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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Analyse als Anekdote und Essay

Dass Man­gel an DDR- oder »Ost­bü­chern« herr­sche, das lässt sich nicht gut behaup­ten. Ganz im Gegen­teil: Man läuft durch­aus Gefahr, Wich­ti­ges und Inter­es­san­tes zu über­se­hen. Dar­um hier etwas über zwei Bücher, die sich loh­nen, und zwar für »Insi­der« und für »Alt­bun­des­länd­ler«. Sehr unter­schied­lich in Her­an­ge­hens­wei­se und Gestal­tung, ver­mö­gen sie doch prä­zi­se Befun­de über jenes unter­ge­gan­ge­ne Land zu geben, an dem sich zur­zeit so vie­le Schrei­ben­de abarbeiten.

Dar­um also: »Deck­weiß für alle« von Man­fred Jen­dry­schik und »Osten als Pas­sa­ge« von Tobi­as J. Knoblich.

Dass es etwas zu lachen gab im Land und über das Land DDR, mach­te mit dem nöti­gen und damals als wun­der­bar emp­fun­de­nen Kla­mauk der Film »Son­nen­al­lee« deut­lich. Natür­lich konn­te es bei der Ver­ul­kung der Ost­ber­li­ner DDR, wo man auf die »Pro­vinz« mil­de her­ab­sah, nicht blei­ben, denn Lächer­lich­keit wur­de in jedem Bereich und in jedem Städt­chen und Dörf­chen des Lan­des nicht weni­ger pro­du­ziert. Der durch­re­gle­men­tier­te Kul­tur­be­reich ließ Pos­sen­spie­le und Komik beson­ders üppig gedei­hen. Es ist schön, dass sich der Schrift­stel­ler und Lek­tor Man­fred Jen­dry­schik so vie­le der Wider­sin­nig­kei­ten mer­ken (oder notie­ren?) konn­te, dass sie ein Buch fül­len. Es wird sein letz­tes blei­ben, denn Jen­dry­schik starb im Juni 2025.

Des­sen Titel »Deck­weiß für alle!« ist natür­lich eine der hier ver­sam­mel­ten Anek­do­ten, die aber im Buch den Titel »FÜR EINE BESONDERS BEGEHRTE PIGMENT-VERBINDUNG führt. (Lei­der haben ent­we­der Autor oder Ver­lag sich dafür ent­schie­den, die selt­sa­me Mode der Getrennt­schrei­bung von Kom­po­si­ta mit­zu­ma­chen.) Die Anek­do­te hat eine lan­ge Lite­ra­tur­ge­schich­te, und schon lan­ge nicht mehr ist sie die angeb­lich authen­ti­sche Erzäh­lung mit über­ra­schen­den Poin­ten in der Hand­lung oder in der Spra­che, wie wir sie etwa von Hein­rich von Kleist ken­nen, son­dern ein Mit­tel des Pro­mirum­mels. Jen­dry­schiks Ver­dienst ist es, die Anek­do­ten im alten Sin­ne zu erzäh­len, so dass wirk­lich Schlag­lich­ter fal­len auf Per­so­nen und Umstän­de, dass die Kul­tur­ge­schich­te eines Lan­des ent­steht – natür­lich mit beson­de­rem Augen­merk auf Lite­ra­tur. Jen­dry­schik, viel­leicht weil er sich der »alten« Anek­do­ten­schreib­tech­nik sou­ve­rän bedient, erreicht, was die­se Gat­tung im besten Fall errei­chen kann: Geläch­ter, Kopf­schüt­teln, Schwei­gen, Lachen, das im Hal­se stecken bleibt, Ein­sicht, Remi­nis­zenz, ja, den Gedan­ken, eige­nes Ver­hal­ten zu über­prü­fen. Frei­lich gerät er dabei mit­un­ter auch auf Neben­säch­li­ches; und da er zwangs­läu­fig auch selbst »auf­tre­ten« muss, ist es nicht über­zeu­gend, von ihm als J., der Lek­tor usw. zu lesen. Ein kla­res »Ich«, und zwar durch­gän­gig, hät­te wohl die Über­zeu­gungs­kraft der mit­ge­teil­ten Geschich­ten sehr erhöht, die Gesamt­heit hät­te eine Geschich­te der Ver­rückt­hei­ten eines »Lese­lan­des«, mit­er­lebt von einem Ein­zel­nen, ergeben.

Nun gut, »hät­te« und »könn­te« bei Anek­do­ten, das heißt, sie zu schmä­lern. Dabei geben gera­de Anek­do­ten, und sei­en sie in Tei­len erfun­den oder zurecht­fri­siert, immer Nach­richt vom gei­sti­gen Zustand einer Zeit. So auch die einst (1967 und 1969) im Mit­tel­deut­schen Ver­lag edier­ten Anek­do­ten­bän­de von Eck­art Krumb­holz, wor­in neben Lie­be­die­ne­ri­schem auch mal etwas »Spit­zi­ges« zu lesen stand, und die sich des­halb gro­ßer Beliebt­heit beim Publi­kum erfreu­ten. War­um nun Jen­dry­schik den Autor Krumb­holz als »Anek­do­ten­auf­klau­ber« ver­lä­stert, das erschließt auch die betref­fen­de Anek­do­te, in der es haupt­säch­lich um den Lyri­ker Heinz Czechow­ski geht, nicht. »Auf­klau­ben« bedeu­tet ja, dass man ver­streut Umher­lie­gen­des auf­sam­melt – und nichts ande­res tat Jen­dry­schik auch. Begie­rig kauf­te ich als Stu­dent 1971 sein Buch »Die Fackel und der Bart«, weil ich glaub­te, es gehe um den »Spitz­bart«, also Wal­ter Ulb­richt. Ich fand sehr lesens­wer­te Tex­te und erleb­te eine Über­ra­schung, denn der Titel nimmt Bezug auf Lich­ten­berg und sei­nen Apho­ris­mus, dass es fast unmög­lich sei, die Fackel der Wahr­heit durch ein Gedrän­ge zu tra­gen, ohne jeman­dem den Bart zu sengen.

Die Gefahr des Bart­sen­gens besteht nicht mehr, wenn man Wahr­hei­ten über die DDR mit­teilt. Auf eine sehr fei­ne und bis­her so noch nicht gele­se­ne Wei­se lei­stet dies das Buch »Osten als Pas­sa­ge« von Tobi­as J. Knob­lich (Jahr­gang 1971). Natür­lich erin­nert der Titel an Wal­ter Ben­ja­mins berühm­tes »Pas­sa­gen-Werk«, aber der Unter­ti­tel »Essays aus dem Tran­sit­raum der Geschich­te« ver­rät die Wir­kungs­ab­sicht klar und deut­lich: die Beschrei­bung eines Lan­des und sei­ner Men­schen wäh­rend eines War­te­zu­stan­des. Im Tran­sit­raum sit­zend, von wo aus es in eine (viel­leicht erträum­te?) Zukunft geht, hat man »Bedenk­zeit«: Woher kommt man, wohin geht man? Also doch Pas­sa­ge – ein über­aus tref­fen­der Grund­ge­dan­ke für ein sol­ches Buch. Sei­ne phi­lo­so­phi­sche Ver­an­ke­rung, die damit ver­bun­de­nen auto­bio­gra­fi­schen Geschich­ten sind über­zeu­gend, tref­fend, oft berüh­rend und tra­gisch, aber auch fröh­lich. Des Autors Dik­tum lau­tet: »Die­se DDR kannst du nicht abwickeln, auf­ar­bei­ten, über­win­den, sie ist in dein Leben ein­ge­floch­ten, auf Dau­er. Auf­ar­bei­ten kannst du Taten, Aktio­nen, Insti­tu­tio­nen, nicht aber dein Selbst.« Das trifft es, und es wäre schön gewe­sen, wenn es damit sein Bewen­den gehabt hät­te. Denn wenn man etwas am Buch kri­ti­sie­ren muss, dann sind es die lan­gen Vor­sprü­che (es wer­den Cees Noote­boom und Rad­jo Monk zitiert), die dar­auf­fol­gen­den »Vor­be­mer­kun­gen«, eine »Ein­lei­tung«, am Ende noch eine »Nach­be­mer­kung« (in fünf Absät­zen zum Buche). Das ist zu viel des Guten und des Gut­ge­mein­ten. Denn als das Buch auf der Sei­te 29 rich­tig »los­geht«, da beginnt die atem­be­rau­ben­de Geschich­te des selbst­be­stimm­ten Todes eines jun­gen Rohr­schlos­sers in Zwickau, aus­ge­rech­net an einem Oster­sonn­tag, »die Chri­sten fei­ern die Auf­er­ste­hung ihres Got­tes­soh­nes Jesus Chri­stus«. Und damit ist man mit­ten­drin in den poli­tisch hit­zi­gen Jah­ren der DDR nach dem »Pra­ger Früh­ling«, der Geheim­nis­tue­rei, der Ver­schleie­rung und Ver­dre­hung von Tat­sa­chen. Auto­bio­gra­fie, phi­lo­so­phisch fun­diert – das gemahnt in sei­ner Inten­si­tät dann doch wie­der an Ben­ja­mins »Pas­sa­gen«. Die auto­bio­gra­fi­schen Erzäh­lun­gen sind span­nend in des Wor­tes bester Bedeu­tung, wer im Lan­de DDR auf­ge­wach­sen ist, wird sich dar­in wie­der­fin­den, wird erken­nen und begrei­fen. »Bock­wurst«, »Sim­son«, »Omni­bus Ika­rus«, »Unser klei­ner Trom­pe­ter« – und plötz­lich ist man schon beim »Begrü­ßungs­geld« und dem, was dar­aus folgte.

Das beste Kapi­tel, begei­sternd wegen sei­ner Strin­genz und mil­den Iro­nie, ist: »Der Westen: Eine ost­deut­sche Erfin­dung«. Klar­sich­tig und kla­re Sicht machend, wie man es nur sel­ten zu lesen bekommt. Allein die­ser Text lohnt die Anschaf­fung des Buches. Aber man fin­det noch sehr viel mehr, und es ist bemer­kens­wert, dass sich Tobi­as J. Knob­lich der »Ver­trie­be­nen« annimmt – das Wort war in der DDR ver­pönt, eigent­lich ver­bo­ten. »Im Fal­le der Schle­si­er schimpf­te man auf den Polen, der ihnen die Hei­mat genom­men hat­te, der Pole schimpf­te auf den Rus­sen. Die Deut­schen aber schimpf­ten auf die Schle­si­er und nann­ten sie Polacken.« Ein Satz zum Zitie­ren in aktu­el­len Debat­ten! Dies gilt nicht min­der für des Autors klu­ge und muti­ge Wor­te über die Frei­en Sachsen.

Man liest das Buch also mit Gewinn, und Lob ver­dient die Ele­ganz, mit der aus auto­bio­gra­fi­schen oder All­tags­be­trach­tun­gen ein phi­lo­so­phi­scher Hin­ter­grund geschaf­fen wird. So etwa in dem köst­li­chen Kapi­tel über den Hang der Ost­deut­schen zur »Gara­ge« und zur Gara­gen­ge­mein­schaft, dort fand man sich zusam­men, orga­ni­sier­te neue Bezie­hun­gen, besorg­te sich Bau­ma­te­ri­al oder Urlaubs­plät­ze. Fazit des Autors: »Die Gren­zen der Indi­vi­dua­li­sie­rung wur­den durch die Knapp­heit der Res­sour­cen vor­ge­ge­ben.« Die erkennt man auch auf den oft sehr wirk­sa­men Schwarz-Weiß-Foto­gra­fien von Mathi­as Kubitza, die einen Bogen in die Gegen­wart ziehen.

Bei­de Bücher haben die wun­der­ba­re Eigen­art, dass sie Ana­ly­se bie­ten, Klar­hei­ten schaf­fen, und dies ruhig und tief­grün­dig. Jedes ist fes­selnd auf sei­ne Wei­se, sie las­sen lachen oder schmun­zeln und dabei etwas begrei­fen, das lang vor­bei und doch ganz gegen­wär­tig ist.

 Man­fred Jen­dry­schik: Deck­weiß für alle! Oder: Eine plötz­li­che Lie­be mit Hin­ter­ge­dan­ken. Anek­do­ten und Ver­wand­tes aus ande­rer Zeit, Mit­tel­deut­scher Ver­lag 2025, 252 S., 24 €.

Tobi­as J. Knob­lich: Osten als Pas­sa­ge. Essays, Mit­tel­deut­scher Ver­lag 2025, 379 S., 24 €.