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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Albert Schweitzer beim Vorübergehen

Elsass im Herbst. Wir haben Col­mar an zwei Tagen durch­pflügt. Nun sind die herr­li­chen Ort­schaf­ten ent­lang der Wein­stra­ße im Visier. Die Voge­sen am Hori­zont. Um die Mit­tags­zeit Sta­ti­on in Kay­sers­berg. Wer den Ort über die Rue du Géné­ral de Gaul­le, die ein­sti­ge Làng Gàss, betritt, kann das Beson­de­re an dem senf­far­be­nen Fach­werk­haus, das die Num­mer 124 trägt, leicht über­se­hen. All­zu klein ist die Tafel, die das Gebäu­de als Geburts­haus von Albert Schweit­zer aus­weist. Hier hat­ten sich der pro­te­stan­ti­sche Pfar­rer Lud­wig Schweit­zer und sei­ne Frau Ade­le nie­der­ge­las­sen, und hier erblick­te ihr Sohn Albert am 14. Janu­ar 1875 das Licht der Welt. Das Datum vor Augen, ver­su­che ich mich zu erin­nern, ob sein 150. Geburts­tag der inter­na­tio­na­len Gemein­schaft ein Anlass gewe­sen war, die­ses gro­ßen huma­ni­sti­schen Arz­tes, Phi­lo­so­phen und Theo­lo­gen wür­dig zu geden­ken. Hat­te das sich nei­gen­de Jahr der Krie­ge und des Geschrei­es nach Kriegs­er­tüch­ti­gung, des Geno­zids in Gaza, der kli­ma­ti­schen Ver­hee­run­gen und einer fort­dau­ern­den neo­ko­lo­nia­len Aus­plün­de­rung armer Natio­nen gebüh­ren­den Raum für die Besin­nung auf sein Den­ken und Wir­ken gelas­sen? Ich fin­de kei­nen Beleg dafür und fra­ge mich: Was hät­te ver­nunfts­tif­ten­der strah­len kön­nen als Schweit­zers Ver­lan­gen nach Ehr­furcht vor dem Leben? Die­ses täti­ge Cre­do, das mit dem Frie­dens­no­bel­preis zu einer Zeit geehrt wur­de, als künf­ti­ge mit wer­te­west­li­chem Kal­kül getrof­fe­ne Fehl­ent­schei­de den Ruhm die­ser Aus­zeich­nung noch nicht trü­ben konn­ten, ver­drängt plötz­lich alle Tou­ri­sten­lau­nen. Der gro­ße Phil­an­throp, der zeit­le­bens der Welt ins Gewis­sen rede­te, tritt, wenn man es zulässt, ver­blüf­fend impe­ra­tiv ins Heu­te. Und mei­ne Neu­gier rich­tet sich bereits auf die Rück­kehr in die häus­li­che Bibliothek.

Wohl das erste Mal seit mei­ner Stu­den­ten­zeit lese ich wie­der Schweit­zers Erleb­nis­se und Beob­ach­tun­gen, die er »Zwi­schen Was­ser und Urwald« nann­te. 1920 ver­fasst und 1926 gedruckt, fin­den sich dar­in nicht weni­ge noch von zeit­ge­nös­si­scher kolo­nia­ler Sprech­wei­se gepräg­te Sen­ten­zen, aber über­ra­gend zeich­nen sich Soli­da­ri­tät, Empa­thie für das Leben aller Krea­tur ab. Die Moti­ve sei­nes Wir­kens im Spi­tal von Lam­ba­re­ne wird Schweit­zer als Sum­me sei­ner Erfah­run­gen spä­ter so beschrei­ben: »Die Ehr­furcht vor dem Leben gebie­tet uns, den hilfs­be­dürf­ti­gen Völ­kern in der Welt Hil­fe zu brin­gen. (…) Letz­ten Endes ist alles, was wir den Völ­kern der frü­he­ren Kolo­nien Gutes erwei­sen, nicht Wohl­tat, son­dern es ist unse­re Süh­ne für das Leid, das wir Wei­ßen von dem Tage an über sie gebracht haben, da unse­re Schif­fe den Weg zu ihren Gesta­den fan­den. Es muss dahin kom­men, dass Weiß und Far­big sich in ethi­schem Geist begeg­nen. Dann erst wird eine ech­te Ver­stän­di­gung mög­lich sein. An der Schaf­fung die­ses Gei­stes zu arbei­ten, heißt zukunfts­rei­che Poli­tik treiben.«

Leicht war der Weg in den Urwald von Lam­ba­re­ne, das im heu­ti­gen Gabun gele­gen ist, für Schweit­zer kei­nes­falls. Nach dem Abitur in Mül­hau­sen sowie dem Stu­di­um der Theo­lo­gie und Phi­lo­so­phie in Straß­burg, denen jeweils Dis­ser­ta­tio­nen folg­ten, wur­de er zunächst wegen sei­ner libe­ra­len theo­lo­gi­schen Auf­fas­sun­gen für einen Mis­sio­nar­s­e­in­satz abge­lehnt. Um sei­ner inne­ren Beru­fung den­noch zu fol­gen und im dama­li­gen Fran­zö­sisch-Äqua­to­ri­al­afri­ka Mis­si­ons­arzt zu wer­den, absol­vier­te Schweit­zer in Straß­burg noch ein Medi­zin­stu­di­um. 1912 wur­de er als Arzt appro­biert, im Fol­ge­jahr errang er, jetzt im medi­zi­ni­schen Fach, sei­nen drit­ten Doktortitel.

Ich hal­te frü­he Aus­ga­ben der »Kul­tur­phi­lo­so­phie« in Hän­den, die Schweit­zer zwi­schen 1914 und 1917 aus­ge­ar­bei­tet hat. Dabei fällt aus dem Band »Ver­fall und Wie­der­auf­bau der Kul­tur« eine dar­in als Kopie auf­be­wahr­te Rede, deren Exi­stenz mir in Ver­ges­sen­heit gera­ten war. Ein Zufalls­fund, den mir ein Freund vor Jah­ren wegen einer hüb­schen Peti­tes­se zuge­schickt hat­te. Die Rede war in Kay­sers­berg von einem gewis­sen Hart­mut König, Dia­kon und Nef­fe Albert Schweit­zers, gehal­ten wor­den. Der Namens­vet­ter, der selbst ein knap­pes Jahr in Lam­ba­re­ne ver­brach­te und sei­ne Begeg­nun­gen mit Schweit­zers Fami­lie als ihn prä­gen­de Erfah­run­gen beschreibt, brei­tet über­zeu­gend aus, was der Elsäs­ser im Den­ken und Tun zeit­le­bens zu bewir­ken ver­such­te. Vor allem aber, wie sehr man der Erde wün­schen soll­te, Schweit­zers Erbe fän­de Ein­gang in ein grö­ße­res Bemü­hen der Völ­ker und Regen­ten um eine Zukunft der Humanität.

Unver­rück­bar steht sein berühm­tes Prin­zip: »Ich bin Leben, das leben will, inmit­ten von Leben, das leben will.« Sol­che Beja­hung des Daseins sei eine gei­sti­ge Tat, in der der Mensch auf­hö­re, dahin­zu­le­ben, in der er viel­mehr anfan­ge, sich sei­nem Leben mit Ehr­furcht hin­zu­ge­ben, um ihm sei­nen wah­ren Wert zu ver­lei­hen. Der so den­kend gewor­de­ne Mensch erle­be die »Not­wen­dig­keit, allem Wil­len zum Leben die glei­che Ehr­furcht vor dem Leben ent­ge­gen­zu­brin­gen wie dem eige­nen«. So erle­be er das ande­re Leben in dem sei­nen. Als gut gel­te ihm dann, Leben zu erhal­ten und zu för­dern. Was Mar­xi­sten ergän­zen wür­den, bleibt als Grund­pfei­ler huma­ni­sti­scher Über­zeu­gun­gen essen­zi­ell für die Brei­te einer Frie­denspha­lanx, die welt­weit eine Renais­sance der Ver­nunft erkämp­fen muss. Ehr­furcht vor dem Leben heißt zugleich Abkehr vom Drang zum Krieg, von der nuklea­ren Bedro­hung. Sie erstrebt die Wie­der­errich­tung eines ver­läss­li­chen Net­zes kol­lek­ti­ver Sicher­heit, mahnt zur Wah­rung der UN-dekla­rier­ten Men­schen­rech­te, ver­langt Ver­zicht auf jeg­li­che poli­ti­sche und wirt­schaft­li­che Erpress­ermen­ta­li­tät in Zei­ten der Zurück­wei­sung geo­stra­te­gi­schen Herr­schafts­den­kens zugun­sten einer mul­ti­la­te­ra­len Ver­ant­wor­tung für die Ent­wick­lung und Len­kung der Weltdinge.

Zunächst hat­te sich Schweit­zer mit poli­ti­schen Stel­lung­nah­men zurück­ge­hal­ten. Aber selbst inmit­ten des afri­ka­ni­schen Urwal­des geriet er in die Wir­ren des Ersten Welt­krie­ges. Auf fran­zö­si­schem Ver­wal­tungs­ge­biet arbei­tend, wur­den er und sei­ne Frau wegen ihrer deut­schen Staats­an­ge­hö­rig­keit unter Haus­ar­rest gestellt, im vier­ten Kriegs­jahr gar ver­haf­tet und nach Frank­reich ver­bracht, wo sie bis Juli 1918 inter­niert blie­ben. Nach Kriegs­en­de ins Elsass zurück­ge­kehrt, das wie­der zu Frank­reich kam, arbei­te­te der nun­meh­ri­ge fran­zö­si­sche Staats­bür­ger, der sich trot­zig »Welt­bür­ger« nann­te, als Vikar und Assi­stenz­arzt in Straß­burg. Zudem hielt er ab 1920 in Schwe­den Vor­trä­ge über sei­ne kul­tur­phi­lo­so­phi­schen Aus­ar­bei­tun­gen und gab Orgel­kon­zer­te, aus deren Erlö­sen er die Beglei­chung sei­ner Schul­den und 1924 die Rück­kehr nach Lam­ba­re­ne finan­zie­ren konn­te. Schweit­zer sah die Gefah­ren des auf­zie­hen­den Natio­nal­so­zia­lis­mus und benann­te sie in einer Rede anläss­lich des 100. Todes­ta­ges von Johann Wolf­gang von Goe­the. Eine den­noch in Lam­ba­re­ne ein­ge­trof­fe­ne Ein­la­dung Goeb­bels‘, die »mit deut­schem Gruß« gezeich­net war, soll er »mit zen­tral­afri­ka­ni­schem Gruß« abge­wie­sen haben. Bald war sei­ne zunächst noch in Frank­reich ver­blie­be­ne Frau wegen ihrer Abstam­mung stän­dig von Juden­ver­fol­gun­gen bedroht, denen sie erst 1941 durch ihre Aus­rei­se nach Afri­ka ent­kam. Schweit­zer war also auch per­sön­lich von den durch zwei Welt­krie­ge und eine kom­pli­zier­te Inte­rims­zeit aus­ge­lö­sten Ver­wer­fun­gen in der ersten Hälf­te des 20. Jahr­hun­dert betroffen.

Sei­ne Stim­me in den poli­ti­schen Aus­ein­an­der­set­zun­gen gewann ange­sichts des ato­ma­ren Wett­rü­stens an Schär­fe und Gewicht. Hat­te er 1954 bereits in sei­ner Dan­kes­re­de für die Ver­lei­hung des Frie­dens­no­bel­prei­ses vor den Gefah­ren eines nuklea­ren Infer­nos gewarnt, so ver­tief­te er in sei­nem »Appell an die Mensch­heit«, der im April 1957 über Radio Oslo gesen­det wur­de und welt­wei­te Auf­merk­sam­keit erfuhr, sei­nen Weck­ruf an die Zivi­li­sa­ti­on. Schweit­zer war der Ansicht, dass die Not, in der wir heu­te leben, die Gefähr­dung des Frie­dens sei. Die Mensch­heit hät­te nur die Wahl zwi­schen zwei Risi­ken. Der Fort­set­zung des unsin­ni­gen Wett­rü­stens in Atom­waf­fen samt der damit gege­be­nen Gefahr eines Atom­krie­ges, ande­rer­seits dem Ver­zicht auf Atom­waf­fen in der Hoff­nung, dass Ame­ri­ka, die Sowjet­uni­on und die mit ihnen in Ver­bin­dung ste­hen­den Völ­ker es fer­tig­brin­gen wür­den, in Ver­träg­lich­keit und Frie­den neben­ein­an­der zu leben. Das erste böte kei­ne Mög­lich­keit einer gedeih­li­chen Zukunft. Das zwei­te sehr wohl. Das Ziel, auf das von jetzt bis in alle Zukunft der Blick gerich­tet blei­ben müs­se, sei, dass völ­ker­ent­zwei­en­de Fra­gen nicht mehr durch Krie­ge ent­schie­den wer­den kön­nen. Die Ent­schei­dung müs­se fried­lich gefun­den wer­den. Für sei­ne Stel­lung­nah­men gegen die ato­ma­re Bedro­hung hat­te sich Schweit­zer bei Albert Ein­stein und Otto Hahn, auch bei Wer­ner Hei­sen­berg und Fré­dé­ric Joli­ot-Curie fach­li­che Exper­ti­se ein­ge­holt. 1958 unter­zeich­ne­te er eine von Linus Pau­ling ange­reg­te Peti­ti­on nam­haf­ter Wis­sen­schaft­ler gegen Kern­waf­fen­tests. Über­haupt setz­te Schweit­zer beim Rin­gen um nuklea­re Abrü­stung mit beson­de­rem Nach­druck auf die Über­zeu­gungs­kraft wis­sen­schaft­li­cher Kom­pe­tenz. In einem Brief an den Dai­ly Herald, der im April 1954 erschien, schrieb er: »Die Wis­sen­schaft­ler selbst, die (…) alle Gefah­ren gründ­lich ken­nen, müs­sen der Mensch­heit die Wahr­heit sagen in Wort und Schrift. (…) Nur sie besit­zen die Auto­ri­tät zu erklä­ren, dass wir nicht län­ger die Ver­ant­wor­tung für die­se Expe­ri­men­te tra­gen können.«

Und da ist sie wie­der, die vor dem senf­far­be­nen Haus in Kay­sers­berg gestell­te Fra­ge, ob sich die Mensch­heit zum 150. Geburts­ju­bi­lä­um an das rei­che Erbe Albert Schweit­zers erin­ner­te. In die all­ge­mei­ne Ton­lo­sig­keit mün­de­te das öffent­li­che Schwei­gen derer, denen der gro­ße Elsäs­ser Huma­nist eine beson­de­re auf­klä­re­ri­sche Ver­ant­wor­tung zumaß. Jubi­lä­um pas­sé. Aber jeder Tag, der kommt, hat Raum für eine Besinnung.

Albert Schweit­zer beim Vor­über­ge­hen, und das Herz vol­ler Weh­mut und Hoffnung.