Bekanntlich war Österreich als Österreichisch-Ungarische Monarchie der Habsburger bis zum Ersten Weltkrieg eine europäische Großmacht. Und wie man weiß, blieben davon nach Kriegsende 1918 viele Einzelteile übrig: Die Tschechoslowakei, Ungarn, Kroaten und Slowenen im SHS-Staat der Serben, Kroaten und Slowenen, die Bukowina und Galizien (die zwischen Rumänien, Polen und der Sowjetunion aufgeteilt wurden) und die Republik Deutsch-Österreich. Übrigens, was gern vergessen wird, nicht nur als Zerfallsprodukte, sondern auch als Ergebnis revolutionärer Bestrebungen, die im Falle Deutsch-Österreichs sozialistisch ausfielen, aber letztlich auf halbem Wege steckenblieben. National blieben für das sogenannte restliche Österreich zwei Hauptprobleme bestehen, wobei ich von durch international überwachte Abstimmungen in Südkärnten (Slowenien) und Burgenland (Ungarn) absehe, in denen territoriale Entscheidungen über Randgebiete getroffen wurden: An Italien fiel nicht nur das slowenisch dominierte Triest, sondern auch Friaul und – für Österreich noch für Jahrzehnte umstritten – Südtirol. Dazu später.
Die Siegermächte des Ersten Weltkriegs machten außer imperialen Überlegungen Sicherheitsinteressen geltend. Diese bestanden insbesondere darin, Deutschland einzuhegen. Für Österreich bedeutete dies im Friedensvertrag von Saint Germain 1919 ein Verbot des Anschlusses an Deutschland. Nicht nur das, Österreich wurde auch der Name »Republik Deutsch-Österreich« untersagt, weswegen die Bezeichnung »Republik Österreich« verblieb. Diese Entscheidungen waren insofern schwerwiegend, weil damals die große Mehrheit der Bevölkerung den Anschluss an Deutschland befürwortete. Mehr noch, viele erachteten das kleine Land als nicht »lebensfähig«, wofür zunächst sprach, dass viele agrarische und industrielle Gebiete der ursprünglichen Monarchie nun außerhalb des Territoriums der jungen Republik lagen. Die Propaganda der »Lebensunfähigkeit« des Landes wie der »Verhinderung« des angeblichen nationalen »Selbstbestimmungsrechts« zugunsten des Anschlusses an Deutschland hielt sich bis nach dem Zweiten Weltkrieg.
Warum sind diese Umstände heute bedenkenswert? Seit etwa drei Jahrzehnten wurde ganz Europa von einer Propaganda überschwemmt, es sei der Bevölkerung jedes Landes überlassen, ob sie sich diesem oder jenem Bündnis oder Staat militärisch oder wirtschaftlich anschließen wolle, schließlich gehe »Freiheit« über alles. Und »Sicherheitsinteressen« seien ein feindseliger Vorwand – im heutigen Fall Russlands – gegen diese Freiheit. Dabei wird – um es vorsichtig zu sagen – negiert, dass das Zusammenleben unterschiedlichster Staaten und Staatsgebilde eine fragile Angelegenheit ist, die ohne Kompromisse unmöglich ist. Wer hier bis ins Letzte »Gerechtigkeit« und »Freiheit« auf seine Fahnen schreibt, will letztlich den ewigen Krieg. Das bedeutet nicht, alles – beispielsweise an den Verträgen von Versailles und St. Germain – gut zu finden, aber, wie wir auch nach dem Zweiten Weltkrieg sehen werden, mit Gerechtigkeit haben Friedensvereinbarungen oft nicht allzu viel zu tun – und sind auf Seiten von Großmächten auch meist verbunden mit imperialen Interessen.
Das soll aber nicht daran hindern, trotz Ungerechtigkeiten Verhandlungen und Frieden der Kriegerei vorzuziehen – im Unterschied zu den Hetzern und Kriegern: Im Falle Südkärntens beispielsweise hetzten diese Deutschnationalen, obwohl die Abstimmung 1920 – auch mit Stimmen vieler Slowenen – gegen das Königreich Jugoslawien und für die Republik Österreich endete, noch bis in dieses Jahrhundert gegen die angeblichen »Ansprüche« Jugoslawiens oder Sloweniens auf österreichisches Staatsgebiet. Und noch heute betreibt die neulich konstituierte Landesregierung der Steiermark unter FPÖ-Führung die Erhebung der Landeshymne in den Verfassungsrang, um durch diese aus dem 19. Jahrhundert stammende hymnische Glorifizierung der Steiermark indirekt auch Ansprüche auf die ehemals teilweise deutschsprachige, heute slowenische Untersteiermark (Štajerska) geltend zu machen – ein zwar realitätsfremdes, aber umso typischeres Ablenkungsmanöver von den wesentlichen sozialen Fragen des Landes.
Nach dem Zweiten Weltkrieg bestanden vor allem Frankreich, Großbritannien und die Sowjetunion darauf, dass ihre Sicherheitsinteressen gewahrt werden und Österreich nicht an Deutschland angeschlossen wird. Das war für die Bevölkerung des Landes nun ein kleineres Problem als drei Jahrzehnte davor, auch da der Krieg des nazistischen Großdeutschland die Zuneigung der Österreicher zu einem Deutschen Reich nicht gerade verstärkt hatte; aber ohne den ausdrücklichen Druck dieser Mächte wäre die Thematik nicht so schnell verschwunden, zumal die ehemaligen Nazis und Deutschnationalen sie noch lange am Köcheln hielten – und hauptsächlich die KPÖ die Unabhängigkeit des Landes in ihrem antinazistischen Widerstandskampf auf ihre Fahnen geschrieben hatte. Vor allem die Sowjetunion drängte auf den neutralen Status des Landes, was nicht nur die österreichischen Nazis ablehnten, die von »Europa« faselten und Deutschland meinten, sondern auch viele Apologeten des »Landes der unbegrenzten Möglichkeiten«. Mit dem Staatsvertrag 1955 wurde ein günstiges Zeitfenster genutzt und Österreich im Unterschied zu Deutschland frei von Besatzungsmächten, dafür neutral.
Das größere Problem bestand nun in der Abtrennung Südtirols. Der weitaus überwiegende Teil des deutschsprachigen südlichen Landesteils Tirols wollte den Anschluss an Österreich. Es fanden jahrelang Demonstrationen von Südtirolern mit jeweils mehreren zehntausend Teilnehmern statt, und die Stimmung war auf beiden Seiten aufgeheizt, auf italienischer Seite vor allem durch die Faschisten; nicht nur das, ein erheblicher Teil der Tiroler Bevölkerung unterstützte jene Radikalen, die terroristisch den italienischen Staat in die Knie zwingen wollten. Die Terroranschläge wurden auch aus Nordtirol unterstützt und zogen sich bis zu Beginn der Sechzigerjahre hin. Unter den Akteuren befanden sich auch Nazis, einer von ihnen kandidierte Jahre später noch für das Amt des österreichischen Bundespräsidenten. Heute gibt es zwar noch immer einige Südtiroler und Südtirolerinnen, die unzufrieden damit sind, ein Teil Italiens sein zu müssen, aber es herrscht Friede – von beiden Seiten.
Was führte zu einer friedlichen Lösung? – Weder die Nato noch das Nato-Land-Italien hatten Interesse daran. Und das aus den Zwanzigerjahren stammende Siegesdenkmal des faschistischen Italiens in Bozen proklamiert in der Inschrift, dass »wir von hier aus« die andere, nördliche Barbaren genannt, »durch Sprache, Gesetze und Künste gebildet«. Da war eine Lösung schwierig. Ein wesentlicher Schritt dazu erfolgte durch eine gründlich vorbereitete Initiative des damaligen österreichischen Außenministers und späteren langjährigen sozialdemokratischen Bundeskanzlers Bruno Kreisky, womit er sich die Achtung auch vieler konservativer Tiroler erwarb: Der Fall wurde im Jahr 1960 von der Bundesregierung gemeinsam mit süd- und nordtiroler Vertretern vor die Vollversammlung der UNO gebracht, um dort eine Umsetzung der Autonomie für Südtirol einzufordern, die zuvor in einem folgenlosen Abkommen aus dem Jahr 1946 zwischen den konservativen Parteien (ÖVP/Democristiani) vereinbart worden war. Mithilfe von gerade unabhängig gewordenen blockfreien Staaten wurde gegen das Nato-Land Italien eine Resolution durchgesetzt, worin Österreich und Italien aufgefordert wurden, eine Autonomielösung zu finden. Somit war der Staat Österreich international rechtlich als Beteiligter offiziell involviert. Letztlich dauerte es noch drei Jahrzehnte, bis alle offenen Fragen auch im Sinne des österreichischen Standpunktes, geklärt waren, sodass Österreich und Italien am 11. Juni 1992 gegenüber der UNO ihren Streit als offiziell beigelegt erklärten. Heute leben Deutschsprachige und Italienischsprachige in Südtirol friedlich zusammen, die deutsche Sprache, unter dem italienischen Faschismus verboten und dann benachteiligt, ist als gleichwertig anerkannt, und die kulturelle, Schul- und sonstige Autonomie geht bisweilen so weit, dass Italienischsprachige die Deutschsprachigen manchmal als privilegiert betrachten.
Fraglos war es seiner Bevölkerung unverständlich, dass es Österreich 1919 verwehrt wurde, sich Deutschland anzuschließen; und fraglos war es für viele Tiroler und Tirolerinnen schmerzhaft, dass Italien sich 1918 Südtirol »unter den Nagel riss« und daran auch nach 1945 festhielt. Aber eine funktionierende Sicherheitsarchitektur, die einen stabilen Frieden zwischen den unterschiedlichsten Staaten gewährleisten soll, kann nicht jede ungerechte »Kleinigkeit« berücksichtigen, sondern muss mit Kompromissen leben. Daran denken heute in Europa nur wenige Verantwortliche und lassen so vielen Unverantwortlichen freie Hand. Der Prager deutschsprachige kommunistische Schriftsteller Franz Carl Weiskopf, obzwar in der Tschechoslowakei nach 1945 anerkannt und als Diplomat seines Landes noch mehrere Jahre tätig, sprach seine persönliche Situation an, als er am 8. September 1945 noch von den USA aus an seinen Freund Bodo Uhse im Hinblick auf die Aussiedlung und Vertreibung der Deutschsprachigen aus der Tschechoslowakei schrieb: »Ist doch die Situation eines deutschen antihitlerischen Schriftstellers aus der Tschechoslowakei tragigrotesk. Gerade wenn seine Heimat von der Naziokkupation befreit ist und ein neues Leben beginnt (…), verliert er sie. (…) Ja, mein lieber Bodo, so ein deutscher Schriftsteller aus der Tschechoslowakei hat allerhand Schmerzen in diesen Tagen, und er muss sich noch dazu sagen, dass er, so bitter es ihn ankommen mag, immer noch zufrieden sein muss: denn wenn die persönliche Tragödie von ein paar tausend oder zehntausend Menschen Teil des Preises ist, der gezahlt werden soll, damit in den böhmischen Ländern und überhaupt im Donaubecken endlich einmal Sicherheit und Friede wird, (…) dann ist nichts zu teuer sub specie aeternitatis, oder zumindest ›historisch gesehen‹. Nur wird einem davon nicht leichter.«
Übrigens – keine Analogie, nur ein Hinweis: Das Habsburger k. & k.-Reich umfasste im Jahr 1914 eine Größe von 676.615 km² mit 52,8 Mio. Einwohnern, die Ukraine im Jahr 1990 eine Fläche von 603.628 km² mit 52,05 Mio. Einwohnern.