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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Zwischen Blüte und Untergang

Mein Flug­zeug lan­det um 15.45 Uhr in Haw­ler. Ich neh­me den Kof­fer vom För­der­band, lau­fe zum Aus­gang. Uner­träg­li­che Hit­ze begrüßt mich, als die Ein­gangs­tür des Flug­ha­fens auf­geht. Ein nass geschwitz­ter Freund steht mir gegen­über, neben sei­nem Auto. Drin­nen zeigt das Ther­mo­me­ter 46 Grad. Der blaue Him­mel ist noch leicht vom letz­ten Sand­sturm ver­färbt. Wir fah­ren los, sind sofort im Stau. Die Stra­ßen sind links und rechts von unvor­stell­bar wert­vol­len Autos aller Mar­ken über­füllt. Ich sit­ze bequem in einem über zwei­hun­dert­tau­send Dol­lar kost­ba­ren Fahr­zeug. Sol­chen Luxus wer­de ich mir nie lei­sten kön­nen. Ich rech­ne mit etwas. Ver­ti­ka­le Beton­bun­ker fal­len mir jetzt ins Auge. Die­se ver­decken die Zita­del­le im Zen­trum – einst zeig­te sie sich von allen Sei­ten. Schrei­tet eine alte Stadt auf die­se Wei­se vor­an oder geht damit ihre See­le unter?

Haw­ler zählt mit ihrem Alter von mehr als 8.000 Jah­ren zu den älte­sten bewohn­ten Städ­ten der Welt. Hier sind das kur­di­sche Volk und sei­ne Vor­fah­ren behei­ma­tet. Ihre Abstam­mung ist aus poli­ti­schen, reli­giö­sen und wirt­schaft­li­chen Grün­den im Lau­fe ihrer Jahr­tau­sen­de-alten Geschich­te kom­plex gewor­den – man­gels ein­deu­ti­ger Bewei­se ent­hal­ten die schrift­li­chen Quel­len Lücken. Neben den Kur­den leben Ara­ber, Turk­me­nen, ande­re Eth­ni­en, Men­schen aus fast aller Welt, unter ihnen sind vor­wie­gend mus­li­mi­sche, nach­fol­gend christ­li­che, yezi­di­sche (eine alte Reli­gi­on der Kur­den vor der Isla­mi­sie­rung) und ande­re Glau­bens­rich­tun­gen. Mora­li­sche Wer­te sind klar defi­niert. Es gibt Wege, die­se umge­hen zu kön­nen. Auf den Punkt gebracht könn­te Geld hier eben­falls das Unmög­li­che mög­lich machen. Den wirt­schaft­li­chen Sta­tus ver­tei­di­gen man­che also mit allen Mit­teln. Trotz gemisch­ter Gefüh­le freue ich mich dar­über, über mei­ne Rei­se – ein paar Tage Aus­zeit vom All­tag, sie könn­ten viel­leicht mei­ne nega­ti­ven Gedan­ken ein wenig posi­ti­ver stim­men. Neu­gie­rig bin ich auf mensch­li­che Unter­schie­de. Die Kli­ma­an­la­ge läuft mit vol­ler Kraft. Ich schwit­ze das Was­ser aus, das ich zu mir neh­me. Der Freund lacht: »Will­kom­men in Kur­di­stan! Das ist nur die Pro­be­fahrt zur Hölle.«

An der Kreu­zung ste­hen Kin­der mit Was­ser­fla­schen in der Hand; sie leben vom Ver­kauf. Ich äuße­re mich, um etwas dazu gesagt zu haben: »Das wah­re Gesicht unse­rer Welt bleibt unver­än­dert.« Der Freund ant­wor­tet wie jemand, der das oft gehört hat: »Sie haben zumin­dest eine Mög­lich­keit.« Das stimmt teil­wei­se. Ich bestehe dar­auf: »Es geht nicht nur um die Armut. Die Res­sour­cen ein­fa­cher Men­schen ver­klei­nern sich durch unse­ren Wohlstand.«

»Das gehört zum Mensch­sein«, er rast an die­sem Teil der Sze­ne vor­bei. Wir hören Musik, lachen laut. Das Gespräch gerät in die Vergangenheit.

Am näch­sten Mor­gen stei­ge ich in den Lini­en­bus. 500 ira­ki­sche Dinar (umge­rech­net 40 Euro­cent) kostet die Fahrt ins Zen­trum. Ich gehe durch den Bazar zu einem Tee­haus, neh­me Platz. Neben mir sind drei Ara­ber in ihrer Tracht, schräg gegen­über zwei Phil­ip­pi­ner, ein paar Kur­den in ihrem tra­di­tio­nel­len Gewand, und auch ande­re Leu­te. Den besten Anblick dazwi­schen bie­tet mir der Sei­ten­teil der Burg an. Der Kell­ner tischt mir einen schwar­zen Tee ohne Zucker, Joghurt und Honig auf. An der Kas­se zah­le ich 3.000 Dinar.

Die schön­sten Momen­te erle­be ich immer zwi­schen die­sen schlich­ten Men­schen trotz ihres Kampfs ums Über­le­ben – vie­le von ihnen erhal­ten seit Mona­ten kei­nen Lohn von der zen­tra­len Regie­rung, wäh­rend die Welt­po­li­tik, Unru­hen vor allem im Süd­irak, die Rei­chen die­ser Stadt und die aus dem Süden und ande­ren benach­bar­ten Län­dern her­kom­men, zur Inve­sti­ti­on ver­lei­tet. Geld wird in Gold, Immo­bi­len und Akti­en ver­wan­delt. Das erschwert das Leben der Mit­tel­lo­sen, macht dies unbe­zahl­ba­rer. Gleich­zei­tig geben die Bau­ern lan­des­weit wegen Dür­re und Was­ser­knapp­heit auf. Sie gehen in die Städ­te. Ohne Bil­dung gibt es für sie kei­nen Job, der sie über Was­ser hält. Ohne Kapi­tal lan­den sie auf der Stra­ße als Bett­ler, Was­ser- und Taschen­tuch­ver­käu­fer. Inve­sto­ren bestim­men, aus wel­chem Land ihre Arbeits­kräf­te impor­tiert wer­den. Ölfir­men brin­gen eben­so ihre Beleg­schaft mit. Das Nach­spiel die­ser gän­gi­gen Ego­zen­trik, die vie­le poli­ti­sche Syste­me welt­weit mit sich ein­schließt, wird genau­so wie die Kluft zwi­schen Reich und Arm nicht als glo­ba­le Gefahr erkannt. Ein ver­schlei­er­ter Krieg lenkt Men­schen von dem Wesent­li­chen ab. Ein paar Leu­te bezeich­nen ihn als eine Tak­tik – die Welt­mäch­ti­gen pro­fi­tie­ren allein davon. Der wah­re Krieg ver­steckt sich unter unter­schied­li­chen Mas­ken. Ein Gere­de von der Was­ser­ma­fia ist bereits in aller Mun­de. In aus­ge­trock­ne­ten Gebie­ten Süd­iraks und der angren­zen­den Län­der ist der Liter­preis von Trink­was­ser höher als der von Treibstoff.

Zwei Tage vor mei­ner Abrei­se lädt mich der Freund in einer geho­be­nen Gegend der Stadt zum Essen ein. An die­sem klei­nen Ort ragen Ver­mö­gen­de aus der Not der gesam­ten Mensch­heit her­aus. Sie kau­fen sich alles, was sie wol­len, Kin­der­mäd­chen, Sicher­hei­ten, von jeg­li­chen Emo­tio­nen frei. Nie betrach­te­te ich bis­her wie in die­sem Teil der Stadt so vie­le Gesich­ter, Kör­per­tei­le mit kos­me­ti­schen Ope­ra­tio­nen. Die­se Leu­te opti­mie­ren ihr Aus­se­hen, um einem media­len Stan­dard anzu­ge­hö­ren. Trotz ihrer unter­schied­li­chen Her­kunft mer­ke ich an der äuße­ren Erschei­nung die­ser Men­schen kei­ne Differenzierung.

Erst­mals spü­re ich so sehr in Haw­ler, wie mate­ri­el­ler Wert auch hier alle mensch­li­chen Gren­zen über­trifft. Die Erkennt­nis ent­fernt mich von die­ser Schön­heit mei­ner Jugend­zeit in die­ser Stadt. Ich füh­le mich fremd darin.

»Wel­che Absicht, wel­che Macht steckt hin­ter dem Gan­zen?«, fra­ge ich mich auf dem Weg zurück nach Euro­pa, und wo füh­ren die­se vor­bild­li­che Ebe­ne des Nar­ziss­mus und die­se kapi­ta­li­sti­sche Herr­schaft hin, die ein Para­dies vor­gau­keln, das nur in der Ima­gi­na­ti­on existiert?