Donald Trump hat Wladimir Putin in Anchorage am 15. August den roten Teppich ausgerollt und ihn nicht etwa festnehmen, sondern sogar in sein Auto steigen lassen – empört rieben sich westliche Politiker die Augen. Damit hätte Trump seinen Gast, den Präsidenten des größten Staates der Welt, »diplomatisch aufgewertet« – keinerlei Erleichterung darüber, dass die Chefs der beiden wichtigsten Atommächte, die noch vor Monaten den Einsatz von Atomwaffen in Erwägung gezogen hatten, nun zu Gesprächen über eine neue Sicherheitsstruktur für ganz Europa bereit sind!
Schon die Reaktionen der meisten europäischen, insbesondere deutschen Medien auf die relativ kurzfristige Ankündigung dieses Gipfelgesprächs in Alaska waren gespenstisch. Nicht nur hieß es immer noch, ein solches Treffen wäre vollkommen sinnlos, da ja dem Kriegsverbrecher Putin nach wie vor nicht zu trauen sei, und man widersprach sofort einer von Trump vage angedeuteten Möglichkeit von Gebietsabtretungen – weil nicht sein kann, was nicht sein darf.
Demonstrativ hatte Friedrich Merz rasch noch Wolodymyr Selenskyj nach Berlin zu einer Videokonferenz der »willigen« Europäer eingeladen, denen ihre tatsächliche Marginalität offenbar noch immer nicht bewusst geworden ist. Sie formulierten nicht nur eigene Tagesordnungspunkte aus einer Siegerperspektive der »Guten« gegen die »Bösen« für das Gipfelgespräch, sondern Merz garantierte Selenskyj seine sofortige Unterstützung für das folgende, am 18. August angesagte Zweiertreffen zwischen ihm und Trump. Selenskyj wurde dann kurzfristig in Brüssel und London weiter instruiert, und acht Spitzenpolitiker der Willigen-Koalition und der Nato eskortierten ihn nach Washington. Ein diplomatisch ungewöhnlicher Ausflug, es wurde auch kein roter Teppich ausgerollt, aber die Willigen durften dann doch in zweiter Runde noch mit an den Tisch. Dort war offensichtlich, dass Selenskyj sich in einer schwierigen Situation befindet, denn wie soll er auf die Vorschläge aus Alaska reagieren können, angesichts seiner so offensichtlichen Abhängigkeit von kriegswilligen Unterstützern?
Noch immer steht die vorherrschende Blindheit für die Realität eines für Kiew de facto längst verlorenen Krieges im Wege, die Selenskyj täglich vor Augen hat und die sogar dem Generalsekretär der Nato nicht verborgen blieb. Selenskyj hätte dem russischen Angriff vom Februar 2022 ja schon kurz nach seinem Beginn ein Ende setzen können (in Istanbul), ohne weitergehende Gebiets- und Menschenverluste zu riskieren, wenn er der zentralen russischen Forderung nach Neutralität der Ukraine ohne Nato-Truppen zugestimmt hätte. Davon jedoch rieten ihm die Europäer damals ab, mit ihrer Hilfe einen militärischen Sieg Selenskyjs über Russland als möglich in Aussicht stellend und damit seinen Ukrainern einen westlichen way of life.
Dabei ist seit Jahrzehnten bekannt, worum es Putin ging und geht: die seit 1997 praktizierte Ost-Erweiterung der Nato bis an russische Landesgrenzen zu stoppen. Doch der Kampf um die Ukraine ermöglichte genau das Gegenteil: Die Nato ist jetzt stärker denn je präsent im Osten. Und die westliche Hypothese, doch noch einen regime change in Moskau bewirken zu können, besteht weiterhin. Der Macht über die Ukraine kommt dafür eine Schlüsselrolle zu. Schon in den 90er Jahren hatte Zbigniew Brzezinski aufgezeigt, dass die USA für ihr damaliges Ziel, Eurasien beherrschen zu wollen, auch die Oberhoheit über die Ukraine gewinnen müssten (s. Die einzige Weltmacht, 1999).
Trumps angekündigte militärische Abwendung von Europa war im Frühjahr 2025 kaum verkraftet, da zog die EU nicht etwa den Schluss daraus, ihrem bisherigen Vasallenstatus durch die Aufnahme eigener Abrüstungsverhandlungen zu entkommen und endlich für eine europäische Sicherheitszone mit Russland einzutreten. Nein, die bestehende ökonomische Abhängigkeit von den USA und der anhaltende Fall der Profitrate im Neoliberalismus lässt für Kapitalvertreter wie Kanzler Merz nur einen Ausweg zu: Umrüstung der Zivil- zur Kriegsproduktion.
Seit der Veränderung der politischen Weltlage möchten die Europäer zunehmend Nutznießer des Konfliktes zwischen den USA und Russland sein. Das Freihandelsabkommen mit der EU (2014) diente schon damals der strategischen Öffnung ukrainischer Märkte für westliche Kapitalinteressen, z. B. sind ca. 40 Prozent der wertvollen Ackerbauflächen inzwischen in westlicher Hand. Die Deutschen positionieren sich dabei längst in vorderster Front. Stimmen aus der deutschen Wirtschaft, inzwischen auf den von der Merz-Regierung massiv propagierten Aufrüstungskurs eingeschwenkt, belebten im Börsenbarometer vom 15.August (Dlf) sogar schon die Baubranche, die ihrerseits auf einen raschen Wiederaufbau der Ukraine hofft; in Aussicht stünden dann auch besserer Zugriff auf Energie, wertvolle Ressourcen und Produkte aus ihrer Kornkammer. Doch noch ist es nicht so weit.
Eine militärische EU-Vorhut mit Ursula von der Leyen, Kaja Kallas, Emmanuel Macron und Keir Starmer gibt der antirussischen Propaganda mit fortgesetzter Dämonisierung Putins weiter Raum: Russland sei zur Gefahr nicht nur für Deutschland geworden – könne sogar binnen eines Jahrzehnts nach Lissabon durchmarschieren (niemand stellt die Frage: zu welchem Zweck?).
Merz bekannte im deutschen TV, es müsse jetzt auch für unsere Verteidigung gelten »whatever it takes«, denn vor allem die wirtschaftliche Stärke Deutschlands stehe im Vordergrund. Gerade »die Verteidigungsindustrie muss sehr zügig und im großen Maßstab skalierbar wachsen«, steht im Koalitionsvertrag und auch: »Wir richten unsere Rüstungsexporte stärker an den Interessen in der Außen-, Wirtschafts- und Sicherheitspolitik aus.«
Wie könnte man diese größte deutsche Rüstungsoffensive nach 1945 vor der Bevölkerung heute rechtfertigen, ohne das russische Feind-Bild in Deutschland zu beleben und zu schärfen? Diese – neben der wirtschaftlichen – vor allem ideologische Mobilmachung kann sich auf eine lange historische Tradition stützen, die nur kurzzeitig durch eine in den 1970er Jahren längst überfällige Ostpolitik unterbrochen wurde, deren Konsequenzen dann aber letztlich mit zur Auflösung der SU geführt haben.
Im Anschluss daran setzten die Staaten des Warschauer Paktes nach dem Abkommen von Helsinki (1972) und dem Ende des Kalten Krieges überwiegend auf eine gemeinsame Sicherheitsstruktur mit dem Westen, ganz im Sinne von Gorbatschows Vision vom »gemeinsamen Haus Europa« von 1985. Auf den Gipfeltreffen zwischen Ronald Reagan und Michail Gorbatschow in Genf (1985) und in Reykjavik (1986) rang man um gemeinsame Abrüstung – die letztlich aber am Festhalten der USA an ihrem Weltraum-Rüstungsschirm SDI scheiterte, bzw. sich auf einen Teil der Atomwaffen beschränkte.
Ungeachtet des völkerrechtswidrigen Nato-Angriffs auf Ex-Jugoslawien (1999) forderte Wladimir Putin am Beginn seiner ersten Amtszeit Europa auf, es möge »seine eigenen Möglichkeiten mit den menschlichen, territorialen und natürlichen Ressourcen Russlands sowie mit den russischen Wirtschafts-, Kultur- und Verteidigungspotenzialen vereinigen« (Rede im Deutschen Bundestag am 25. September 2001). Und noch nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 schlug Putin ein von der Anti-Hitler-Koalition des Zweiten Weltkriegs inspiriertes Bündnis gegen den Terrorismus vor. Aber die USA antworteten darauf mit dem Ausstieg aus dem ABM-Vertrag, den Breschnew und Nixon 1972 unterzeichnet hatten, und der der Sicherheitskonferenz von Helsinki (1973-75) vorausgegangen war. Das war ein erneuter unübersehbarer Hinweis darauf, dass die USA als Sieger des kalten Krieges auf ihre militärische Überlegenheit pochten und Russland nicht mehr als Partner anerkannten.
Solange Europa im Fahrwasser der USA mitschwimmt, ist es nicht in der Lage, die geo- und sicherheitspolitischen Interessen Russlands wahrzunehmen und zu nutzen, die nach wie vor eine Zusammenarbeit zwischen Ost und West ermöglichen würden. Darauf zielt auch die heutige Forderung Putins nach einer umfassenden Friedenslösung mit Sicherheitsgarantien für alle ab, die vom Westen schlicht als Kapitulationsforderung an die Ukraine abgelehnt wird.
Wie lange noch? Die neue Trump-Politik scheint unberechenbar, ihr Ende ist wohl absehbar, aber es bleibt offen, ob man danach wieder auf verlässlichere Strukturen in den USA wird bauen können. Das hoffen zumindest viele in der EU – sofern diese dann ökonomisch noch auf der Höhe ihrer Ansprüche ist und nicht in den Abwärtssog der US-Gesellschaft gezogen wird.
Auch vor solchem möglichen Szenario wäre eine weitere Fortführung des Stellvertreterkrieges zwischen USA und Russland durch die EU ein Verbrechen. Ebenso wie es die weitere westliche Unterstützung des Vernichtungskrieges gegen die Existenz und die Rechte der Palästinenser ist sowie die der Desintegration der Länder des Nahen Ostens durch eine paranoide und letztlich suizidale Politik Israels. Auch diese Weltregion erfordert dringend friedensstiftende Lösungen – und gehörte mit auf Trumps, Putins und Europas Agenda!
Aber führt man sich das geistige Terrain vor Augen, auf dem die bisher ungebremste Kriegspropaganda »zur Sicherheit« der Deutschen heute stattfindet, so fallen einem frühere Analysen zur Rechtsdrift in der BRD ein, wie z. B. die »Deutsche Angst« von Erich Kuby (1970). Auch die Nazi-Ideologie trug stark paranoide und – nach Kuby – auch suizidale Züge. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit ihm in den 1990er Jahren, als man schon wieder deutsches Säbelrasseln vernahm, ich aber meinte, das würde schon im vereinten Europa nicht mehr zu einer Gefahr werden. Da antwortete Kuby mir: »Warts ab – warte, bis in etwa 20 Jahren die Deutschen wieder zu sich kommen –, ich werde es nicht mehr erleben, aber du.« Das geht mir auch heute, genau zwanzig Jahre nach seinem Tod, nicht aus dem Kopf.