Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

Zusammenhalt

Es hilft nichts, wenn Olaf Scholz, der unauf­hör­lich und auf­dring­lich von Zusam­men­halt redet, nicht mehr Kanz­ler ist. Denn alle reden inzwi­schen per­ma­nent davon. »Zusam­men­halt und Leit­kul­tur leben«: Das war die Über­schrift des Wahl­pro­gramms der CDU 2025. Die SPD schreibt in ihrem: »Ein Mei­len­stein für Chan­cen und Zusam­men­halt«. Lars Kling­beil postet auf sei­nem Insta­gram-Account: »Vie­le Men­schen ver­spü­ren eine rie­si­ge Sehn­sucht nach Gemein­sam­keit, Zusam­men­halt und Ver­söh­nung«. Und Sahra Wagen­knecht auf der Web­site ihrer Par­tei: »Unser Land braucht ein Revi­val sei­nes wirt­schaft­li­chen Erfolgs­mo­dells mit einem star­ken Mit­tel­stand und sozia­lem Zusam­men­halt.« An Weih­nach­ten muss man den Fern­se­her gar nicht ein­schal­ten, um zu wis­sen, was der Bun­des­prä­si­dent in sei­ner Anspra­che von sich geben wird: »Stein­mei­er ruft in Weih­nachts­an­spra­che zu Zusam­men­halt auf«, wis­sen alle Redak­tio­nen (und jeder Mensch) vorab.

Das Mär­chen vom gesell­schaft­li­chen Zusam­men­halt ist uralt. Im Jahr 494 v. Chr. ver­lie­ßen die Ple­be­jer Rom und zogen auf den »mons sacer« genann­ten Berg Aven­tin, um gegen ihre Aus­beu­tung durch die herr­schen­de Ober­schicht der Patri­zi­er zu pro­te­stie­ren. Den Slo­gan »Alle Räder ste­hen still, wenn dein star­ker Arm es will« gab es noch nicht, aber es war sozu­sa­gen der erste über­lie­fer­te Gene­ral­streik der Geschich­te. Die Patri­zi­er schick­ten den rede­ge­wand­ten Meneni­us Agrip­pa, als (heu­te wür­de man sagen) Schlich­ter zu den Ple­be­jern, der ihnen die berühm­te »Para­bel vom Magen und den Glie­dern« erzähl­te: Als die Glie­der des Kör­pers aus Wut auf den fau­len Magen, der nie arbei­te­te, eines Tages ihre Tätig­keit ein­stell­ten, hät­ten sie sich durch die Schwä­chung des Magens letzt­lich nur sel­ber gescha­det. In einem mensch­li­chen Kör­per kom­me näm­lich wie im staat­li­chen Kör­per jedem Teil eine wich­ti­ge Auf­ga­be für »das gro­ße Gan­ze« zu. Lei­der glaub­ten die Ple­be­jer den Blöd­sinn und kehr­ten an ihre Arbeits­plät­ze zurück.

Zwar wird die­se Epi­so­de von Alt­hi­sto­ri­kern als blo­ße Legen­de ein­ge­stuft, aber das Mär­chen ist über die Jahr­hun­der­te immer das glei­che geblie­ben. Seit­dem ist näm­lich die Angst der herr­schen­den Rei­chen davor, dass die Sub­al­ter­nen, die für sie arbei­ten, irgend­wann ein­fach nicht mehr mit­ma­chen, bis heu­te nie mehr ver­schwun­den. Des­halb müs­sen die mit dem Regie­ren Beauf­tra­gen die Para­bel Agrip­pas immer wie­der (als wäre es eine Zwangs­neu­ro­se) aufs Neue erzäh­len. Also über­bie­ten sich heu­te Söder, Merz, Faeser, Kling­beil und Co. mit ihren Zusammenhalteappellen.

Dabei wis­sen alle Poli­ti­ker sehr gut: Es gibt kei­nen Zusam­men­halt zwi­schen Mil­li­ar­dä­ren und Sozi­al­hil­fe­emp­fän­gern; zwi­schen Leu­ten, die ihr Essen an der Tafel holen müs­sen, und Olig­ar­chen, die nur ihr Ver­mö­gen und nar­ziss­ti­sches Mäze­na­ten­tum, ihre Pri­vat­jets und Yach­ten im Kopf haben; zwi­schen der allein­er­zie­hen­den Mut­ter mit einem schlecht­be­zahl­ten Teil­zeit­job als Putz­kraft im Kon­zern und der Groß­ak­tio­nä­rin, der die­ser Kon­zern zur Hälf­te gehört. Es gibt kei­nen Zusam­men­halt zwi­schen den von einem par­tei­ischen Recht­staat nur rela­tiv sel­ten ver­folg­ten (schlimm­sten­falls mit Samt­hand­schu­hen ange­fass­ten) Cum-Ex-Anwäl­ten und Cum-Cum-Ban­kern und den Bür­ger­geld­emp­fän­gern, die gna­den­los sank­tio­niert wer­den, weil sie einen Ter­min im Job­cen­ter ver­passt haben. (Um eines klar­zu­stel­len: Wenn kri­tisch von Mil­li­ar­dä­ren die Rede ist, geht es nicht, wie FDP-Leu­te, FAZ und ähn­lich schlicht struk­tu­rier­te Men­schen und Medi­en immer glau­ben, um eine »Neid­de­bat­te«. Kein halb­wegs ver­nünf­ti­ger Mensch benei­det die Super­rei­chen um ihre miss­lin­gen­de Lebensform.)

Men­schen brau­chen eine Gemein­schaft (min­de­stens eine). Aber ein Staat ist kei­ne Gemein­schaft. Nati­on und Volk sind Wör­ter, die Gemein­schaft nur sug­ge­rie­ren, aber eben­falls kei­ne sind. Zusam­men­halt in die­ser a prio­ri gespal­te­nen Art von Gesell­schaft ist eine onto­lo­gi­sche Unmög­lich­keit. Des­halb kom­men die Poli­ti­ker sofort immer auch auf jene Men­schen zu spre­chen, die – wie Olaf Scholz es so deut­lich for­mu­lier­te – »kein Recht haben, in Deutsch­land zu blei­ben«. Die­se Aus­gren­zungs­rhe­to­rik spie­gelt die wach­sen­de Begei­ste­rung für Feind­lich­keit gegen­über Migran­ten wider. Die Ankün­di­gung des Kanz­lers auf dem Spie­gel-Titel (»Wir müs­sen end­lich im gro­ßen Stil abschie­ben«) fand kei­ne Wider­re­de, auch nicht in den »christ­li­chen« Kirchen.

Leit­kul­tur ist aber immer auch Leid­kul­tur. Denn der Appell an den Zusam­men­halt ist näm­lich immer schon ver­schwi­stert mit dem Res­sen­ti­ment gegen die Schwä­che­ren, die Ande­ren, die Nicht-Nor­ma­len, »die nicht zu uns pas­sen« (Mar­tin Sell­ner). Die­ses Res­sen­ti­ment wird heut­zu­ta­ge uni­so­no bedient wie bis­her noch nie im nach­na­tio­nal­so­zia­li­sti­schen Deutsch­land. Der Ruf nach Abschie­bung, Aus­wei­sung und Zurück­wei­sung an den Gren­zen, der noch vor einem Jahr­zehnt nur vom rechts­extre­men Rand zu hören war, kommt (mit Aus­nah­me der Lin­ken) allen soge­nann­ten »demo­kra­ti­schen Par­tei­en« aus den Keh­len wie der gemein­sa­me Tor­ju­bel im Sta­di­on. Und weil das Res­sen­ti­ment gegen die Migran­ten nicht genügt, wird es gleich auf die näch­ste sozia­le schwa­che Grup­pe ausgeweitet.

Aus der deut­schen Geschich­te könn­te man ler­nen, wie Res­sen­ti­ment-Poli­tik funk­tio­niert. Die 30er und 40er Jah­re waren para­dig­ma­tisch: Erst gegen die Juden, dann gegen die ande­ren »Nichts­nut­ze« und »Sozi­al­schma­rot­zer«, die den bra­ven geset­zes­treu­en Bür­gern nur auf der Tasche lie­gen, schließ­lich gegen alles Abwei­chen­de. (Und gegen die Kom­mu­ni­sten sowie­so immer.)

Es gibt unter Bür­ger­geld­emp­fän­gern einen bestimm­ten Anteil an Per­so­nen, die erwerbs­fä­hig sind, also arbei­ten könn­ten, es aber nicht tun. Dafür gibt es objek­ti­ve Grün­de, die sie nicht zu ver­ant­wor­ten haben. Zum Bei­spiel kann eine allein­er­zie­hen­de Mut­ter, die kei­nen Kita­platz für ihr Kind fin­det, kei­ne Arbeit auf­neh­men; eben­so, wer sich um einen pfle­ge­be­dürf­ti­gen Part­ner oder Eltern­teil küm­mern muss, oder wer sel­ber län­ger­fri­stig erkrankt ist. Nur sehr weni­ge (cir­ca 14 000) ver­wei­gern nach­hal­tig die Auf­nah­me einer Arbeit; das sind von den vier Mil­lio­nen erwerbs­fä­hi­gen Bür­ger­geld­emp­fän­gern gera­de mal 0,35 Pro­zent. Genau die­se nöti­ge Dif­fe­ren­zie­rung unter­schla­gen AfD und die Christ­kon­ser­va­ti­ven absicht­lich; sie wol­len Stim­mung machen gegen »das Bür­ger­geld« und ver­lan­gen »har­te Ein­schnit­te«, um sich dabei von den Cla­queu­ren bei Cice­ro, Focus und FAZ bestä­tigt zu fin­den. Aber auch SPD-Poli­ti­ker wie z. B. Johan­nes Arlt pfle­gen die­ses Res­sen­ti­ment: »Kei­ner ver­steht, war­um jemand, der bei Son­nen­auf­gang ins Bett geht und den gan­zen Tag auf dem Sofa liegt, nur etwas weni­ger haben soll als einer, der zur glei­chen Zeit in den Schwei­ne­stall arbei­ten geht« (Spie­gel 30/​2024). So geht Demagogie.

Es fehlt dann, um den Zusam­men­halt wei­ter zu festi­gen, nur noch die Angst vor dem äuße­ren Feind. Eine her­bei­ge­re­de­te Bedro­hung durch Krieg muss also her, wofür – natür­lich – er Rus­se wie­der ein­mal taugt. Wes­halb »wir« wie­der kriegs­tüch­tig wer­den, Mil­li­ar­den in die Rüstungs­in­du­strie pum­pen, die Wehr­pflicht schnell­stens wie­der ein­füh­ren müssen.

Die plötz­li­che Begei­ste­rung für alles Mili­tä­ri­sche und eine selt­sa­me Art von Vor­freu­de auf das Vater­land­ver­tei­di­gen-Dür­fen erin­nern in ungu­ter Wei­se an den Tau­mel im August 1914. Lei­der kön­nen sich die heu­ti­gen Kriegs­sach­ver­stän­di­gen von Her­fried Mün­k­ler über Sön­ke Neit­zel bis Hein­rich August Wink­ler (von Pisto­ri­us gar nicht zu reden) nicht mehr dar­an erin­nern. So man­cher scheint mit sei­nen schnel­len Buch­pu­bli­ka­tio­nen an der »Auf­bruchs­stim­mung« mit­ver­die­nen zu wol­len. Car­lo Masa­la, der auf allen Kanä­len mitt­ler­wei­le belieb­te­ste Mili­tär­ex­per­te, erklärt uns sogar, wie es ist, wenn Russ­land gewinnt. Das hat­ten wir alles schon mal unter Ade­nau­er und Erhard. Bin­nen drei Tagen (hieß es damals) »steht der Rus­se am Rhein«. Unter Hel­mut Schmidt mit sei­nem Nato-Dop­pel­be­schluss war die Hyste­rie nur halb so schlimm. Die baye­ri­sche Musik­grup­pe Bier­mösl Blosn sang damals »Da Rus­se kummd«. Und das tat und tut der Rus­se bekannt­lich ja immer. War­um? Bier­mösl Blosn: »Ja weil der Russ ein Rus­se ist.« Mehr weiß Masa­la auch nicht. Der pri­mi­ti­ve Mili­ta­ris­mus fei­ert wie­der mal ein Come­back. Ein Kol­la­te­ral­scha­den des Ukrai­ne­kriegs ist die Poli­tik­wis­sen­schaft, die durch ihn auf das Bou­le­vard-Niveau eines Mathi­as Döpf­ner gebracht wurde.

Man kennt kei­ne Par­tei­en mehr, man kennt nur noch Deut­sche (Kai­ser Wil­helm II.). Und die hal­ten zusam­men wie immer und »bis zum letz­ten Hauch von Mann und Ross«. Aus Putins Krieg gegen die Ukrai­ne fol­gern alle, dass ihm die Ukrai­ne nicht genü­gen wird, dass er min­de­stens auch das Bal­ti­kum »haben will«, und das bedeu­tet: »wahr­schein­lich auch Polen«, denn der rus­si­sche Impe­ria­lis­mus gilt als unleug­ba­re Tat­sa­che. (Dabei imi­tiert Putin mit sei­nem idio­ti­schen und fürch­ter­li­chen Angriff nur das, was der Westen seit jeher tut: den eige­nen Macht­be­reich aggres­siv und ggf. durch Krieg absi­chern. Der Westen ver­gisst sei­ne eige­nen Ver­bre­chen immer sehr schnell, z. B. das My Lai-Mas­sa­ker in Viet­nam, des­sen rus­si­sche Kopie But­scha ist.)

Auf nichts ver­steht sich eine Meu­te aus Poli­ti­kern und Medi­en bes­ser als aufs Schü­ren von Res­sen­ti­ments und das Erzeu­gen von Angst. Jens Spahn, der vor zwei Jah­ren dafür plä­dier­te, »alle neu­en Flücht­lin­ge nach Gha­na oder Ruan­da« zu depor­tie­ren, bringt es auf den Punkt: »Was nützt die schön­ste Schul­den­brem­se, wenn der Rus­se vor der Tür steht.« Die Welt­wo­che (13.03.2025) nennt das »die Pro­pa­gan­da, mit der CDU-Poli­ti­ker Jens Spahn und die FAZ die Deut­schen erpres­sen wol­len«. Natür­lich sind es nicht nur Spahn und die FAZ, die sol­che Kriegs­angst-Dem­ago­gie ver­brei­ten. Aber der Christ­de­mo­krat ist ein Muster­bei­spiel dafür, wie die Poli­tik mit dem Res­sen­ti­ment gegen Migran­ten und die Frem­den (die »nicht bei uns blei­ben dür­fen«) und die Poli­tik mit der Angst vor einem äuße­ren Feind Hand in Hand gehen. Es funk­tio­niert noch immer. Wie­der ein­mal. Wie sei­ner­zeit. Im Westen nichts Neues.