Elsass im Herbst. Wir haben Colmar an zwei Tagen durchpflügt. Nun sind die herrlichen Ortschaften entlang der Weinstraße im Visier. Die Vogesen am Horizont. Um die Mittagszeit Station in Kaysersberg. Wer den Ort über die Rue du Général de Gaulle, die einstige Làng Gàss, betritt, kann das Besondere an dem senffarbenen Fachwerkhaus, das die Nummer 124 trägt, leicht übersehen. Allzu klein ist die Tafel, die das Gebäude als Geburtshaus von Albert Schweitzer ausweist. Hier hatten sich der protestantische Pfarrer Ludwig Schweitzer und seine Frau Adele niedergelassen, und hier erblickte ihr Sohn Albert am 14. Januar 1875 das Licht der Welt. Das Datum vor Augen, versuche ich mich zu erinnern, ob sein 150. Geburtstag der internationalen Gemeinschaft ein Anlass gewesen war, dieses großen humanistischen Arztes, Philosophen und Theologen würdig zu gedenken. Hatte das sich neigende Jahr der Kriege und des Geschreies nach Kriegsertüchtigung, des Genozids in Gaza, der klimatischen Verheerungen und einer fortdauernden neokolonialen Ausplünderung armer Nationen gebührenden Raum für die Besinnung auf sein Denken und Wirken gelassen? Ich finde keinen Beleg dafür und frage mich: Was hätte vernunftstiftender strahlen können als Schweitzers Verlangen nach Ehrfurcht vor dem Leben? Dieses tätige Credo, das mit dem Friedensnobelpreis zu einer Zeit geehrt wurde, als künftige mit wertewestlichem Kalkül getroffene Fehlentscheide den Ruhm dieser Auszeichnung noch nicht trüben konnten, verdrängt plötzlich alle Touristenlaunen. Der große Philanthrop, der zeitlebens der Welt ins Gewissen redete, tritt, wenn man es zulässt, verblüffend imperativ ins Heute. Und meine Neugier richtet sich bereits auf die Rückkehr in die häusliche Bibliothek.
Wohl das erste Mal seit meiner Studentenzeit lese ich wieder Schweitzers Erlebnisse und Beobachtungen, die er »Zwischen Wasser und Urwald« nannte. 1920 verfasst und 1926 gedruckt, finden sich darin nicht wenige noch von zeitgenössischer kolonialer Sprechweise geprägte Sentenzen, aber überragend zeichnen sich Solidarität, Empathie für das Leben aller Kreatur ab. Die Motive seines Wirkens im Spital von Lambarene wird Schweitzer als Summe seiner Erfahrungen später so beschreiben: »Die Ehrfurcht vor dem Leben gebietet uns, den hilfsbedürftigen Völkern in der Welt Hilfe zu bringen. (…) Letzten Endes ist alles, was wir den Völkern der früheren Kolonien Gutes erweisen, nicht Wohltat, sondern es ist unsere Sühne für das Leid, das wir Weißen von dem Tage an über sie gebracht haben, da unsere Schiffe den Weg zu ihren Gestaden fanden. Es muss dahin kommen, dass Weiß und Farbig sich in ethischem Geist begegnen. Dann erst wird eine echte Verständigung möglich sein. An der Schaffung dieses Geistes zu arbeiten, heißt zukunftsreiche Politik treiben.«
Leicht war der Weg in den Urwald von Lambarene, das im heutigen Gabun gelegen ist, für Schweitzer keinesfalls. Nach dem Abitur in Mülhausen sowie dem Studium der Theologie und Philosophie in Straßburg, denen jeweils Dissertationen folgten, wurde er zunächst wegen seiner liberalen theologischen Auffassungen für einen Missionarseinsatz abgelehnt. Um seiner inneren Berufung dennoch zu folgen und im damaligen Französisch-Äquatorialafrika Missionsarzt zu werden, absolvierte Schweitzer in Straßburg noch ein Medizinstudium. 1912 wurde er als Arzt approbiert, im Folgejahr errang er, jetzt im medizinischen Fach, seinen dritten Doktortitel.
Ich halte frühe Ausgaben der »Kulturphilosophie« in Händen, die Schweitzer zwischen 1914 und 1917 ausgearbeitet hat. Dabei fällt aus dem Band »Verfall und Wiederaufbau der Kultur« eine darin als Kopie aufbewahrte Rede, deren Existenz mir in Vergessenheit geraten war. Ein Zufallsfund, den mir ein Freund vor Jahren wegen einer hübschen Petitesse zugeschickt hatte. Die Rede war in Kaysersberg von einem gewissen Hartmut König, Diakon und Neffe Albert Schweitzers, gehalten worden. Der Namensvetter, der selbst ein knappes Jahr in Lambarene verbrachte und seine Begegnungen mit Schweitzers Familie als ihn prägende Erfahrungen beschreibt, breitet überzeugend aus, was der Elsässer im Denken und Tun zeitlebens zu bewirken versuchte. Vor allem aber, wie sehr man der Erde wünschen sollte, Schweitzers Erbe fände Eingang in ein größeres Bemühen der Völker und Regenten um eine Zukunft der Humanität.
Unverrückbar steht sein berühmtes Prinzip: »Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.« Solche Bejahung des Daseins sei eine geistige Tat, in der der Mensch aufhöre, dahinzuleben, in der er vielmehr anfange, sich seinem Leben mit Ehrfurcht hinzugeben, um ihm seinen wahren Wert zu verleihen. Der so denkend gewordene Mensch erlebe die »Notwendigkeit, allem Willen zum Leben die gleiche Ehrfurcht vor dem Leben entgegenzubringen wie dem eigenen«. So erlebe er das andere Leben in dem seinen. Als gut gelte ihm dann, Leben zu erhalten und zu fördern. Was Marxisten ergänzen würden, bleibt als Grundpfeiler humanistischer Überzeugungen essenziell für die Breite einer Friedensphalanx, die weltweit eine Renaissance der Vernunft erkämpfen muss. Ehrfurcht vor dem Leben heißt zugleich Abkehr vom Drang zum Krieg, von der nuklearen Bedrohung. Sie erstrebt die Wiedererrichtung eines verlässlichen Netzes kollektiver Sicherheit, mahnt zur Wahrung der UN-deklarierten Menschenrechte, verlangt Verzicht auf jegliche politische und wirtschaftliche Erpressermentalität in Zeiten der Zurückweisung geostrategischen Herrschaftsdenkens zugunsten einer multilateralen Verantwortung für die Entwicklung und Lenkung der Weltdinge.
Zunächst hatte sich Schweitzer mit politischen Stellungnahmen zurückgehalten. Aber selbst inmitten des afrikanischen Urwaldes geriet er in die Wirren des Ersten Weltkrieges. Auf französischem Verwaltungsgebiet arbeitend, wurden er und seine Frau wegen ihrer deutschen Staatsangehörigkeit unter Hausarrest gestellt, im vierten Kriegsjahr gar verhaftet und nach Frankreich verbracht, wo sie bis Juli 1918 interniert blieben. Nach Kriegsende ins Elsass zurückgekehrt, das wieder zu Frankreich kam, arbeitete der nunmehrige französische Staatsbürger, der sich trotzig »Weltbürger« nannte, als Vikar und Assistenzarzt in Straßburg. Zudem hielt er ab 1920 in Schweden Vorträge über seine kulturphilosophischen Ausarbeitungen und gab Orgelkonzerte, aus deren Erlösen er die Begleichung seiner Schulden und 1924 die Rückkehr nach Lambarene finanzieren konnte. Schweitzer sah die Gefahren des aufziehenden Nationalsozialismus und benannte sie in einer Rede anlässlich des 100. Todestages von Johann Wolfgang von Goethe. Eine dennoch in Lambarene eingetroffene Einladung Goebbels‘, die »mit deutschem Gruß« gezeichnet war, soll er »mit zentralafrikanischem Gruß« abgewiesen haben. Bald war seine zunächst noch in Frankreich verbliebene Frau wegen ihrer Abstammung ständig von Judenverfolgungen bedroht, denen sie erst 1941 durch ihre Ausreise nach Afrika entkam. Schweitzer war also auch persönlich von den durch zwei Weltkriege und eine komplizierte Interimszeit ausgelösten Verwerfungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert betroffen.
Seine Stimme in den politischen Auseinandersetzungen gewann angesichts des atomaren Wettrüstens an Schärfe und Gewicht. Hatte er 1954 bereits in seiner Dankesrede für die Verleihung des Friedensnobelpreises vor den Gefahren eines nuklearen Infernos gewarnt, so vertiefte er in seinem »Appell an die Menschheit«, der im April 1957 über Radio Oslo gesendet wurde und weltweite Aufmerksamkeit erfuhr, seinen Weckruf an die Zivilisation. Schweitzer war der Ansicht, dass die Not, in der wir heute leben, die Gefährdung des Friedens sei. Die Menschheit hätte nur die Wahl zwischen zwei Risiken. Der Fortsetzung des unsinnigen Wettrüstens in Atomwaffen samt der damit gegebenen Gefahr eines Atomkrieges, andererseits dem Verzicht auf Atomwaffen in der Hoffnung, dass Amerika, die Sowjetunion und die mit ihnen in Verbindung stehenden Völker es fertigbringen würden, in Verträglichkeit und Frieden nebeneinander zu leben. Das erste böte keine Möglichkeit einer gedeihlichen Zukunft. Das zweite sehr wohl. Das Ziel, auf das von jetzt bis in alle Zukunft der Blick gerichtet bleiben müsse, sei, dass völkerentzweiende Fragen nicht mehr durch Kriege entschieden werden können. Die Entscheidung müsse friedlich gefunden werden. Für seine Stellungnahmen gegen die atomare Bedrohung hatte sich Schweitzer bei Albert Einstein und Otto Hahn, auch bei Werner Heisenberg und Frédéric Joliot-Curie fachliche Expertise eingeholt. 1958 unterzeichnete er eine von Linus Pauling angeregte Petition namhafter Wissenschaftler gegen Kernwaffentests. Überhaupt setzte Schweitzer beim Ringen um nukleare Abrüstung mit besonderem Nachdruck auf die Überzeugungskraft wissenschaftlicher Kompetenz. In einem Brief an den Daily Herald, der im April 1954 erschien, schrieb er: »Die Wissenschaftler selbst, die (…) alle Gefahren gründlich kennen, müssen der Menschheit die Wahrheit sagen in Wort und Schrift. (…) Nur sie besitzen die Autorität zu erklären, dass wir nicht länger die Verantwortung für diese Experimente tragen können.«
Und da ist sie wieder, die vor dem senffarbenen Haus in Kaysersberg gestellte Frage, ob sich die Menschheit zum 150. Geburtsjubiläum an das reiche Erbe Albert Schweitzers erinnerte. In die allgemeine Tonlosigkeit mündete das öffentliche Schweigen derer, denen der große Elsässer Humanist eine besondere aufklärerische Verantwortung zumaß. Jubiläum passé. Aber jeder Tag, der kommt, hat Raum für eine Besinnung.
Albert Schweitzer beim Vorübergehen, und das Herz voller Wehmut und Hoffnung.