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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Vor 50 Jahren – Betriebsbesetzung in Erwitte

Erwit­te in West­fa­len. 151 Men­schen, die in einer Zement­fa­brik maloch­ten, hat­ten damals schon einen Chef, der auf Kosten sei­ner abhän­gig Beschäf­tig­ten rei­cher wur­de. Im Febru­ar 1975 kün­dig­te er 96 Beschäf­tig­ten, dar­un­ter auch die vom Gesetz beschütz­ten Schwer­be­hin­der­ten, Betriebs­rats­mit­glie­der und Betriebs­rats­kan­di­da­ten, samt Wahl­vor­stands­mit­glie­dern zur BR-Wahl. Die ersten Pro­te­ste »erweich­ten« den »Chef«, der wohl noch nie den Arti­kel 14 des Grund­ge­set­zes kom­plett gele­sen hat­te und sicher­lich auch nicht ver­stan­den hät­te, dass bestimmt: »Eigen­tum ver­pflich­tet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Woh­le der All­ge­mein­heit dienen.«

Der »Chef« hat­te wohl nicht mit Wider­stand gerech­net, aber Betriebs­rat, Gewerk­schaft und Beleg­schaft fin­gen sich an zu weh­ren, es wur­de ein lan­ger Kampf. Am 7. März 1975 trat die Beleg­schaft in einen zwei­stün­di­gen Warn­streik, in der Hoff­nung, die Geschäfts­lei­tung zu Ver­hand­lun­gen zu zwin­gen. Am 9. März 1975 ver­sam­mel­ten sich in der nur 5.500 Ein­woh­ner zäh­len­den Stadt 2.000 Men­schen zu einer Pro­test­ver­samm­lung in einer Hal­le. Am fol­gen­den Tag besetz­te die Früh­schicht das Werk. Ihrem Arbeits­kampf schloss sich die gesam­te Beleg­schaft an. LKWs ver­sperr­ten das Werks­tor. Auf der Kund­ge­bung am 1. Mai 1975 waren dann 12.000 Demon­stran­tin­nen und Demon­stran­ten teils von weit­her ange­reist. Die­se Betriebs­be­set­zung, damals mehr als spek­ta­ku­lär und ein­ma­lig, wur­de spä­ter von der Gewehr­schaft in einen Streik umge­wan­delt, der schließ­lich 449 Tage dau­ern sollte.

50 Jah­re sind seit­dem ver­gan­gen, und der 1. Mai 2025 war für den DGB und sei­ne Gewerk­schaf­ten ein bla­ma­bler Tag: Der 8-Stun­den­tag für ein kar­ges Tarif­lin­sen­ge­richt ver­ra­ten, der in den 70er-Jah­ren des vori­gen Jahr­hun­derts auf den IG Metall Gewerk­schafts­schu­len noch als Lehr­stoff ver­mit­tel­te Grund­wi­der­spruch zwi­schen Kapi­tal und Arbeit in der Kom­pro­miss­ki­ste ent­sorgt und das The­ma Eigen­tum tabui­siert. Anti­ka­pi­ta­lis­mus wird, wie in den 1970er-Jah­ren mit einem Unver­ein­bar­keits­be­schluss belegt, dem sich Herr Dob­rindt mit einem saf­ti­gen Berufs­ver­bot ger­ne anschlie­ßen wird. Die »Frei­heit­li­che demo­kra­ti­sche Grund­ord­nung« ver­schließt die Augen vor mehr als dem 8-Stun­den­tag und Betriebs­be­set­zun­gen sind das Weih­was­ser, das man als DGB-Teu­fel mei­det.  der LIP-Uhren­fa­brik Zur Betriebs­be­set­zung in Erwit­te ist jetzt ein Buch im Ver­lag DIE BUCHMACHEREI erschie­nen. Dar­in ist ein Inter­view ent­hal­ten, in dem sich die Frau­en der Män­ner äußern, die den Betrieb besetz­ten und bestreikten.

»Die­sen Bericht wid­men wir Erwit­ter Frau­en allen Frau­en, die nicht nur die Schür­ze tra­gen wol­len und deren Dasein bis­her nur auf die Kin­der­er­zie­hung und den Haus­halt beschränkt war. Unser bis­he­ri­ges Leben ist die Rol­le der Haus­frau gewe­sen, und von unse­ren Eltern sind wir auf die Mut­ter­rol­le fixiert wor­den, wie seit Gene­ra­tio­nen die Mäd­chen für die­se Rol­le erzo­gen wur­den. Wir wol­len auch teil­ha­ben am gesell­schaft­li­chen Leben.

Wir haben auf Ver­an­stal­tun­gen, zu denen wir ein­ge­la­den waren, gemerkt, dass man uns immer wie­der in bestimm­te poli­ti­sche Schub­la­den stecken woll­te. Aber wir sind weder Femi­ni­stin­nen noch einer spe­zi­el­len Par­tei zugehörig.

Wie vie­le wir sind? Wäh­rend des Arbeits­kamp­fes tra­fen sich etwa 25 Frau­en. Heu­te besteht die Frau­en­grup­pe aus 8 Frau­en im Alter von 28 bis 50 Jah­ren. Wir tref­fen uns alle 14 Tage, um über aktu­el­le und gewerk­schafts­po­li­ti­sche Fra­gen zu dis­ku­tie­ren. Neben unse­rer Haus­ar­beit gehen wir kei­ner ande­ren Arbeit nach.

Frü­her kann­ten wir uns kaum. Ken­nen­ge­lernt haben wir uns zur Zeit der Werks­be­set­zung auf Ver­samm­lun­gen, die die Gewerk­schaft für uns und unse­re Män­ner orga­ni­siert hat­te. Unse­re Män­ner hat­ten auf einem Zement­werk in der west­fä­li­schen Stadt Erwit­te gear­bei­tet. Der Fir­men­chef F. C. Sei­bel warf sie wie unnüt­ze Skla­ven auf die Stra­ße, als die Geschäf­te nicht mehr so lie­fen wie frü­her. Die­ses Han­deln des Arbeit­ge­bers ver­stan­den wir nicht. Sei­ne Mil­lio­nen, den Wohl­stand, hat­te er doch die­sen Män­nern zu ver­dan­ken. Sie waren stets ohne Mur­ren ihren Pflich­ten nach­ge­kom­men. Vie­le von ihnen hat­ten zehn, zwan­zig Jah­re und mehr für ihn gear­bei­tet, Über­stun­den gemacht, geschuftet.

Wir Frau­en waren gezwun­gen, uns mit einem Pro­blem zu beschäf­ti­gen, das voll­kom­men neu für uns war. Vie­le Fra­gen, die durch die Arbeits­lo­sig­keit der Män­ner auf­ge­wor­fen nun im Raum stan­den, konn­ten wir allein mit unse­ren Män­nern nicht klä­ren. Kei­ner wuss­te, wie es wei­ter­ge­hen sollte.

So ergab es sich, dass wir uns zusam­men­schlos­sen und gemein­sa­me Ideen ent­wickel­ten. Wir stell­ten fest, dass wir von Arbeits­kämp­fen und Gewerk­schafts­ar­beit kei­ne Ahnung hatten.

An den Rand der Gesell­schaft hat­ten wir uns drücken las­sen dadurch, dass wir unse­re Haus­frau­en­pflicht jah­re­lang zu wich­tig genom­men hat­ten. Wir hat­ten es nicht anders gelernt. Die Män­ner wuss­ten es auch nicht bes­ser. Jetzt woll­ten wir mehr wis­sen und uns auch betei­li­gen. Unse­re Hem­mun­gen, zu reden und Fra­gen zu stel­len, waren anfangs sehr groß und koste­ten eini­gen von uns Über­win­dung. Als wir aber merk­ten, dass wir uns alle mit den glei­chen Pro­ble­men her­um­schla­gen muss­ten, wur­den wir uns ver­trau­ter. Wir nah­men aktiv am Arbeits­kampf teil.

Dabei haben wir viel gelernt, allen vor­an, was hin­ter dem Wort Soli­da­ri­tät steckt.

Unse­re Lage hat sich inzwi­schen geän­dert. Die­se Ände­run­gen haben sich nicht ohne Schwie­rig­kei­ten voll­zo­gen. Das neu erwor­be­ne Selbst­be­wusst­sein bringt auch den Män­nern eini­ge Pro­ble­me. Das ging in den ein­zel­nen Fami­li­en unter­schied­lich vor sich. Vie­le Män­ner sind hier noch der Mei­nung: ›Die Frau­leut gehö­ren an den Kochtopf!‹

Die­se Befrei­ung hat in uns Frau­en eine ver­än­der­te Hal­tung gegen­über den gesell­schaft­li­chen Ein­rich­tun­gen bewirkt. Wir wol­len nicht mehr, dass die Erzie­hung z. B. allei­ni­ge Auf­ga­be der Frau bleibt. Die sozia­le Iso­lie­rung wol­len wir durch­bre­chen. Fazit aus allen bis­he­ri­gen Erfah­run­gen: Wir brau­chen Schick­sals­schlä­ge nicht ein­fach als von Gott gege­ben hin­zu­neh­men, son­dern wir müs­sen uns ganz ener­gisch dage­gen zur Wehr setzen.

Eini­ges von unse­ren Erfah­run­gen, von unse­ren Ver­än­de­run­gen und aus unse­ren bis­he­ri­gen Leben haben wir nie­der­ge­schrie­ben. Es sind ja nicht allein unse­re Pro­ble­me, von denen hier berich­tet wird.

Allen wol­len wir sagen: Hal­tet zusam­men und wehrt Euch, wenn Ihr glaubt, dass Euch Unrecht geschieht!

Helft auch den Män­nern, mit der Befrei­ung der Frau­en fer­tig zu werden.«
Früh­jahr 1977, Frau­en­grup­pe Erwit­te I

Ist es noch erlaubt zu fra­gen, ob Eigen­tum zur Aus­beu­tung ver­pflich­tet? In der Geschich­te der Arbei­ter­be­we­gung ist schon vie­les ver­drängt wor­den, soll dies auch mit der Betriebs­be­set­zung bei Seibel&Söhne im Jah­re 1975 in Erwit­te geschehen?