Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

Alaska: Ankunft in der Realität

Donald Trump hat Wla­di­mir Putin in Ancho­ra­ge am 15. August den roten Tep­pich aus­ge­rollt und ihn nicht etwa fest­neh­men, son­dern sogar in sein Auto stei­gen las­sen – empört rie­ben sich west­li­che Poli­ti­ker die Augen. Damit hät­te Trump sei­nen Gast, den Prä­si­den­ten des größ­ten Staa­tes der Welt, »diplo­ma­tisch auf­ge­wer­tet« – kei­ner­lei Erleich­te­rung dar­über, dass die Chefs der bei­den wich­tig­sten Atom­mäch­te, die noch vor Mona­ten den Ein­satz von Atom­waf­fen in Erwä­gung gezo­gen hat­ten, nun zu Gesprä­chen über eine neue Sicher­heits­struk­tur für ganz Euro­pa bereit sind!

Schon die Reak­tio­nen der mei­sten euro­päi­schen, ins­be­son­de­re deut­schen Medi­en auf die rela­tiv kurz­fri­sti­ge Ankün­di­gung die­ses Gip­fel­ge­sprächs in Alas­ka waren gespen­stisch. Nicht nur hieß es immer noch, ein sol­ches Tref­fen wäre voll­kom­men sinn­los, da ja dem Kriegs­ver­bre­cher Putin nach wie vor nicht zu trau­en sei, und man wider­sprach sofort einer von Trump vage ange­deu­te­ten Mög­lich­keit von Gebiets­ab­tre­tun­gen – weil nicht sein kann, was nicht sein darf.

Demon­stra­tiv hat­te Fried­rich Merz rasch noch Wolo­dym­yr Selen­skyj nach Ber­lin zu einer Video­kon­fe­renz der »wil­li­gen« Euro­pä­er ein­ge­la­den, denen ihre tat­säch­li­che Mar­gi­na­li­tät offen­bar noch immer nicht bewusst gewor­den ist. Sie for­mu­lier­ten nicht nur eige­ne Tages­ord­nungs­punk­te aus einer Sie­ger­per­spek­ti­ve der »Guten« gegen die »Bösen« für das Gip­fel­ge­spräch, son­dern Merz garan­tier­te Selen­skyj sei­ne sofor­ti­ge Unter­stüt­zung für das fol­gen­de, am 18. August ange­sag­te Zwei­er­tref­fen zwi­schen ihm und Trump. Selen­skyj wur­de dann kurz­fri­stig in Brüs­sel und Lon­don wei­ter instru­iert, und acht Spit­zen­po­li­ti­ker der Wil­li­gen-Koali­ti­on und der Nato eskor­tier­ten ihn nach Washing­ton. Ein diplo­ma­tisch unge­wöhn­li­cher Aus­flug, es wur­de auch kein roter Tep­pich aus­ge­rollt, aber die Wil­li­gen durf­ten dann doch in zwei­ter Run­de noch mit an den Tisch. Dort war offen­sicht­lich, dass Selen­skyj sich in einer schwie­ri­gen Situa­ti­on befin­det, denn wie soll er auf die Vor­schlä­ge aus Alas­ka reagie­ren kön­nen, ange­sichts sei­ner so offen­sicht­li­chen Abhän­gig­keit von kriegs­wil­li­gen Unterstützern?

Noch immer steht die vor­herr­schen­de Blind­heit für die Rea­li­tät eines für Kiew de fac­to längst ver­lo­re­nen Krie­ges im Wege, die Selen­skyj täg­lich vor Augen hat und die sogar dem Gene­ral­se­kre­tär der Nato nicht ver­bor­gen blieb. Selen­skyj hät­te dem rus­si­schen Angriff vom Febru­ar 2022 ja schon kurz nach sei­nem Beginn ein Ende set­zen kön­nen (in Istan­bul), ohne wei­ter­ge­hen­de Gebiets- und Men­schen­ver­lu­ste zu ris­kie­ren, wenn er der zen­tra­len rus­si­schen For­de­rung nach Neu­tra­li­tät der Ukrai­ne ohne Nato-Trup­pen zuge­stimmt hät­te. Davon jedoch rie­ten ihm die Euro­pä­er damals ab, mit ihrer Hil­fe einen mili­tä­ri­schen Sieg Selen­sky­js über Russ­land als mög­lich in Aus­sicht stel­lend und damit sei­nen Ukrai­nern einen west­li­chen way of life.

Dabei ist seit Jahr­zehn­ten bekannt, wor­um es Putin ging und geht: die seit 1997 prak­ti­zier­te Ost-Erwei­te­rung der Nato bis an rus­si­sche Lan­des­gren­zen zu stop­pen. Doch der Kampf um die Ukrai­ne ermög­lich­te genau das Gegen­teil: Die Nato ist jetzt stär­ker denn je prä­sent im Osten. Und die west­li­che Hypo­the­se, doch noch einen regime chan­ge in Mos­kau bewir­ken zu kön­nen, besteht wei­ter­hin. Der Macht über die Ukrai­ne kommt dafür eine Schlüs­sel­rol­le zu. Schon in den 90er Jah­ren hat­te Zbi­gniew Brze­zin­ski auf­ge­zeigt, dass die USA für ihr dama­li­ges Ziel, Eura­si­en beherr­schen zu wol­len, auch die Ober­ho­heit über die Ukrai­ne gewin­nen müss­ten (s. Die ein­zi­ge Welt­macht, 1999).

Trumps ange­kün­dig­te mili­tä­ri­sche Abwen­dung von Euro­pa war im Früh­jahr 2025 kaum ver­kraf­tet, da zog die EU nicht etwa den Schluss dar­aus, ihrem bis­he­ri­gen Vasal­len­sta­tus durch die Auf­nah­me eige­ner Abrü­stungs­ver­hand­lun­gen zu ent­kom­men und end­lich für eine euro­päi­sche Sicher­heits­zo­ne mit Russ­land ein­zu­tre­ten. Nein, die bestehen­de öko­no­mi­sche Abhän­gig­keit von den USA und der anhal­ten­de Fall der Pro­fi­tra­te im Neo­li­be­ra­lis­mus lässt für Kapi­tal­ver­tre­ter wie Kanz­ler Merz nur einen Aus­weg zu: Umrü­stung der Zivil- zur Kriegsproduktion.

Seit der Ver­än­de­rung der poli­ti­schen Welt­la­ge möch­ten die Euro­pä­er zuneh­mend Nutz­nie­ßer des Kon­flik­tes zwi­schen den USA und Russ­land sein. Das Frei­han­dels­ab­kom­men mit der EU (2014) dien­te schon damals der stra­te­gi­schen Öff­nung ukrai­ni­scher Märk­te für west­li­che Kapi­tal­in­ter­es­sen, z. B. sind ca. 40 Pro­zent der wert­vol­len Acker­bau­flä­chen inzwi­schen in west­li­cher Hand. Die Deut­schen posi­tio­nie­ren sich dabei längst in vor­der­ster Front. Stim­men aus der deut­schen Wirt­schaft, inzwi­schen auf den von der Merz-Regie­rung mas­siv pro­pa­gier­ten Auf­rü­stungs­kurs ein­ge­schwenkt, beleb­ten im Bör­sen­ba­ro­me­ter vom 15.August (Dlf) sogar schon die Bau­bran­che, die ihrer­seits auf einen raschen Wie­der­auf­bau der Ukrai­ne hofft; in Aus­sicht stün­den dann auch bes­se­rer Zugriff auf Ener­gie, wert­vol­le Res­sour­cen und Pro­duk­te aus ihrer Korn­kam­mer. Doch noch ist es nicht so weit.

Eine mili­tä­ri­sche EU-Vor­hut mit Ursu­la von der Ley­en, Kaja Kal­las, Emma­nu­el Macron und Keir Star­mer gibt der anti­rus­si­schen Pro­pa­gan­da mit fort­ge­setz­ter Dämo­ni­sie­rung Putins wei­ter Raum: Russ­land sei zur Gefahr nicht nur für Deutsch­land gewor­den – kön­ne sogar bin­nen eines Jahr­zehnts nach Lis­sa­bon durch­mar­schie­ren (nie­mand stellt die Fra­ge: zu wel­chem Zweck?).

Merz bekann­te im deut­schen TV, es müs­se jetzt auch für unse­re Ver­tei­di­gung gel­ten »wha­te­ver it takes«, denn vor allem die wirt­schaft­li­che Stär­ke Deutsch­lands ste­he im Vor­der­grund. Gera­de »die Ver­tei­di­gungs­in­du­strie muss sehr zügig und im gro­ßen Maß­stab ska­lier­bar wach­sen«, steht im Koali­ti­ons­ver­trag und auch: »Wir rich­ten unse­re Rüstungs­expor­te stär­ker an den Inter­es­sen in der Außen-, Wirt­schafts- und Sicher­heits­po­li­tik aus.«

Wie könn­te man die­se größ­te deut­sche Rüstungs­of­fen­si­ve nach 1945 vor der Bevöl­ke­rung heu­te recht­fer­ti­gen, ohne das rus­si­sche Feind-Bild in Deutsch­land zu bele­ben und zu schär­fen? Die­se – neben der wirt­schaft­li­chen – vor allem ideo­lo­gi­sche Mobil­ma­chung kann sich auf eine lan­ge histo­ri­sche Tra­di­ti­on stüt­zen, die nur kurz­zei­tig durch eine in den 1970er Jah­ren längst über­fäl­li­ge Ost­po­li­tik unter­bro­chen wur­de, deren Kon­se­quen­zen dann aber letzt­lich mit zur Auf­lö­sung der SU geführt haben.

Im Anschluss dar­an setz­ten die Staa­ten des War­schau­er Pak­tes nach dem Abkom­men von Hel­sin­ki (1972) und dem Ende des Kal­ten Krie­ges über­wie­gend auf eine gemein­sa­me Sicher­heits­struk­tur mit dem Westen, ganz im Sin­ne von Gor­bat­schows Visi­on vom »gemein­sa­men Haus Euro­pa« von 1985. Auf den Gip­fel­tref­fen zwi­schen Ronald Rea­gan und Michail Gor­bat­schow in Genf (1985) und in Reykja­vik (1986) rang man um gemein­sa­me Abrü­stung – die letzt­lich aber am Fest­hal­ten der USA an ihrem Welt­raum-Rüstungs­schirm SDI schei­ter­te, bzw. sich auf einen Teil der Atom­waf­fen beschränkte.

Unge­ach­tet des völ­ker­rechts­wid­ri­gen Nato-Angriffs auf Ex-Jugo­sla­wi­en (1999) for­der­te Wla­di­mir Putin am Beginn sei­ner ersten Amts­zeit Euro­pa auf, es möge »sei­ne eige­nen Mög­lich­kei­ten mit den mensch­li­chen, ter­ri­to­ria­len und natür­li­chen Res­sour­cen Russ­lands sowie mit den rus­si­schen Wirt­schafts-, Kul­tur- und Ver­tei­di­gungs­po­ten­zia­len ver­ei­ni­gen« (Rede im Deut­schen Bun­des­tag am 25. Sep­tem­ber 2001). Und noch nach den Ter­ror­an­schlä­gen vom 11. Sep­tem­ber 2001 schlug Putin ein von der Anti-Hit­ler-Koali­ti­on des Zwei­ten Welt­kriegs inspi­rier­tes Bünd­nis gegen den Ter­ro­ris­mus vor. Aber die USA ant­wor­te­ten dar­auf mit dem Aus­stieg aus dem ABM-Ver­trag, den Bre­sch­new und Nixon 1972 unter­zeich­net hat­ten, und der der Sicher­heits­kon­fe­renz von Hel­sin­ki (1973-75) vor­aus­ge­gan­gen war. Das war ein erneu­ter unüber­seh­ba­rer Hin­weis dar­auf, dass die USA als Sie­ger des kal­ten Krie­ges auf ihre mili­tä­ri­sche Über­le­gen­heit poch­ten und Russ­land nicht mehr als Part­ner anerkannten.

Solan­ge Euro­pa im Fahr­was­ser der USA mit­schwimmt, ist es nicht in der Lage, die geo- und sicher­heits­po­li­ti­schen Inter­es­sen Russ­lands wahr­zu­neh­men und zu nut­zen, die nach wie vor eine Zusam­men­ar­beit zwi­schen Ost und West ermög­li­chen wür­den. Dar­auf zielt auch die heu­ti­ge For­de­rung Putins nach einer umfas­sen­den Frie­dens­lö­sung mit Sicher­heits­ga­ran­tien für alle ab, die vom Westen schlicht als Kapi­tu­la­ti­ons­for­de­rung an die Ukrai­ne abge­lehnt wird.

Wie lan­ge noch? Die neue Trump-Poli­tik scheint unbe­re­chen­bar, ihr Ende ist wohl abseh­bar, aber es bleibt offen, ob man danach wie­der auf ver­läss­li­che­re Struk­tu­ren in den USA wird bau­en kön­nen. Das hof­fen zumin­dest vie­le in der EU – sofern die­se dann öko­no­misch noch auf der Höhe ihrer Ansprü­che ist und nicht in den Abwärts­sog der US-Gesell­schaft gezo­gen wird.

Auch vor sol­chem mög­li­chen Sze­na­rio wäre eine wei­te­re Fort­füh­rung des Stell­ver­tre­ter­krie­ges zwi­schen USA und Russ­land durch die EU ein Ver­bre­chen. Eben­so wie es die wei­te­re west­li­che Unter­stüt­zung des Ver­nich­tungs­krie­ges gegen die Exi­stenz und die Rech­te der Palä­sti­nen­ser ist sowie die der Des­in­te­gra­ti­on der Län­der des Nahen Ostens durch eine para­no­ide und letzt­lich sui­zi­da­le Poli­tik Isra­els. Auch die­se Welt­re­gi­on erfor­dert drin­gend frie­dens­stif­ten­de Lösun­gen – und gehör­te mit auf Trumps, Putins und Euro­pas Agenda!

Aber führt man sich das gei­sti­ge Ter­rain vor Augen, auf dem die bis­her unge­brem­ste Kriegs­pro­pa­gan­da »zur Sicher­heit« der Deut­schen heu­te statt­fin­det, so fal­len einem frü­he­re Ana­ly­sen zur Rechts­drift in der BRD ein, wie z. B. die »Deut­sche Angst« von Erich Kuby (1970). Auch die Nazi-Ideo­lo­gie trug stark para­no­ide und – nach Kuby – auch sui­zi­da­le Züge. Ich erin­ne­re mich an ein Gespräch mit ihm in den 1990er Jah­ren, als man schon wie­der deut­sches Säbel­ras­seln ver­nahm, ich aber mein­te, das wür­de schon im ver­ein­ten Euro­pa nicht mehr zu einer Gefahr wer­den. Da ant­wor­te­te Kuby mir: »Warts ab – war­te, bis in etwa 20 Jah­ren die Deut­schen wie­der zu sich kom­men –, ich wer­de es nicht mehr erle­ben, aber du.« Das geht mir auch heu­te, genau zwan­zig Jah­re nach sei­nem Tod, nicht aus dem Kopf.