Bei Sprachmoden, die man verwundert betrachtet und für vergängliche Erscheinungen hält, bleibt es meist ungewiss, ob sie nicht eines fernen Tages doch zur Standardsprache werden. Der Sprachpfleger Gustav Wustmann bemängelte vor 130 Jahren in seiner »Grammatik des Zweifelhaften, des Falschen und des Häßlichen« die Tendenz, bestimmte Umstandswörter – südlich, links, unweit usw. – als Präposition zu benutzen. Das sei grundfalsch. Heute aber ist es durchaus statthaft, zu sagen: südlich der Donau, unweit der Klinik, nahe der Schule. Er verdammte auch die Mode, Umstandswörter adjektivisch zu gebrauchen, zum Beispiel: die ausnahmsweise Erlaubnis, die fallweise / vergleichsweise Erledigung, die teilweise Erneuerung. Doch siehe da, während die ersten zwei auch für uns falsch klingen, ist das letztere heute erlaubt. Man kann dies Adverb schon in den dritten Fall beugen: Einer teilweisen Erneuerung stimme ich zu.
Wustmann missbilligte nahezu (statt fast/beinahe) sowie das Mix-Wort offensichtlich, das damals auftauchte, als eine dumme Mischung aus offenbar und sichtlich. Bei Journalisten werde eine Frage nicht mehr berührt oder angeregt, monierte er, sondern sie wird angeschnitten wie eine Blutwurst oder aufgerollt wie ein Teppich. Das unschöne Bürokratenwort einschätzen, von dem Wustmann zu Recht wusste, »eingeschätzt wird man bei der Steuer, sonst nirgends«, wirkt immer noch hässlich. Man sage lieber (be)urteilen.
Wie wird es mit dem Verb teilen ausgehen? Neulich teilte mir mein Display mit: »Sie können Ihren Standort teilen.« In einem Leserbrief lese ich: »Kürzlich habe ich ein Bild geteilt.« Bisher kannte ich bzw. konnte ich nur einen Apfel teilen oder eine Ansicht teilen. Jetzt soll das Verb wohl bedeuten, dass man (etwas) mitteilt; anders gesagt im Netz verbreitet. Es bleibt abzuwarten, erst in einigen Jahrzehnten wird man sehen, ob die Neuerung in Vergessenheit versinkt, wie knorke und dufte, oder ob sie beständig bleibt, wie prima und super.
Besitzen und haben sind nicht beliebig austauschbar. Haben ist ganz oft Hilfszeitwort, ursprünglich meint es »in der Hand halten«. Besitzen dagegen ist ein juristisches Innehaben wie beim Grundeigentümer, der seinen Boden »besitzt«. Eltern haben Kinder, aber besitzen sie nicht. Man besitzt keinen Onkel, sondern hat ihn. Falsch ist ebenso: der Dom besitzt mehrere Türmchen, oder: Borsig besaß ein Ohr für die Nöte der Arbeiter. Die Neigung, besitzen zu schreiben, wo haben gemeint ist, kann man allerdings schon bei unseren Klassikern beobachten. Goethe im Faust: »Denn was man schwarz auf weiß besitzt, kann man getrost nach Hause tragen.«
Der Papiermensch liebt die Anführungsstriche, und wenn er einen Buch-, Film- oder Songtitel zwischen die Gänsefüßchen gebannt hat, ist das Ganze für ihn versteinert und unbeugbar: die Redaktion des »Wiener Fremdenblatt«, wir hörten die Ouvertüre zu »Die Fledermaus«, ein Abend in »Tipi, das Zelt«, ein Konto bei der »Deutsche Kreditbank« usw. Das geht natürlich nur geschrieben oder zitierend vorgelesen. Denn im Gespräch sagt jeder richtig und flüssig: ein Konto bei der Deutschen Kreditbank, wir waren im Tipi, dem Zelt, die Ouvertüre zur »Fledermaus«.
»Ich dachte, das sagt man jetzt so«, gestand mir ein Autor, der auf einmal, von des Gedankens Blässe nicht angehaucht, nur noch sexualisiert für sexuell benutzt. Nach kurzem Nachdenken gestand er zu, dass ein politischer Mensch doch etwas anderes sei als ein politisierter Mensch, dass ideelle Gewalt wohl zu unterscheiden wäre von idealisierter Gewalt. Und eine aromatische Speise muss nicht aromatisiert sein. Ergo: Die sexualisierte Gewalt ist eine bittere Tatsache in einem unmöglichen, aufgeplusterten Sprachkleid. Der Gipfelpunkt der Manieriertheit, kürzlich zu lesen: »sexualisierte Gewalt gegen rassifizierte Frauen«. Hoffentlich eine vergängliche Modetorheit.
Der Mensch, Liebling, Geizkragen, Zwilling, Star – alles nur Männer? Man erkennt unschwer, dass das grammatisch Maskuline nicht an das Bio-Geschlecht gebunden ist. Ebenso wie viele feminine Vokabeln vielgeschlechtlich leuchten: die Waise, Koryphäe, Geisel, Memme, Führungskraft. In unserer Sprache herrscht Willkür bei der Vergabe des Genus, des grammatischen Geschlechts. Zugegeben, mit den Standes- und Berufsbezeichnungen ist es eine eigene Sache. Denn der Pastor, der Baron, der Friseur, der Freiherr zeigen das Verlangen nach einer weiblichen Form als Pendant; darum Pastorin, Baroness, Friseuse, Freifrau. Darum werden auch neue Rangbezeichnungen kreiert (Bischöfin, Generalin, Offizierin, vielleicht in Zukunft: Päpstin). Ausnahmen widerlegen aber nicht die Grundregel, die da lautet, dass Genus nicht gleich Sexus ist. Dieses an die Adresse aller selbsternannten Linguisten der Geschlechter-Gerechtigkeit: Ob ihr wollt oder nicht, das grammatische »Geschlecht« hat eine Funktion jenseits eures binären oder multiplen Mann-Frau-Divers-Denkschemas.
Denken wir denn an Personen biologischer Zuordnung, wenn wir Wahlhelfer lesen? Kaum. Wochenlang wurden aber öffentlich »Wahlhelfende« gesucht (die neue Partizip-Mode). Dies schräg konstruierte Wort – der Helfende hilft eigentlich dem Wahlleiter, nicht »der Wahl« – kam aus der Küche von Turmwächtern, die in einer Art Dauerwutmodus stets neue Anzeichen von Diskriminierung suchen. Es gab Zeiten, da wurde die Straßenverkehrsordnung in schlichtem Deutsch gehalten, ohne dass es Missverständnisse gab. Der Paragraph 26 lautete ein halbes Jahrhundert oder länger: An Fußgängerüberwegen haben Fahrzeuge den Fußgängern (…) das Überqueren der Fahrbahn zu ermöglichen. Eines Tages jedoch fühlten sich Juristen im Verkehrsministerium einem törichten Reformgeist verpflichtet und formulierten neu: »An Fußgängerüberwegen (sic! bleibt unverändert) haben Fahrzeuge den zu Fuß Gehenden sowie den Fahrenden von Krankenfahrstühlen das Überqueren der Fahrbahn zu ermöglichen.« Ja geht’s noch? Weil wir ernsthaft bleiben, wollen wir nicht satirisch fragen, warum nicht auch Zufußgehende-Überwege dasteht, wenn doch der Fußgänger eine Zumutung darstellt. Was ist mit dem ganzen Aufwand an Sprachplanung letztlich gewonnen? Logik, Geschmack und Genauigkeit bleiben auf der Strecke, wenn eine Modetorheit um sich greift. Studierende anstatt Studenten? Max Goldt, der Sprachästhet, zeigt die Torheit am Beispielsatz: »Im Fernsehen sah man die sterbenden Studierenden.« Die natürliche Sprache drückt mit dem ersten Partizip (Gerundium) einen aktiven Vollzug, eine Situation aus. Darum ist ein Forscher kein Forschender, wenn er Urlaub macht. Das genderöse Partizip-Getue ist ein Holzweg; die Leser dieses Ossietzky-Heftes sind nicht durchweg Lesende (zumindest nicht als Schlafende während der Nachtruhe).
Der Philosoph Michael Andrick erklärt in seinem neuesten Buch, warum Cancel Culture und Gendersprache nicht zu mehr Sensibilität führen. Er zieht ein radikales Fazit: »Das Gendern muss mit allen anderen ideologischen Sprachmanipulationen sozial geächtet und in öffentlichen Institutionen dienstvorschriftlich verboten werden. Es schadet dem Gemeinwohl, indem es die Grundlage offener Diskussionen untergräbt: (nämlich) die gemeinsam und sicher beherrschte Sprache.«
Zum Schluss etwas Sprachkomik mit Heinz Erhardt. Das Erfolgsrezept lautet: mixe zwei Nuancen eines Verbs in denselben Satz. Zum Beispiel indem du haben gleichzeitig als Hilfsverb und Vollverb bemühst, »ich habe dich immer geliebt und außerdem zehn Bücher«. Oder »zuerst fiel ich vom Stuhl und dann aus allen Wolken«. Erhardts berühmteste Begrüßung ans Publikum lautete: »Ich heiße Heinz und Sie herzlich willkommen!«