Es hilft nichts, wenn Olaf Scholz, der unaufhörlich und aufdringlich von Zusammenhalt redet, nicht mehr Kanzler ist. Denn alle reden inzwischen permanent davon. »Zusammenhalt und Leitkultur leben«: Das war die Überschrift des Wahlprogramms der CDU 2025. Die SPD schreibt in ihrem: »Ein Meilenstein für Chancen und Zusammenhalt«. Lars Klingbeil postet auf seinem Instagram-Account: »Viele Menschen verspüren eine riesige Sehnsucht nach Gemeinsamkeit, Zusammenhalt und Versöhnung«. Und Sahra Wagenknecht auf der Website ihrer Partei: »Unser Land braucht ein Revival seines wirtschaftlichen Erfolgsmodells mit einem starken Mittelstand und sozialem Zusammenhalt.« An Weihnachten muss man den Fernseher gar nicht einschalten, um zu wissen, was der Bundespräsident in seiner Ansprache von sich geben wird: »Steinmeier ruft in Weihnachtsansprache zu Zusammenhalt auf«, wissen alle Redaktionen (und jeder Mensch) vorab.
Das Märchen vom gesellschaftlichen Zusammenhalt ist uralt. Im Jahr 494 v. Chr. verließen die Plebejer Rom und zogen auf den »mons sacer« genannten Berg Aventin, um gegen ihre Ausbeutung durch die herrschende Oberschicht der Patrizier zu protestieren. Den Slogan »Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will« gab es noch nicht, aber es war sozusagen der erste überlieferte Generalstreik der Geschichte. Die Patrizier schickten den redegewandten Menenius Agrippa, als (heute würde man sagen) Schlichter zu den Plebejern, der ihnen die berühmte »Parabel vom Magen und den Gliedern« erzählte: Als die Glieder des Körpers aus Wut auf den faulen Magen, der nie arbeitete, eines Tages ihre Tätigkeit einstellten, hätten sie sich durch die Schwächung des Magens letztlich nur selber geschadet. In einem menschlichen Körper komme nämlich wie im staatlichen Körper jedem Teil eine wichtige Aufgabe für »das große Ganze« zu. Leider glaubten die Plebejer den Blödsinn und kehrten an ihre Arbeitsplätze zurück.
Zwar wird diese Episode von Althistorikern als bloße Legende eingestuft, aber das Märchen ist über die Jahrhunderte immer das gleiche geblieben. Seitdem ist nämlich die Angst der herrschenden Reichen davor, dass die Subalternen, die für sie arbeiten, irgendwann einfach nicht mehr mitmachen, bis heute nie mehr verschwunden. Deshalb müssen die mit dem Regieren Beauftragen die Parabel Agrippas immer wieder (als wäre es eine Zwangsneurose) aufs Neue erzählen. Also überbieten sich heute Söder, Merz, Faeser, Klingbeil und Co. mit ihren Zusammenhalteappellen.
Dabei wissen alle Politiker sehr gut: Es gibt keinen Zusammenhalt zwischen Milliardären und Sozialhilfeempfängern; zwischen Leuten, die ihr Essen an der Tafel holen müssen, und Oligarchen, die nur ihr Vermögen und narzisstisches Mäzenatentum, ihre Privatjets und Yachten im Kopf haben; zwischen der alleinerziehenden Mutter mit einem schlechtbezahlten Teilzeitjob als Putzkraft im Konzern und der Großaktionärin, der dieser Konzern zur Hälfte gehört. Es gibt keinen Zusammenhalt zwischen den von einem parteiischen Rechtstaat nur relativ selten verfolgten (schlimmstenfalls mit Samthandschuhen angefassten) Cum-Ex-Anwälten und Cum-Cum-Bankern und den Bürgergeldempfängern, die gnadenlos sanktioniert werden, weil sie einen Termin im Jobcenter verpasst haben. (Um eines klarzustellen: Wenn kritisch von Milliardären die Rede ist, geht es nicht, wie FDP-Leute, FAZ und ähnlich schlicht strukturierte Menschen und Medien immer glauben, um eine »Neiddebatte«. Kein halbwegs vernünftiger Mensch beneidet die Superreichen um ihre misslingende Lebensform.)
Menschen brauchen eine Gemeinschaft (mindestens eine). Aber ein Staat ist keine Gemeinschaft. Nation und Volk sind Wörter, die Gemeinschaft nur suggerieren, aber ebenfalls keine sind. Zusammenhalt in dieser a priori gespaltenen Art von Gesellschaft ist eine ontologische Unmöglichkeit. Deshalb kommen die Politiker sofort immer auch auf jene Menschen zu sprechen, die – wie Olaf Scholz es so deutlich formulierte – »kein Recht haben, in Deutschland zu bleiben«. Diese Ausgrenzungsrhetorik spiegelt die wachsende Begeisterung für Feindlichkeit gegenüber Migranten wider. Die Ankündigung des Kanzlers auf dem Spiegel-Titel (»Wir müssen endlich im großen Stil abschieben«) fand keine Widerrede, auch nicht in den »christlichen« Kirchen.
Leitkultur ist aber immer auch Leidkultur. Denn der Appell an den Zusammenhalt ist nämlich immer schon verschwistert mit dem Ressentiment gegen die Schwächeren, die Anderen, die Nicht-Normalen, »die nicht zu uns passen« (Martin Sellner). Dieses Ressentiment wird heutzutage unisono bedient wie bisher noch nie im nachnationalsozialistischen Deutschland. Der Ruf nach Abschiebung, Ausweisung und Zurückweisung an den Grenzen, der noch vor einem Jahrzehnt nur vom rechtsextremen Rand zu hören war, kommt (mit Ausnahme der Linken) allen sogenannten »demokratischen Parteien« aus den Kehlen wie der gemeinsame Torjubel im Stadion. Und weil das Ressentiment gegen die Migranten nicht genügt, wird es gleich auf die nächste soziale schwache Gruppe ausgeweitet.
Aus der deutschen Geschichte könnte man lernen, wie Ressentiment-Politik funktioniert. Die 30er und 40er Jahre waren paradigmatisch: Erst gegen die Juden, dann gegen die anderen »Nichtsnutze« und »Sozialschmarotzer«, die den braven gesetzestreuen Bürgern nur auf der Tasche liegen, schließlich gegen alles Abweichende. (Und gegen die Kommunisten sowieso immer.)
Es gibt unter Bürgergeldempfängern einen bestimmten Anteil an Personen, die erwerbsfähig sind, also arbeiten könnten, es aber nicht tun. Dafür gibt es objektive Gründe, die sie nicht zu verantworten haben. Zum Beispiel kann eine alleinerziehende Mutter, die keinen Kitaplatz für ihr Kind findet, keine Arbeit aufnehmen; ebenso, wer sich um einen pflegebedürftigen Partner oder Elternteil kümmern muss, oder wer selber längerfristig erkrankt ist. Nur sehr wenige (circa 14 000) verweigern nachhaltig die Aufnahme einer Arbeit; das sind von den vier Millionen erwerbsfähigen Bürgergeldempfängern gerade mal 0,35 Prozent. Genau diese nötige Differenzierung unterschlagen AfD und die Christkonservativen absichtlich; sie wollen Stimmung machen gegen »das Bürgergeld« und verlangen »harte Einschnitte«, um sich dabei von den Claqueuren bei Cicero, Focus und FAZ bestätigt zu finden. Aber auch SPD-Politiker wie z. B. Johannes Arlt pflegen dieses Ressentiment: »Keiner versteht, warum jemand, der bei Sonnenaufgang ins Bett geht und den ganzen Tag auf dem Sofa liegt, nur etwas weniger haben soll als einer, der zur gleichen Zeit in den Schweinestall arbeiten geht« (Spiegel 30/2024). So geht Demagogie.
Es fehlt dann, um den Zusammenhalt weiter zu festigen, nur noch die Angst vor dem äußeren Feind. Eine herbeigeredete Bedrohung durch Krieg muss also her, wofür – natürlich – er Russe wieder einmal taugt. Weshalb »wir« wieder kriegstüchtig werden, Milliarden in die Rüstungsindustrie pumpen, die Wehrpflicht schnellstens wieder einführen müssen.
Die plötzliche Begeisterung für alles Militärische und eine seltsame Art von Vorfreude auf das Vaterlandverteidigen-Dürfen erinnern in unguter Weise an den Taumel im August 1914. Leider können sich die heutigen Kriegssachverständigen von Herfried Münkler über Sönke Neitzel bis Heinrich August Winkler (von Pistorius gar nicht zu reden) nicht mehr daran erinnern. So mancher scheint mit seinen schnellen Buchpublikationen an der »Aufbruchsstimmung« mitverdienen zu wollen. Carlo Masala, der auf allen Kanälen mittlerweile beliebteste Militärexperte, erklärt uns sogar, wie es ist, wenn Russland gewinnt. Das hatten wir alles schon mal unter Adenauer und Erhard. Binnen drei Tagen (hieß es damals) »steht der Russe am Rhein«. Unter Helmut Schmidt mit seinem Nato-Doppelbeschluss war die Hysterie nur halb so schlimm. Die bayerische Musikgruppe Biermösl Blosn sang damals »Da Russe kummd«. Und das tat und tut der Russe bekanntlich ja immer. Warum? Biermösl Blosn: »Ja weil der Russ ein Russe ist.« Mehr weiß Masala auch nicht. Der primitive Militarismus feiert wieder mal ein Comeback. Ein Kollateralschaden des Ukrainekriegs ist die Politikwissenschaft, die durch ihn auf das Boulevard-Niveau eines Mathias Döpfner gebracht wurde.
Man kennt keine Parteien mehr, man kennt nur noch Deutsche (Kaiser Wilhelm II.). Und die halten zusammen wie immer und »bis zum letzten Hauch von Mann und Ross«. Aus Putins Krieg gegen die Ukraine folgern alle, dass ihm die Ukraine nicht genügen wird, dass er mindestens auch das Baltikum »haben will«, und das bedeutet: »wahrscheinlich auch Polen«, denn der russische Imperialismus gilt als unleugbare Tatsache. (Dabei imitiert Putin mit seinem idiotischen und fürchterlichen Angriff nur das, was der Westen seit jeher tut: den eigenen Machtbereich aggressiv und ggf. durch Krieg absichern. Der Westen vergisst seine eigenen Verbrechen immer sehr schnell, z. B. das My Lai-Massaker in Vietnam, dessen russische Kopie Butscha ist.)
Auf nichts versteht sich eine Meute aus Politikern und Medien besser als aufs Schüren von Ressentiments und das Erzeugen von Angst. Jens Spahn, der vor zwei Jahren dafür plädierte, »alle neuen Flüchtlinge nach Ghana oder Ruanda« zu deportieren, bringt es auf den Punkt: »Was nützt die schönste Schuldenbremse, wenn der Russe vor der Tür steht.« Die Weltwoche (13.03.2025) nennt das »die Propaganda, mit der CDU-Politiker Jens Spahn und die FAZ die Deutschen erpressen wollen«. Natürlich sind es nicht nur Spahn und die FAZ, die solche Kriegsangst-Demagogie verbreiten. Aber der Christdemokrat ist ein Musterbeispiel dafür, wie die Politik mit dem Ressentiment gegen Migranten und die Fremden (die »nicht bei uns bleiben dürfen«) und die Politik mit der Angst vor einem äußeren Feind Hand in Hand gehen. Es funktioniert noch immer. Wieder einmal. Wie seinerzeit. Im Westen nichts Neues.