1.
Vornehme Zurückhaltung ist seine Sache nicht, wenn es darum geht, Andersdenkende zu attackieren. Da werden dann schnell einmal junge Straßenblockierer der »letzten Generation« in Terrorismusnähe gerückt (»Entstehung einer Klima-RAF«), ein Abgeordneter der Grünen wird als »Vorsitzender der Pädophilen-AG« diffamiert und mit der Sprachschöpfung »Anti-Abschiebe-Industrie« das »Unwort des Jahres« 2018 geprägt. Ein Gericht hat Alexander Dobrindt verboten, die ehrverletzende Schmähung des Abgeordneten zu wiederholen; sie ist nur ein Puzzlestück in der Sammlung der Hass-Sprüche, mit denen Dobrindt die grüne Partei seit vielen Jahren verfolgt.
Kein Verhandlungspartner scheint ihm politisch zu erbärmlich, wenn es darum geht, Geist und Buchstaben der Asylgesetzgebung sturmreif zu verhandeln. Um afghanische Geflüchtete in ihre Heimat abschieben zu können, machte sich Dobrindt Ende Juni sogar für direkte Gespräche mit der Taliban-Regierung stark, mit die schlimmsten Menschenrechtsverletzer auf dem Planeten. Er hatte auch kein Problem damit, in Jerusalem Benjamin Netanjahu zu treffen, der keinen Fuß nach Deutschland setzen könnte, ohne verhaftet zu werden, wenn es nach internationaler Rechtsprechung geht. Kein Wort vor Ort zu den schreienden Menschenrechtsverletzungen in Gaza, stattdessen die Betonung des israelischen »Rechts auf Selbstverteidigung«, mit dem der deutsche Innenminister auch die Bomben auf iranische Atomanlagen begrüßt. Einen interventionellen Angriffskrieg.
In seiner politischen Adoleszenz in den Zehner Jahren fiel Dobrindt neben dem Grünen-Hass (»der politische Arm von Krawallmachern, Steinewerfern und Brandstiftern«) durch seinen anti-europäischen Impuls auf, an deren Rückseite ein bayerisch eingefärbter Nationalismus wirkt, welcher sich von der Ablehnung doppelter Staatsbürgerschaften über die voraussehbar gescheiterte antieuropäische »Ausländermaut« aktuell bis hin zu den Zurückweisungen von Asylbewerbern an den deutschen Grenzen mit ihrer Negierung des Schengen-Abkommens Ausdruck verleiht. 2018 fasste er in der Zeitung Die Welt seine politische Agenda in eine Art politischer Programmatik zusammen; er sah sich als Teil und Promotor einer neuen »konservativen Revolution«, die er als Generationen-Konflikt gegen die angeblich »in vielen Debatten« bestehende »linke Meinungsvorherrschaft« der 68er-Generation inszenierte. (Die Welt, 4.1.18) »Auf die linke Revolution der 68er und die Dominanz der Eliten muss eine konservative Revolution der Bürger folgen«, verlangte der 1970 geborene Oberbayer.
Zwei Monate darauf legte der damalige CSU-Bundestags-Chef nach: »Das Konservative beschreibt sich aus seinem christlichen Wurzelgeflecht. (…) Was wir derzeit erleben, ist eine konservative Revolution der Bürger – gewachsen in der Mitte unserer Gemeinschaft, mit einer Besinnung auf Tradition und Werte. Das Treibhaus dieser Entwicklung sind Globalisierung und Digitalisierung, denn in einer sich immer schneller wandelnden Welt sehnen sich die Menschen stärker nach festem Halt – nach Heimat, Sicherheit und Freiheit« (Die Welt, 1.3.18).
2.
Diese Mischung aus Heimattümelei und Technikaffinität, Kulturkampf-Attitüde und Elitenfeindlichkeit, Ausgrenzung im Innern und Abgrenzung nach außen ist nicht neu, sie ist ein klassisches Erkennungsmerkmal der äußeren Rechten. Dobrindt erregte damit Aufsehen. Sie an den Begriff der »konservativen Revolution« zu knüpfen, bedeutete immerhin, sich geistesgeschichtlich und politisch bei jenen einzufinden, die ein anderes System wollen. Der Begriff gehört zum ideologischen Arsenal der »Neuen Rechten«. Die populistische Dimension dieses Begriffs liegt in seiner schillernden Historie. Zu Beginn der 30er Jahre neben dem Nationalsozialismus eine Art »dritter Weg« in den Faschismus, entwickelte sich daraus in Westdeutschland in der Neuen Rechten ein demokratie- und migrationsfeindlicher Kultur-Nationalismus, der sich vorgenommen hat, das konservative Bürgertum geistig zu erobern.
Hat Dobrindt nur provoziert, um sich wichtig zu machen? Um, wie es Rechtskonservative seit Jahrzehnten tun, die Grenzen des »in der Mitte« Sagbaren zu überschreiten? Seine Vorgeschichte zeigt, dass da mehr ist. Eine politische Haltung, mit der man rechnen muss. Ein Umstürzler ist er vielleicht nicht, er raunt nur in diese Richtung. Aber durchaus ein Rückstürzler, ein Revisionist, der Sehnsucht hat – und beim Publikum bedient – nach der guten alten Zeit und ihren Regeln, als die Heimat noch homogen, die Werte noch konservativ tradiert, der feste Halt noch christlich verwurzelt, die Freiheit noch männlich und weiß und die Gesamtlage noch übersichtlich war. So wie in den 50er Jahren, als die Welt (angeblich) in Ordnung war, Migranten aus dem Süden noch nicht im Land, die 68er noch nicht auf dem Plan und ihre urban-grünen Kinder noch nicht auf der Welt; jene Zeit, als Europa noch nicht alles bestimmte.
Der konservative Anzugträger-Revolutionär mit Hang zum Populismus ist jetzt als bundesdeutscher Innenminister für die Wahrung des Rechts zuständig. Da darf man nicht wegsehen. Er hat noch nicht viel Respekt erkennen lassen vor diesem Teil seiner Aufgabe, die sich eben nicht nur auf Deutschland erstreckt, sondern auch auf Europa und die Welt. Er will das Recht lieber ändern. Dobrindt ist ähnlich seinem Kanzler ein erklärter Fan von Donald Trumps Dekrete-Strategie. Das bekamen zuerst Geflüchtete zu spüren. Seine Anweisung an die Bundespolizei, auch Asylsuchende an den Grenzen ohne weitere Prüfung abzuweisen, war eine Verletzung europäischen Rechts, die er ebenso in Kauf nahm wie seinerzeit bei der »Ausländer-Maut«. Als er Anfang Juni vor dem Verwaltungsgericht Berlin den ersten Prozess gegen drei asylsuchende Menschen aus Somalia verlor, die nach Polen zurückgeschoben worden waren, tat er seine Niederlage als »Einzelfall-Entscheidung« ab, obgleich das Gericht auch einen generellen Verstoß gegen EU-Recht konstatierte. Als ginge es nicht genau darum im Rechtsstaat: den Einzelnen vor eben jenem Staat in Schutz zu nehmen (siehe dazu Uwe Boysen in Ossietzky 13 und 14).
Das politische Kalkül hinter den Asylverweigerungen ist eine Art Verfahrensumkehr. Musste der deutsche Staat in fast jedem Fall Geflüchtete ins Land lassen und das Asylbegehren im Lichte der Dublin-Abkommen zumindest prüfen, so hofft man jetzt offenbar darauf, dass die Wenigsten am Ende gegen ihre unrechtmäßige Abweisung an der Grenze klagen können und werden. Die europäischen Nachbarn, Österreicher, Schweizer, Polen, sehen Dobrindts Strategie der Grenzkontrollen indessen als das, was sie ebenfalls ist: ein Angriff auf das Schengen-Prinzip der Freizügigkeit in Europa. Bei Bedarf werden die europäischen Außengrenzen auf die deutschen zusammengeschnurrt. An diesen wurden laut Bundespolizei von Mai auf Juni 2025 insgesamt 3300 Menschen abgewiesen, 160 davon trotz eines Asylgesuchs. Ein irrsinniger Aufwand und mittelfristig ein schwer kalkulierbarer Schaden für die sittliche und institutionelle Stabilität unseres Rechtssystems. Vom außenpolitischen Flurschaden nicht zu reden.
3.
Große politisch-gesellschaftliche Opfer also im Kampf mit der AfD um die Herrschaft über den Migrations-Diskurs, ohne dass solch menschenfeindliche Symbolpolitik zu etwas führte. Nicht zuletzt, wenn man bedenkt, dass es in Deutschland im ersten Halbjahr 2025 insgesamt 65.500 Asylanträge gab und damit 43 Prozent weniger als im Vorjahres-Vergleich. Erstmals seit langem führt Deutschland damit nicht die Liste der europäischen Länder mit den meisten Anträgen an, sondern liegt hinter Spanien (76.000) und Frankreich (75.400) auf Platz drei, gefolgt von Italien (62.500) und Griechenland (27.700) (Tagesspiegel, 5.7.25). Dies ist freilich kein »Erfolg« von Dobrindts beschworener »Asylwende«, sondern den Aktivitäten von Frontex an den europäischen Außengrenzen geschuldet, EU-Abkommen mit Tunesien und Libyen über Migrationskontrolle sowie Initiativen der Ampel-Regierung, die es schließlich war, welche die Grenzkontrollen einführte und Abschiebungen erleichterte. Es kommen sehr viel weniger Menschen an den deutschen Grenzen an als in den vergangenen Jahren.
Gerade hat das Verwaltungsgericht Berlin in einem Eilverfahren entschieden, dass eine 14köpfige afghanische Familie, die im pakistanischen Islamabad über ein Jahr auf die von Deutschland zugesagten Einreisevisa wartete, diese jetzt auch bekommen muss. Aktuell sind rund 40 ähnliche Klagen anhängig. Insgesamt 2400 Menschen warteten Ende Juni laut tagesschau und nach Angaben des Auswärtigen Amtes in Pakistan darauf, dass sie ein Visum bekommen. Betroffen davon sind beispielsweise Menschen, die sich für Gleichberechtigung und Demokratie eingesetzt haben. Auch Richter, Journalistinnen oder Künstler zählen dazu. Sie harren in der Regel schon acht Monate oder länger aus, um ein Plazet von den deutschen Einzelfall-Prüfern und -entscheidern vor Ort und in Berlin zu bekommen. Durch dieses Hinauszögern halten sie sich nach pakistanischem Recht inzwischen illegal im Nachbarland auf. Deshalb haben die pakistanischen Behörden damit begonnen, die ersten Afghanen wieder zurück nach Afghanistan abzuschieben, ungeachtet der Absprachen und Vereinbarungen mit der Ampel-Regierung, die ihre Nachfolger offensichtlich am liebsten ignorierten. Man möchte sich nicht ausmalen, was diese Menschen von den Taliban zu erwarten haben. Aus Angst vor der AfD-Hoheit über das Migration-Thema wird weit jenseits europäischer und deutscher Grenzen mit der Todesangst und dem Leben von Menschen gespielt, denen Schutz bereits versprochen war.
So etwas geschieht, wenn Verfahren in die Herkunftsregionen von Schutzsuchenden ausgelagert werden.
4.
Das Vorbild für diese Art Willkür ist offensichtlich der Umgang der Trump-Administration mit Geflüchteten und Migranten. Zurückweisungen, Zurückschiebungen, Zurücknahme von Zusagen, propagandistische Kriminalisierung: Niemand soll sich seiner Rechte mehr sicher sein, schon gar nicht Asylsuchende. Und wir erkennen, dass der Kampf der Exekutive gegen die Judikative, der in den USA in vollem Gange ist, nun auch in Deutschland angefangen hat. Vor dem Bundestag hat Alexander Dobrindt bei der Verteidigung seines Haushaltes am 16. Mai programmatisch damit aufgetrumpft, wie es weitergehen soll: »Wir werden die Expresseinbürgerung abschaffen. Wir werden den Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten aussetzen. Wir werden freiwillige Aufnahmeprogramme womöglich beenden. Wir werden die Liste der sicheren Herkunftsstaaten ausweiten. (…) Und wir werden nach Afghanistan und Syrien abschieben. (…) Das ist unsere Agenda für Humanität und Ordnung, für Steuerung und Begrenzung und für weniger Spaltung und mehr gesellschaftlichen Frieden in unserem Land.«
Die Ausweitung der Einbürgerungsfrist auf mindestens fünf Jahre und die Aussetzung des Familiennachzugs sind bereits umgesetzt, zudem wurde die »Begrenzung« von Migration wieder als Ziel in das Aufenthaltsgesetz aufgenommen.
Abgeschafft werden soll eine Vorschrift, wonach Menschen, die von Abschiebungshaft oder Ausreisegewahrsam betroffen sind, einen vom Staat bestellten Anwalt bekommen. Auch Asylbewerber, die im sogenannten Dublin-Verfahren in einen anderen EU-Staat überstellt werden sollen und für die eine sogenannte Überstellungshaft angeordnet wurde, haben in Zukunft kein Recht mehr auf einen Anwalt.
Der nächste wirklich große Schritt von Dobrindts »Agenda für Humanität und Ordnung« ist dann, die Liste der »sicheren Herkunftsstaaten« nachhaltig um Syrien und Afghanistan zu erweitern. Über 400.000 Menschen aus Afghanistan suchen seit der Machtübernahme der Taliban in Deutschland Schutz, knapp eine Million Geflüchtete kam aus Syrien.
In derselben Rede hat Minister Dobrindt übrigens eine Verschärfung der Gesetze über Polizei und Nachrichtendienste angekündigt: IP-Datenspeicherung und Abgleich, also eine Wiedereinführung der Vorratsdatenspeicherung online soll erlaubt sein, ebenso Quellen-Telekommunikationsüberwachung (»Quellen-TKÜ«), also die Entschlüsselung verschlüsselter digitaler Nachrichten, und der Einsatz Künstlicher Intelligenz (KI), »um große Datenmengen effizienter auszuwerten« – also digitale Rasterfahndung 2.0. Zwischen den Diensten soll ein »effizienter und effektiver Datenaustausch« ermöglicht werden, über Schwerkriminalität und terroristische Aktivitäten, heißt es.
Dobrindts »Agenda für Humanität und Ordnung« hält also nicht nur für Nichtdeutsche unliebsame Initiativen bereit. Auch der deutsche Staatsbürger merkt besser auf – und achtet auf seinen Umgang. Denn wie Dobrindts »konservative Revolution der Bürger« in Wirklichkeit aussieht, wird er spätestens mitbekommen, wenn er zum Kollateralschaden einer Quellen-TKÜ geworden ist.
Was macht eigentlich die SPD? Ach ja, sie ist immer dabei.