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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Am Beispiel Österreichs

Bekannt­lich war Öster­reich als Öster­rei­chisch-Unga­ri­sche Mon­ar­chie der Habs­bur­ger bis zum Ersten Welt­krieg eine euro­päi­sche Groß­macht. Und wie man weiß, blie­ben davon nach Kriegs­en­de 1918 vie­le Ein­zel­tei­le übrig: Die Tsche­cho­slo­wa­kei, Ungarn, Kroa­ten und Slo­we­nen im SHS-Staat der Ser­ben, Kroa­ten und Slo­we­nen, die Buko­wi­na und Gali­zi­en (die zwi­schen Rumä­ni­en, Polen und der Sowjet­uni­on auf­ge­teilt wur­den) und die Repu­blik Deutsch-Öster­reich. Übri­gens, was gern ver­ges­sen wird, nicht nur als Zer­falls­pro­duk­te, son­dern auch als Ergeb­nis revo­lu­tio­nä­rer Bestre­bun­gen, die im Fal­le Deutsch-Öster­reichs sozia­li­stisch aus­fie­len, aber letzt­lich auf hal­bem Wege stecken­blie­ben. Natio­nal blie­ben für das soge­nann­te rest­li­che Öster­reich zwei Haupt­pro­ble­me bestehen, wobei ich von durch inter­na­tio­nal über­wach­te Abstim­mun­gen in Süd­kärn­ten (Slo­we­ni­en) und Bur­gen­land (Ungarn) abse­he, in denen ter­ri­to­ria­le Ent­schei­dun­gen über Rand­ge­bie­te getrof­fen wur­den: An Ita­li­en fiel nicht nur das slo­we­nisch domi­nier­te Tri­est, son­dern auch Fri­aul und – für Öster­reich noch für Jahr­zehn­te umstrit­ten – Süd­ti­rol. Dazu später.

Die Sie­ger­mäch­te des Ersten Welt­kriegs mach­ten außer impe­ria­len Über­le­gun­gen Sicher­heits­in­ter­es­sen gel­tend. Die­se bestan­den ins­be­son­de­re dar­in, Deutsch­land ein­zu­he­gen. Für Öster­reich bedeu­te­te dies im Frie­dens­ver­trag von Saint Ger­main 1919 ein Ver­bot des Anschlus­ses an Deutsch­land. Nicht nur das, Öster­reich wur­de auch der Name »Repu­blik Deutsch-Öster­reich« unter­sagt, wes­we­gen die Bezeich­nung »Repu­blik Öster­reich« ver­blieb. Die­se Ent­schei­dun­gen waren inso­fern schwer­wie­gend, weil damals die gro­ße Mehr­heit der Bevöl­ke­rung den Anschluss an Deutsch­land befür­wor­te­te. Mehr noch, vie­le erach­te­ten das klei­ne Land als nicht »lebens­fä­hig«, wofür zunächst sprach, dass vie­le agra­ri­sche und indu­stri­el­le Gebie­te der ursprüng­li­chen Mon­ar­chie nun außer­halb des Ter­ri­to­ri­ums der jun­gen Repu­blik lagen. Die Pro­pa­gan­da der »Lebens­un­fä­hig­keit« des Lan­des wie der »Ver­hin­de­rung« des angeb­li­chen natio­na­len »Selbst­be­stim­mungs­rechts« zugun­sten des Anschlus­ses an Deutsch­land hielt sich bis nach dem Zwei­ten Weltkrieg.

War­um sind die­se Umstän­de heu­te beden­kens­wert? Seit etwa drei Jahr­zehn­ten wur­de ganz Euro­pa von einer Pro­pa­gan­da über­schwemmt, es sei der Bevöl­ke­rung jedes Lan­des über­las­sen, ob sie sich die­sem oder jenem Bünd­nis oder Staat mili­tä­risch oder wirt­schaft­lich anschlie­ßen wol­le, schließ­lich gehe »Frei­heit« über alles. Und »Sicher­heits­in­ter­es­sen« sei­en ein feind­se­li­ger Vor­wand – im heu­ti­gen Fall Russ­lands – gegen die­se Frei­heit. Dabei wird – um es vor­sich­tig zu sagen – negiert, dass das Zusam­men­le­ben unter­schied­lich­ster Staa­ten und Staats­ge­bil­de eine fra­gi­le Ange­le­gen­heit ist, die ohne Kom­pro­mis­se unmög­lich ist. Wer hier bis ins Letz­te »Gerech­tig­keit« und »Frei­heit« auf sei­ne Fah­nen schreibt, will letzt­lich den ewi­gen Krieg. Das bedeu­tet nicht, alles – bei­spiels­wei­se an den Ver­trä­gen von Ver­sailles und St. Ger­main – gut zu fin­den, aber, wie wir auch nach dem Zwei­ten Welt­krieg sehen wer­den, mit Gerech­tig­keit haben Frie­dens­ver­ein­ba­run­gen oft nicht all­zu viel zu tun – und sind auf Sei­ten von Groß­mäch­ten auch meist ver­bun­den mit impe­ria­len Interessen.

Das soll aber nicht dar­an hin­dern, trotz Unge­rech­tig­kei­ten Ver­hand­lun­gen und Frie­den der Krie­ge­rei vor­zu­zie­hen – im Unter­schied zu den Het­zern und Krie­gern: Im Fal­le Süd­kärn­tens bei­spiels­wei­se hetz­ten die­se Deutsch­na­tio­na­len, obwohl die Abstim­mung 1920 – auch mit Stim­men vie­ler Slo­we­nen – gegen das König­reich Jugo­sla­wi­en und für die Repu­blik Öster­reich ende­te, noch bis in die­ses Jahr­hun­dert gegen die angeb­li­chen »Ansprü­che« Jugo­sla­wi­ens oder Slo­we­ni­ens auf öster­rei­chi­sches Staats­ge­biet. Und noch heu­te betreibt die neu­lich kon­sti­tu­ier­te Lan­des­re­gie­rung der Stei­er­mark unter FPÖ-Füh­rung die Erhe­bung der Lan­des­hym­ne in den Ver­fas­sungs­rang, um durch die­se aus dem 19. Jahr­hun­dert stam­men­de hym­ni­sche Glo­ri­fi­zie­rung der Stei­er­mark indi­rekt auch Ansprü­che auf die ehe­mals teil­wei­se deutsch­spra­chi­ge, heu­te slo­we­ni­sche Unter­stei­er­mark (Šta­jer­s­ka) gel­tend zu machen – ein zwar rea­li­täts­frem­des, aber umso typi­sche­res Ablen­kungs­ma­nö­ver von den wesent­li­chen sozia­len Fra­gen des Landes.

Nach dem Zwei­ten Welt­krieg bestan­den vor allem Frank­reich, Groß­bri­tan­ni­en und die Sowjet­uni­on dar­auf, dass ihre Sicher­heits­in­ter­es­sen gewahrt wer­den und Öster­reich nicht an Deutsch­land ange­schlos­sen wird. Das war für die Bevöl­ke­rung des Lan­des nun ein klei­ne­res Pro­blem als drei Jahr­zehn­te davor, auch da der Krieg des nazi­sti­schen Groß­deutsch­land die Zunei­gung der Öster­rei­cher zu einem Deut­schen Reich nicht gera­de ver­stärkt hat­te; aber ohne den aus­drück­li­chen Druck die­ser Mäch­te wäre die The­ma­tik nicht so schnell ver­schwun­den, zumal die ehe­ma­li­gen Nazis und Deutsch­na­tio­na­len sie noch lan­ge am Köcheln hiel­ten – und haupt­säch­lich die KPÖ die Unab­hän­gig­keit des Lan­des in ihrem anti­na­zi­sti­schen Wider­stands­kampf auf ihre Fah­nen geschrie­ben hat­te. Vor allem die Sowjet­uni­on dräng­te auf den neu­tra­len Sta­tus des Lan­des, was nicht nur die öster­rei­chi­schen Nazis ablehn­ten, die von »Euro­pa« fasel­ten und Deutsch­land mein­ten, son­dern auch vie­le Apo­lo­ge­ten des »Lan­des der unbe­grenz­ten Mög­lich­kei­ten«. Mit dem Staats­ver­trag 1955 wur­de ein gün­sti­ges Zeit­fen­ster genutzt und Öster­reich im Unter­schied zu Deutsch­land frei von Besat­zungs­mäch­ten, dafür neutral.

Das grö­ße­re Pro­blem bestand nun in der Abtren­nung Süd­ti­rols. Der weit­aus über­wie­gen­de Teil des deutsch­spra­chi­gen süd­li­chen Lan­des­teils Tirols woll­te den Anschluss an Öster­reich. Es fan­den jah­re­lang Demon­stra­tio­nen von Süd­ti­ro­lern mit jeweils meh­re­ren zehn­tau­send Teil­neh­mern statt, und die Stim­mung war auf bei­den Sei­ten auf­ge­heizt, auf ita­lie­ni­scher Sei­te vor allem durch die Faschi­sten; nicht nur das, ein erheb­li­cher Teil der Tiro­ler Bevöl­ke­rung unter­stütz­te jene Radi­ka­len, die ter­ro­ri­stisch den ita­lie­ni­schen Staat in die Knie zwin­gen woll­ten. Die Ter­ror­an­schlä­ge wur­den auch aus Nord­ti­rol unter­stützt und zogen sich bis zu Beginn der Sech­zi­ger­jah­re hin. Unter den Akteu­ren befan­den sich auch Nazis, einer von ihnen kan­di­dier­te Jah­re spä­ter noch für das Amt des öster­rei­chi­schen Bun­des­prä­si­den­ten. Heu­te gibt es zwar noch immer eini­ge Süd­ti­ro­ler und Süd­ti­ro­le­rin­nen, die unzu­frie­den damit sind, ein Teil Ita­li­ens sein zu müs­sen, aber es herrscht Frie­de – von bei­den Seiten.

Was führ­te zu einer fried­li­chen Lösung? – Weder die Nato noch das Nato-Land-Ita­li­en hat­ten Inter­es­se dar­an. Und das aus den Zwan­zi­ger­jah­ren stam­men­de Sie­ges­denk­mal des faschi­sti­schen Ita­li­ens in Bozen pro­kla­miert in der Inschrift, dass »wir von hier aus« die ande­re, nörd­li­che Bar­ba­ren genannt, »durch Spra­che, Geset­ze und Kün­ste gebil­det«. Da war eine Lösung schwie­rig. Ein wesent­li­cher Schritt dazu erfolg­te durch eine gründ­lich vor­be­rei­te­te Initia­ti­ve des dama­li­gen öster­rei­chi­schen Außen­mi­ni­sters und spä­te­ren lang­jäh­ri­gen sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Bun­des­kanz­lers Bru­no Krei­sky, womit er sich die Ach­tung auch vie­ler kon­ser­va­ti­ver Tiro­ler erwarb: Der Fall wur­de im Jahr 1960 von der Bun­des­re­gie­rung gemein­sam mit süd- und nord­ti­ro­ler Ver­tre­tern vor die Voll­ver­samm­lung der UNO gebracht, um dort eine Umset­zung der Auto­no­mie für Süd­ti­rol ein­zu­for­dern, die zuvor in einem fol­gen­lo­sen Abkom­men aus dem Jahr 1946 zwi­schen den kon­ser­va­ti­ven Par­tei­en (ÖVP/​Democristiani) ver­ein­bart wor­den war. Mit­hil­fe von gera­de unab­hän­gig gewor­de­nen block­frei­en Staa­ten wur­de gegen das Nato-Land Ita­li­en eine Reso­lu­ti­on durch­ge­setzt, wor­in Öster­reich und Ita­li­en auf­ge­for­dert wur­den, eine Auto­no­mie­lö­sung zu fin­den. Somit war der Staat Öster­reich inter­na­tio­nal recht­lich als Betei­lig­ter offi­zi­ell invol­viert. Letzt­lich dau­er­te es noch drei Jahr­zehn­te, bis alle offe­nen Fra­gen auch im Sin­ne des öster­rei­chi­schen Stand­punk­tes, geklärt waren, sodass Öster­reich und Ita­li­en am 11. Juni 1992 gegen­über der UNO ihren Streit als offi­zi­ell bei­gelegt erklär­ten. Heu­te leben Deutsch­spra­chi­ge und Ita­lie­nisch­spra­chi­ge in Süd­ti­rol fried­lich zusam­men, die deut­sche Spra­che, unter dem ita­lie­ni­schen Faschis­mus ver­bo­ten und dann benach­tei­ligt, ist als gleich­wer­tig aner­kannt, und die kul­tu­rel­le, Schul- und son­sti­ge Auto­no­mie geht bis­wei­len so weit, dass Ita­lie­nisch­spra­chi­ge die Deutsch­spra­chi­gen manch­mal als pri­vi­le­giert betrachten.

Frag­los war es sei­ner Bevöl­ke­rung unver­ständ­lich, dass es Öster­reich 1919 ver­wehrt wur­de, sich Deutsch­land anzu­schlie­ßen; und frag­los war es für vie­le Tiro­ler und Tiro­le­rin­nen schmerz­haft, dass Ita­li­en sich 1918 Süd­ti­rol »unter den Nagel riss« und dar­an auch nach 1945 fest­hielt. Aber eine funk­tio­nie­ren­de Sicher­heits­ar­chi­tek­tur, die einen sta­bi­len Frie­den zwi­schen den unter­schied­lich­sten Staa­ten gewähr­lei­sten soll, kann nicht jede unge­rech­te »Klei­nig­keit« berück­sich­ti­gen, son­dern muss mit Kom­pro­mis­sen leben. Dar­an den­ken heu­te in Euro­pa nur weni­ge Ver­ant­wort­li­che und las­sen so vie­len Unver­ant­wort­li­chen freie Hand. Der Pra­ger deutsch­spra­chi­ge kom­mu­ni­sti­sche Schrift­stel­ler Franz Carl Weis­kopf, obzwar in der Tsche­cho­slo­wa­kei nach 1945 aner­kannt und als Diplo­mat sei­nes Lan­des noch meh­re­re Jah­re tätig, sprach sei­ne per­sön­li­che Situa­ti­on an, als er am 8. Sep­tem­ber 1945 noch von den USA aus an sei­nen Freund Bodo Uhse im Hin­blick auf die Aus­sied­lung und Ver­trei­bung der Deutsch­spra­chi­gen aus der Tsche­cho­slo­wa­kei schrieb: »Ist doch die Situa­ti­on eines deut­schen anti­hit­le­ri­schen Schrift­stel­lers aus der Tsche­cho­slo­wa­kei tra­gi­gro­tesk. Gera­de wenn sei­ne Hei­mat von der Naziok­ku­pa­ti­on befreit ist und ein neu­es Leben beginnt (…), ver­liert er sie. (…) Ja, mein lie­ber Bodo, so ein deut­scher Schrift­stel­ler aus der Tsche­cho­slo­wa­kei hat aller­hand Schmer­zen in die­sen Tagen, und er muss sich noch dazu sagen, dass er, so bit­ter es ihn ankom­men mag, immer noch zufrie­den sein muss: denn wenn die per­sön­li­che Tra­gö­die von ein paar tau­send oder zehn­tau­send Men­schen Teil des Prei­ses ist, der gezahlt wer­den soll, damit in den böh­mi­schen Län­dern und über­haupt im Donau­becken end­lich ein­mal Sicher­heit und Frie­de wird, (…) dann ist nichts zu teu­er sub spe­cie aeter­ni­ta­tis, oder zumin­dest ›histo­risch gese­hen‹. Nur wird einem davon nicht leichter.«

Übri­gens – kei­ne Ana­lo­gie, nur ein Hin­weis: Das Habs­bur­ger k. & k.-Reich umfass­te im Jahr 1914 eine Grö­ße von 676.615 km² mit 52,8 Mio. Ein­woh­nern, die Ukrai­ne im Jahr 1990 eine Flä­che von 603.628 km² mit 52,05 Mio. Einwohnern.