Erwitte in Westfalen. 151 Menschen, die in einer Zementfabrik malochten, hatten damals schon einen Chef, der auf Kosten seiner abhängig Beschäftigten reicher wurde. Im Februar 1975 kündigte er 96 Beschäftigten, darunter auch die vom Gesetz beschützten Schwerbehinderten, Betriebsratsmitglieder und Betriebsratskandidaten, samt Wahlvorstandsmitgliedern zur BR-Wahl. Die ersten Proteste »erweichten« den »Chef«, der wohl noch nie den Artikel 14 des Grundgesetzes komplett gelesen hatte und sicherlich auch nicht verstanden hätte, dass bestimmt: »Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.«
Der »Chef« hatte wohl nicht mit Widerstand gerechnet, aber Betriebsrat, Gewerkschaft und Belegschaft fingen sich an zu wehren, es wurde ein langer Kampf. Am 7. März 1975 trat die Belegschaft in einen zweistündigen Warnstreik, in der Hoffnung, die Geschäftsleitung zu Verhandlungen zu zwingen. Am 9. März 1975 versammelten sich in der nur 5.500 Einwohner zählenden Stadt 2.000 Menschen zu einer Protestversammlung in einer Halle. Am folgenden Tag besetzte die Frühschicht das Werk. Ihrem Arbeitskampf schloss sich die gesamte Belegschaft an. LKWs versperrten das Werkstor. Auf der Kundgebung am 1. Mai 1975 waren dann 12.000 Demonstrantinnen und Demonstranten teils von weither angereist. Diese Betriebsbesetzung, damals mehr als spektakulär und einmalig, wurde später von der Gewehrschaft in einen Streik umgewandelt, der schließlich 449 Tage dauern sollte.
50 Jahre sind seitdem vergangen, und der 1. Mai 2025 war für den DGB und seine Gewerkschaften ein blamabler Tag: Der 8-Stundentag für ein karges Tariflinsengericht verraten, der in den 70er-Jahren des vorigen Jahrhunderts auf den IG Metall Gewerkschaftsschulen noch als Lehrstoff vermittelte Grundwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit in der Kompromisskiste entsorgt und das Thema Eigentum tabuisiert. Antikapitalismus wird, wie in den 1970er-Jahren mit einem Unvereinbarkeitsbeschluss belegt, dem sich Herr Dobrindt mit einem saftigen Berufsverbot gerne anschließen wird. Die »Freiheitliche demokratische Grundordnung« verschließt die Augen vor mehr als dem 8-Stundentag und Betriebsbesetzungen sind das Weihwasser, das man als DGB-Teufel meidet. der LIP-Uhrenfabrik Zur Betriebsbesetzung in Erwitte ist jetzt ein Buch im Verlag DIE BUCHMACHEREI erschienen. Darin ist ein Interview enthalten, in dem sich die Frauen der Männer äußern, die den Betrieb besetzten und bestreikten.
»Diesen Bericht widmen wir Erwitter Frauen allen Frauen, die nicht nur die Schürze tragen wollen und deren Dasein bisher nur auf die Kindererziehung und den Haushalt beschränkt war. Unser bisheriges Leben ist die Rolle der Hausfrau gewesen, und von unseren Eltern sind wir auf die Mutterrolle fixiert worden, wie seit Generationen die Mädchen für diese Rolle erzogen wurden. Wir wollen auch teilhaben am gesellschaftlichen Leben.
Wir haben auf Veranstaltungen, zu denen wir eingeladen waren, gemerkt, dass man uns immer wieder in bestimmte politische Schubladen stecken wollte. Aber wir sind weder Feministinnen noch einer speziellen Partei zugehörig.
Wie viele wir sind? Während des Arbeitskampfes trafen sich etwa 25 Frauen. Heute besteht die Frauengruppe aus 8 Frauen im Alter von 28 bis 50 Jahren. Wir treffen uns alle 14 Tage, um über aktuelle und gewerkschaftspolitische Fragen zu diskutieren. Neben unserer Hausarbeit gehen wir keiner anderen Arbeit nach.
Früher kannten wir uns kaum. Kennengelernt haben wir uns zur Zeit der Werksbesetzung auf Versammlungen, die die Gewerkschaft für uns und unsere Männer organisiert hatte. Unsere Männer hatten auf einem Zementwerk in der westfälischen Stadt Erwitte gearbeitet. Der Firmenchef F. C. Seibel warf sie wie unnütze Sklaven auf die Straße, als die Geschäfte nicht mehr so liefen wie früher. Dieses Handeln des Arbeitgebers verstanden wir nicht. Seine Millionen, den Wohlstand, hatte er doch diesen Männern zu verdanken. Sie waren stets ohne Murren ihren Pflichten nachgekommen. Viele von ihnen hatten zehn, zwanzig Jahre und mehr für ihn gearbeitet, Überstunden gemacht, geschuftet.
Wir Frauen waren gezwungen, uns mit einem Problem zu beschäftigen, das vollkommen neu für uns war. Viele Fragen, die durch die Arbeitslosigkeit der Männer aufgeworfen nun im Raum standen, konnten wir allein mit unseren Männern nicht klären. Keiner wusste, wie es weitergehen sollte.
So ergab es sich, dass wir uns zusammenschlossen und gemeinsame Ideen entwickelten. Wir stellten fest, dass wir von Arbeitskämpfen und Gewerkschaftsarbeit keine Ahnung hatten.
An den Rand der Gesellschaft hatten wir uns drücken lassen dadurch, dass wir unsere Hausfrauenpflicht jahrelang zu wichtig genommen hatten. Wir hatten es nicht anders gelernt. Die Männer wussten es auch nicht besser. Jetzt wollten wir mehr wissen und uns auch beteiligen. Unsere Hemmungen, zu reden und Fragen zu stellen, waren anfangs sehr groß und kosteten einigen von uns Überwindung. Als wir aber merkten, dass wir uns alle mit den gleichen Problemen herumschlagen mussten, wurden wir uns vertrauter. Wir nahmen aktiv am Arbeitskampf teil.
Dabei haben wir viel gelernt, allen voran, was hinter dem Wort Solidarität steckt.
Unsere Lage hat sich inzwischen geändert. Diese Änderungen haben sich nicht ohne Schwierigkeiten vollzogen. Das neu erworbene Selbstbewusstsein bringt auch den Männern einige Probleme. Das ging in den einzelnen Familien unterschiedlich vor sich. Viele Männer sind hier noch der Meinung: ›Die Frauleut gehören an den Kochtopf!‹
Diese Befreiung hat in uns Frauen eine veränderte Haltung gegenüber den gesellschaftlichen Einrichtungen bewirkt. Wir wollen nicht mehr, dass die Erziehung z. B. alleinige Aufgabe der Frau bleibt. Die soziale Isolierung wollen wir durchbrechen. Fazit aus allen bisherigen Erfahrungen: Wir brauchen Schicksalsschläge nicht einfach als von Gott gegeben hinzunehmen, sondern wir müssen uns ganz energisch dagegen zur Wehr setzen.
Einiges von unseren Erfahrungen, von unseren Veränderungen und aus unseren bisherigen Leben haben wir niedergeschrieben. Es sind ja nicht allein unsere Probleme, von denen hier berichtet wird.
Allen wollen wir sagen: Haltet zusammen und wehrt Euch, wenn Ihr glaubt, dass Euch Unrecht geschieht!
Helft auch den Männern, mit der Befreiung der Frauen fertig zu werden.«
Frühjahr 1977, Frauengruppe Erwitte I
Ist es noch erlaubt zu fragen, ob Eigentum zur Ausbeutung verpflichtet? In der Geschichte der Arbeiterbewegung ist schon vieles verdrängt worden, soll dies auch mit der Betriebsbesetzung bei Seibel&Söhne im Jahre 1975 in Erwitte geschehen?