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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Wo sind sie hin?

Ach, was waren das noch für tol­le Zei­ten, als sich die Kir­chen­ver­tre­ter als Bot­schaf­ter der Näch­sten­lie­be dar­stell­ten, die Gewerk­schaf­ten für die Sozi­al­part­ner­schaft kämpf­ten und die Grü­nen-Basis auf den CO2-Aus­stoß ach­te­te … Die­se Art von mah­nen­den, manch­mal auch ankla­gen­den Wor­ten hör­te man vor Jah­ren noch häu­fi­ger. Denkt man z. B. an die Aus­wei­tung der Öff­nungs­zei­ten von Geschäf­ten: Was brach da ein Sturm der Ent­rü­stung los? Dies sei unzu­mut­bar für die Beschäftigten.

Man sagt ja, dass die Ver­gan­gen­heit ein Lehr­mei­ster sein kann (das gilt natür­lich nicht für Ver­gess­li­che). Also mal ein Blick zurück: Als sich die west­deut­sche Bevöl­ke­rung gegen die geplan­ten Not­stands­ge­set­ze wehr­te – waren da die Gewerk­schaf­ten aktiv dabei? Jawohl! Sie konn­ten sie nicht ver­hin­dern, aber sie hat­ten zumin­dest Ein­fluss auf die Ände­run­gen im Grund­ge­setz. Quint­essenz: Die rech­ten Kräf­te haben sich kei­nen Deut um den Wil­len von Mil­lio­nen Bür­gern geschert. Übri­gens: In der DDR fan­den kei­ne der­ar­ti­gen Pro­te­ste statt – dort wur­den sol­che Geset­ze näm­lich nicht eingeführt.

Etwa zwei Deka­den spä­ter, als die BRD-Regie­rung Mit­tel­strecken­ra­ke­ten auf­stel­len ließ (Nato-Dop­pel­be­schluss), gab es auch rie­si­ge Pro­te­ste – auch hier waren die Gewerk­schaf­ten stark enga­giert. Mei­ner Erin­ne­rung nach war die­se pro­gres­si­ve poli­ti­sche Pha­se der Gewerk­schaf­ten vor­bei, als die DDR zusam­men­brach; ich hör­te kaum etwas gegen den Aus­ver­kauf oder das Platt­ma­chen von Mil­lio­nen Arbeits­plät­zen. Eher das Gegen­teil – denn wel­che Wir­kung hat eine Abwer­tung des abge­wickel­ten Lan­des durch hoch­ge­stell­te Gewerk­schaft­ler als »Dik­ta­tur«? »Das muss alles weg!« Seit­dem erle­be ich die Gewerk­schaf­ten im Wesent­li­chen als Ver­hand­lungs­part­ner bei Lohn­pro­zen­ten bzw. zu erwar­ten­den Ent­las­sun­gen, wenn die Unter­neh­men sich ver­schlan­ken wol­len oder ihre Geschäfts­fel­der umgrup­pie­ren, damit die Gewinn­mar­gen stimmen …

Als eine aktu­el­le poli­ti­sche »Weg­mar­ke« könn­te man die miss­lun­ge­ne grü­ne Wirt­schafts­po­li­tik bezeich­nen. Als deren Nega­tiv-Fol­gen sicht­bar wur­den, waren nicht die Gewerk­schaf­ten die gro­ßen Mah­ner, die wegen der Kon­se­quen­zen für Mil­lio­nen Betrof­fe­ne die Stim­me ener­gisch erho­ben: Der wesent­li­che Pro­test (neben eini­gen Par­tei­en) kam von den Unter­neh­men, die um ihre Gewin­ne und den deut­schen Wirt­schafts­stand­ort ins­ge­samt fürchteten.

Haben sich die kirch­li­chen Bewe­gun­gen anders ver­hal­ten, sich mehr für die Men­schen ein­ge­setzt im Sin­ne der oft ver­laut­bar­ten Näch­sten­lie­be? Ja, dies wur­de zu einer gewis­sen Zeit sehr laut­stark für die »armen Men­schen im Osten« rekla­miert, aber nur so lan­ge, bis sie von ihrem Regime »erlöst« waren. Denn dann waren sie ange­kom­men – nein, nicht im Para­dies, son­dern in einem ande­ren Regime mit immensen Woh­nungs­prei­sen, stei­gen­den Steu­er- und Ver­si­che­rungs­la­sten und oft auch ohne Arbeit. Als dann bekannt wur­de, dass in eini­gen Kir­chen-Ein­rich­tun­gen die Näch­sten­lie­be völ­lig falsch gehand­habt wur­de, war es für man­chen in den Alt-Bun­des­län­dern eine schock­ar­ti­ge Offen­ba­rung; der­ar­ti­ge Aus­wüch­se waren den Ossis erspart geblieben.

Aber genug der Ver­gan­gen­heit, die heu­ti­ge Zeit ist lehr­reich genug. Allein die letz­ten vier Jah­re waren von wesent­li­chen poli­ti­schen Ände­run­gen geprägt, begin­nend von den Ener­gie-Umbrü­chen über die Geset­zes­än­de­run­gen zu miss­lie­bi­gen Mei­nungs­äu­ße­run­gen bis zum höch­sten Kre­dit­vo­lu­men in der BRD-Geschich­te. Haben sich die Gewerk­schaf­ten und die Kir­chen laut­stark bemerk­bar gemacht, um die Nega­tiv-Fol­gen für die Gesell­schaft zu arti­ku­lie­ren? Oder haben sie die­se nicht kom­men sehen – trotz kla­rer Hal­tun­gen vie­ler Exper­ten dazu? Oder war es ihnen egal? Waren sie zu sehr mit eige­nen, inter­nen, »nahe­lie­gen­den« Fra­gen beschäf­tigt? Wer sich mit hier­ar­chi­schen Struk­tu­ren aus­kennt, weiß, dass alt­ge­wor­de­ne Orga­ni­sa­tio­nen »in sich selbst« rotie­ren kön­nen, ohne ein ech­tes Ergeb­nis her­aus­zu­brin­gen … Zumin­dest waren sie nicht laut genug, dass sie es in die Main­stream-Medi­en geschafft haben. Auch wenn bei Demos, getra­gen von ande­ren Kräf­ten, eine Gewerk­schaft als »Mit-Orga­ni­sa­tor« auf­tritt, ist dies noch lan­ge nicht laut genug – sie­he obi­ge Bei­spie­le aus der Vergangenheit!

Frü­her hat­te die Par­tei­ba­sis von Bünd­nis 90/​die Grü­nen auch eine wich­ti­ge mah­nen­de Stim­me: mal abge­se­hen von der Tat­sa­che, dass die (öst­lich ange­stamm­ten) Bünd­nis-Per­so­nen heu­te wir­kungs­los schei­nen. Hat man die­se Basis-Mei­nun­gen hören kön­nen, seit­dem teu­re Ener­gie unsin­ni­ger­wei­se aus Über­see her­an­ge­schifft wird? Auch das Hoch­fah­ren der Rüstungs­in­du­strie – was ja umwelt­mä­ßig eine Kata­stro­phe ist – hat die Grü­nen-Basis gesche­hen las­sen. Oder als der Rie­sen- (oder soll­te man bes­ser sagen: Bomben-)Kredit mit par­la­men­ta­ri­schen Tricks durch­ge­schal­tet wur­de? Die maß­geb­li­chen Leu­te der Grü­nen hat­ten nichts dage­gen – aber erst, nach­dem sie sich eine Schei­be vom »gro­ßen Kuchen« gesi­chert hat­ten! Bezeich­nend auch die Denk­wei­se zu Zei­ten der vor­letz­ten Regie­rung: Der Ver­schleiß der öffent­li­chen Infra­struk­tur (dem jetzt angeb­lich mit 500 Mil­li­ar­den Euro zu Lei­be gerückt wer­den soll) war nicht beach­tet wor­den, doch der CO2-»Aus­stoß« (also das Pup­sen) der Kühe war ein star­kes Thema!

Und obwohl die Neu­ver­schul­dung wei­ter anwuchs, war auch unter deren Regie­rungs-Mit­ver­ant­wor­tung eine Erwei­te­rung des Bun­des­kanz­ler­amts beschlos­sen wor­den. die Kosten soll­ten unter 500 Mil­lio­nen Euro blei­ben – jetzt geht es schon in Rich­tung 800 Mil­lio­nen Euro. Das Ziel dabei ist, alle ca. 500 Mit­ar­bei­ter des Bun­des­kanz­lers unter einem Dach zu haben. Geht man davon aus, dass die Erwei­te­rung für etwa die Hälf­te, also 250 Per­so­nen, vor­ge­se­hen ist, dann ergibt sich (bei knapp einer Mil­li­ar­de Euro) pro Schreib­tisch­platz ein Preis von knapp 4 Mil­lio­nen Euro. Das kann sich m.W. kein Unter­neh­men lei­sten – aber die ver­schul­de­te Bundesrepublik!

Aber zurück zu den­je­ni­gen poli­ti­schen Kräf­ten, die frü­her als gesell­schaft­li­che Mah­ner auf­tra­ten. Aus den genann­ten Bei­spie­len drängt sich ein Ver­dacht auf: Sind die­je­ni­gen, die sich als Ver­tre­ter der Gesell­schaft ver­ste­hen, wil­lens und in der Lage, die Fol­gen der gesell­schaft­li­chen Ver­än­de­run­gen abzu­schät­zen, und zwar recht­zei­tig? Oder haben deren Grund­satz-Abtei­lun­gen nur einen Aus­wer­te-, aber kei­nen Analyse-»Modus«? Konn­ten sie nicht (mit ein­fa­cher Mathe­ma­tik) kund­tun, wel­che Bela­stung der jüng­ste Kre­dit für jeden ein­zel­nen Bun­des­bür­ger nach sich zieht? Dann soll­ten sie mal öfter in den Ossietzky-Hef­ten lesen …

Ein ande­res Bei­spiel: Wur­den vor Jah­ren, als z. B. Face­book aktiv wur­de, die Aus­wir­kun­gen der­ar­ti­ger »sozia­ler« Medi­en kri­tisch betrach­tet – auch auf die Mög­lich­kei­ten hin, dass jun­ge Men­schen süch­tig wer­den kön­nen, dass Hass-Kom­men­ta­re dort auf­tau­chen, dass es kri­mi­nell miss­braucht wer­den könn­te? In mei­ner Erin­ne­rung gab es nur den all­ge­mei­nen Jubel, weil wie­der etwas Neu­es auf­ge­kom­men war. Heu­te wird hier­zu­lan­de laut nach­ge­dacht, ob man dies alters­mä­ßig (für jun­ge Men­schen) limi­tiert oder ein­schränkt – zu groß sind die beob­ach­te­ten Negativ-Auswirkungen.

Das hier­für erfor­der­li­che ana­ly­ti­sche Den­ken scheint bei höhe­ren Amts­trä­gern ver­schüt­tet – das müs­sen sie sich von Herrn Gens, Bür­ger­mei­ster auf Hid­den­see, erst wie­der zei­gen las­sen … Oder wird es schlicht und ein­fach dem Anpas­sen an offi­zi­el­le Mei­nun­gen geop­fert? Ist das Mit­ma­chen im Main­stream wich­ti­ger als die Ana­ly­se gesell­schaft­li­cher Phä­no­me­ne? Zumin­dest bei dem enor­men Kre­dit wäre – zwi­schen Ankün­di­gung und Beschluss­fas­sung im Bun­des­tag – Zeit gewe­sen, eine pro­gres­si­ve Posi­ti­on zu den gesell­schaft­li­chen Fol­gen zu bezie­hen. Die Frak­ti­ons­spit­ze von B90/​Grünen hat die­se Zeit genutzt – um einen dicken Mil­lio­nen­be­trag (es hieß, für den Umwelt­schutz) aus­zu­han­deln. Das wur­de ja schon oft vor­ex­er­ziert – Par­tei-Inter­es­sen sind wich­ti­ger als stra­te­gisch fun­dier­te Entscheidungen.

Dies trifft jedoch bei außer­par­la­men­ta­ri­schen Orga­ni­sa­tio­nen nicht zu. Woher kommt also die­se Art »stra­te­gi­sche Blind­heit«? Kann es sein, dass sich dabei drei Ten­den­zen zu einer Syn­er­gie ver­bin­den: die Par­tei­bü­cher hoch­ge­stell­ter Amts­trä­ger, der Man­gel an ana­ly­ti­schen Fähig­kei­ten sowie die Hem­mun­gen, sich gegen den Regie­rungs-Strom zu stel­len? Damit kann man zwar einen »Posten ver­wal­ten«, wird aber nichts bewe­gen. Doch genau das zeigt die Geschich­te: Ände­run­gen kom­men nur durch bzw. gegen Wider­stand zustande.