Ach, was waren das noch für tolle Zeiten, als sich die Kirchenvertreter als Botschafter der Nächstenliebe darstellten, die Gewerkschaften für die Sozialpartnerschaft kämpften und die Grünen-Basis auf den CO2-Ausstoß achtete … Diese Art von mahnenden, manchmal auch anklagenden Worten hörte man vor Jahren noch häufiger. Denkt man z. B. an die Ausweitung der Öffnungszeiten von Geschäften: Was brach da ein Sturm der Entrüstung los? Dies sei unzumutbar für die Beschäftigten.
Man sagt ja, dass die Vergangenheit ein Lehrmeister sein kann (das gilt natürlich nicht für Vergessliche). Also mal ein Blick zurück: Als sich die westdeutsche Bevölkerung gegen die geplanten Notstandsgesetze wehrte – waren da die Gewerkschaften aktiv dabei? Jawohl! Sie konnten sie nicht verhindern, aber sie hatten zumindest Einfluss auf die Änderungen im Grundgesetz. Quintessenz: Die rechten Kräfte haben sich keinen Deut um den Willen von Millionen Bürgern geschert. Übrigens: In der DDR fanden keine derartigen Proteste statt – dort wurden solche Gesetze nämlich nicht eingeführt.
Etwa zwei Dekaden später, als die BRD-Regierung Mittelstreckenraketen aufstellen ließ (Nato-Doppelbeschluss), gab es auch riesige Proteste – auch hier waren die Gewerkschaften stark engagiert. Meiner Erinnerung nach war diese progressive politische Phase der Gewerkschaften vorbei, als die DDR zusammenbrach; ich hörte kaum etwas gegen den Ausverkauf oder das Plattmachen von Millionen Arbeitsplätzen. Eher das Gegenteil – denn welche Wirkung hat eine Abwertung des abgewickelten Landes durch hochgestellte Gewerkschaftler als »Diktatur«? »Das muss alles weg!« Seitdem erlebe ich die Gewerkschaften im Wesentlichen als Verhandlungspartner bei Lohnprozenten bzw. zu erwartenden Entlassungen, wenn die Unternehmen sich verschlanken wollen oder ihre Geschäftsfelder umgruppieren, damit die Gewinnmargen stimmen …
Als eine aktuelle politische »Wegmarke« könnte man die misslungene grüne Wirtschaftspolitik bezeichnen. Als deren Negativ-Folgen sichtbar wurden, waren nicht die Gewerkschaften die großen Mahner, die wegen der Konsequenzen für Millionen Betroffene die Stimme energisch erhoben: Der wesentliche Protest (neben einigen Parteien) kam von den Unternehmen, die um ihre Gewinne und den deutschen Wirtschaftsstandort insgesamt fürchteten.
Haben sich die kirchlichen Bewegungen anders verhalten, sich mehr für die Menschen eingesetzt im Sinne der oft verlautbarten Nächstenliebe? Ja, dies wurde zu einer gewissen Zeit sehr lautstark für die »armen Menschen im Osten« reklamiert, aber nur so lange, bis sie von ihrem Regime »erlöst« waren. Denn dann waren sie angekommen – nein, nicht im Paradies, sondern in einem anderen Regime mit immensen Wohnungspreisen, steigenden Steuer- und Versicherungslasten und oft auch ohne Arbeit. Als dann bekannt wurde, dass in einigen Kirchen-Einrichtungen die Nächstenliebe völlig falsch gehandhabt wurde, war es für manchen in den Alt-Bundesländern eine schockartige Offenbarung; derartige Auswüchse waren den Ossis erspart geblieben.
Aber genug der Vergangenheit, die heutige Zeit ist lehrreich genug. Allein die letzten vier Jahre waren von wesentlichen politischen Änderungen geprägt, beginnend von den Energie-Umbrüchen über die Gesetzesänderungen zu missliebigen Meinungsäußerungen bis zum höchsten Kreditvolumen in der BRD-Geschichte. Haben sich die Gewerkschaften und die Kirchen lautstark bemerkbar gemacht, um die Negativ-Folgen für die Gesellschaft zu artikulieren? Oder haben sie diese nicht kommen sehen – trotz klarer Haltungen vieler Experten dazu? Oder war es ihnen egal? Waren sie zu sehr mit eigenen, internen, »naheliegenden« Fragen beschäftigt? Wer sich mit hierarchischen Strukturen auskennt, weiß, dass altgewordene Organisationen »in sich selbst« rotieren können, ohne ein echtes Ergebnis herauszubringen … Zumindest waren sie nicht laut genug, dass sie es in die Mainstream-Medien geschafft haben. Auch wenn bei Demos, getragen von anderen Kräften, eine Gewerkschaft als »Mit-Organisator« auftritt, ist dies noch lange nicht laut genug – siehe obige Beispiele aus der Vergangenheit!
Früher hatte die Parteibasis von Bündnis 90/die Grünen auch eine wichtige mahnende Stimme: mal abgesehen von der Tatsache, dass die (östlich angestammten) Bündnis-Personen heute wirkungslos scheinen. Hat man diese Basis-Meinungen hören können, seitdem teure Energie unsinnigerweise aus Übersee herangeschifft wird? Auch das Hochfahren der Rüstungsindustrie – was ja umweltmäßig eine Katastrophe ist – hat die Grünen-Basis geschehen lassen. Oder als der Riesen- (oder sollte man besser sagen: Bomben-)Kredit mit parlamentarischen Tricks durchgeschaltet wurde? Die maßgeblichen Leute der Grünen hatten nichts dagegen – aber erst, nachdem sie sich eine Scheibe vom »großen Kuchen« gesichert hatten! Bezeichnend auch die Denkweise zu Zeiten der vorletzten Regierung: Der Verschleiß der öffentlichen Infrastruktur (dem jetzt angeblich mit 500 Milliarden Euro zu Leibe gerückt werden soll) war nicht beachtet worden, doch der CO2-»Ausstoß« (also das Pupsen) der Kühe war ein starkes Thema!
Und obwohl die Neuverschuldung weiter anwuchs, war auch unter deren Regierungs-Mitverantwortung eine Erweiterung des Bundeskanzleramts beschlossen worden. die Kosten sollten unter 500 Millionen Euro bleiben – jetzt geht es schon in Richtung 800 Millionen Euro. Das Ziel dabei ist, alle ca. 500 Mitarbeiter des Bundeskanzlers unter einem Dach zu haben. Geht man davon aus, dass die Erweiterung für etwa die Hälfte, also 250 Personen, vorgesehen ist, dann ergibt sich (bei knapp einer Milliarde Euro) pro Schreibtischplatz ein Preis von knapp 4 Millionen Euro. Das kann sich m.W. kein Unternehmen leisten – aber die verschuldete Bundesrepublik!
Aber zurück zu denjenigen politischen Kräften, die früher als gesellschaftliche Mahner auftraten. Aus den genannten Beispielen drängt sich ein Verdacht auf: Sind diejenigen, die sich als Vertreter der Gesellschaft verstehen, willens und in der Lage, die Folgen der gesellschaftlichen Veränderungen abzuschätzen, und zwar rechtzeitig? Oder haben deren Grundsatz-Abteilungen nur einen Auswerte-, aber keinen Analyse-»Modus«? Konnten sie nicht (mit einfacher Mathematik) kundtun, welche Belastung der jüngste Kredit für jeden einzelnen Bundesbürger nach sich zieht? Dann sollten sie mal öfter in den Ossietzky-Heften lesen …
Ein anderes Beispiel: Wurden vor Jahren, als z. B. Facebook aktiv wurde, die Auswirkungen derartiger »sozialer« Medien kritisch betrachtet – auch auf die Möglichkeiten hin, dass junge Menschen süchtig werden können, dass Hass-Kommentare dort auftauchen, dass es kriminell missbraucht werden könnte? In meiner Erinnerung gab es nur den allgemeinen Jubel, weil wieder etwas Neues aufgekommen war. Heute wird hierzulande laut nachgedacht, ob man dies altersmäßig (für junge Menschen) limitiert oder einschränkt – zu groß sind die beobachteten Negativ-Auswirkungen.
Das hierfür erforderliche analytische Denken scheint bei höheren Amtsträgern verschüttet – das müssen sie sich von Herrn Gens, Bürgermeister auf Hiddensee, erst wieder zeigen lassen … Oder wird es schlicht und einfach dem Anpassen an offizielle Meinungen geopfert? Ist das Mitmachen im Mainstream wichtiger als die Analyse gesellschaftlicher Phänomene? Zumindest bei dem enormen Kredit wäre – zwischen Ankündigung und Beschlussfassung im Bundestag – Zeit gewesen, eine progressive Position zu den gesellschaftlichen Folgen zu beziehen. Die Fraktionsspitze von B90/Grünen hat diese Zeit genutzt – um einen dicken Millionenbetrag (es hieß, für den Umweltschutz) auszuhandeln. Das wurde ja schon oft vorexerziert – Partei-Interessen sind wichtiger als strategisch fundierte Entscheidungen.
Dies trifft jedoch bei außerparlamentarischen Organisationen nicht zu. Woher kommt also diese Art »strategische Blindheit«? Kann es sein, dass sich dabei drei Tendenzen zu einer Synergie verbinden: die Parteibücher hochgestellter Amtsträger, der Mangel an analytischen Fähigkeiten sowie die Hemmungen, sich gegen den Regierungs-Strom zu stellen? Damit kann man zwar einen »Posten verwalten«, wird aber nichts bewegen. Doch genau das zeigt die Geschichte: Änderungen kommen nur durch bzw. gegen Widerstand zustande.