelztiegel der Kulturen stellt für Kunstsammlungen naturgemäß ein Problem dar. Vorgestellt werden drei Sammlungen von Adligen, die im Kriegsgeschäft und Getreidehandel der Hafen-, Handels- und Garnisonsstadt Odessa reich geworden waren.
Einige private Sammler werden gezeigt, das sind Graf Michael Woronzow, Generalgouverneur von Neurussland mit Sitz in Odessa, die Sängerin Emilia Boldrini, sie brillierte an der Großen Oper, geschaffen nach dem Entwurf des Wiener Architekten Fellner d. J., Bischof Wikentij Lypskij, Gründer einer Malschule, sowie Helena Tolstoi. Alle haben ihren Sammelvorlieben gefrönt, sind nicht dem kunsthistorischen Kanon gefolgt. Im Kunsthandel war jedoch erstrangige Malerei nicht mehr zu erwerben. Im Museumsbestand sind heute daher vor allem Werke der zweiten und dritten kunsthistorischen Garnitur, also Mittelmaß. Dafür hat sich ein übergreifendes Thema nicht ergeben.
Ja, man kann in dieser Ausstellung einigen Epochen europäischer Malerei folgen. Das »Museum für Westliche und Östliche Kunst« hat der Gemäldegalerie im Kulturforum eine große Auswahl seiner Sammlungsbestände italienischer, holländischer, flämischer und französischer Malerei zur Verfügung gestellt. Sinn und Zweck der Gabe war es, angesichts des 100jährigen Odessaer Museumsjubiläums 2023 einem Konvolut von rund hundert, meist Großformaten über die Kriegszeit hinweg die Notauslagerung in Odessa zu ersparen und es nach Deutschland zu bringen, Bilder zu restaurieren, Künstlerzuschreibungen und Inventarisierungen zu überprüfen, um der Öffentlichkeit ein attraktives Ergebnis zu präsentieren. Entstanden ist ein Solidaritätsprojekt der Staatlichen Museen zu Berlin für die Ukraine. Claudia Roth, Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, der sich als Schirmherr zur Verfügung stellt, haben für großzügige finanzielle Mittel gesorgt, so dass ein hochrangiges Staatsprojekt entstehen konnte. Angesichts der Riesenaufgabe, denen sich deutsche Veranstalter gestellt haben, wurde noch eins draufgesetzt: In ihrem zehnseitigen Eingangstext »Vorwort und Danksagung« schreibt die Direktorin der Gemäldegalerie, Dagmar Hirschfelder: »Aus Solidarität mit unseren ukrainischen Projektpartner:innen haben wir uns für die an das Ukrainische angelehnte Schreibweise der Stadt ›Odesa‹ entschieden.«
Doch wie schwierig, auch problematisch ist das Projekt in der Tat? Was kann man erwarten von einer so jungen Museumsstadt? Erst recht, was daraus machen für eine Ausstellung in einer der bedeutendsten deutschen Gemäldegalerien? Eine Idee war von Fachleuten bald herausklamüsert. Zur Auswahl der sechsundsiebzig Odessaer Gemälde wurden siebenunddreißig Gemälde aus eigenen Beständen hinzugefügt. Das ergab zusammen fast hundert Bilder. Aber wie macht man daraus ein Ensemble?
Um nicht mit der Tür ins Haus zu fallen, hielt dazu der kunsthistorische Kanon den Schlüssel in der Hand. Die Geschichte der europäischen Malerei wird in neun Themenkreisen, streng nach ikonographischen Kategorien, aufgeschlagen. Und dieser Gang durch die Kunstgeschichte macht großen Spaß.
Was wurde denn gesammelt? Die ältesten Bilder verehren Maria als Himmelskönigin. Ein Muss in der Kunstgeschichte. In Odessa war Maria nur noch zu haben mit dem Jesusknaben im Rosenhag oder im Hortus conclusus, wo himmlischer Glanz besonders hell leuchtet. Es folgen die »biblischen und mythologischen Historien aus Italien«, darunter ein schwer erträglicher Ecce Homo von Bernardo Strozzi und gleich daneben Strozzis »Johannesschüssel« aus der Berliner Gemäldegalerie. »Johannesschüssel« ist ein hocherotisches ikonographisches Bildmuster, wo der blutende Kopf von Johannes auf einer Silberschale liegt und Salome endlich den verweigerten Kuss auf dessen Lippen pressen kann. Die wilde Geschichte vom Bethlehemitischen Kindermord in unerträglicher Nahansicht von Antonio Alberti. In den Niederlanden wird gern die sündhafte alttestamentarische Geschichte von »Lot und seinen Töchtern« vorgeführt. Lots Töchter haben die Flucht aus dem brennenden, verruchten Ninive geschafft, und weil nun keine Männer mehr da sind, schlafen sie mit ihrem trunkenen Vater. Der weibliche Akt ist damit ins Spiel gelangt. Neben einem anonymen »Meister aus Antwerpen« stellt die Gemäldegalerie ihren noch viel attraktiveren »Lot mit seinen Töchtern« daneben, von Joachim Antonisz Wtewael. Das Spektrum der holländischen Genremalerei ist breit vertreten: zügellose Feste, Kneipen, Saufereien, Bordelle und das unfeine Bauernleben. Wird es angeprangert oder bewundert? Ruhig daneben stehen flämische Stillleben mit luxuriös aufbereiteten Lebensmitteln für Speisen nach burgundischer Art. Es läuft einem das Wasser im Mund zusammen. Sehnsuchtsorte tun sich auf: schöne Landschaften und das städtische Durcheinander. Am Ende fehlen nicht die im Kunsthandel des späten 19. Jahrhunderts reichlich vorhandenen französischen Impressionisten, hier »Licht und Farbe« Maler genannt. Sogar ein Bild von Max von Gabriel ist dabei, dem symbolistischen Münchner Akademiker neben Karl von Piloty. Zu vielen Malern aus Odessa fand sich in Berlin ein noch schöneres Bild. Zu jedem ikonographischen Thema immer eine bessere Variante aus den Berliner Beständen. Zu jedem Originalbild aus Odessa sind ein oder zwei Werke aus Eigenbestand gehängt. Jedes Werk wird mit Kommentaren in drei Sprachen, deutsch, englisch und ukrainisch, begleitet. Jedes ukrainische Großformat hat einen herrlichen breiten Holzrahmen erhalten. Auf einer Wandtafel, auf die jeder Besucher eine Glanzpostkarte heften kann, wird deutlich, welch große Welle der Begeisterung diese Ausstellung schon beim ukrainischen Publikum ausgelöst hat.
Bis 22. Juni 2025 in der Gemäldegalerie im Kulturforum am Kemperplatz, Katalog im Hirmer Verlag München, 32 €.