Dass Mangel an DDR- oder »Ostbüchern« herrsche, das lässt sich nicht gut behaupten. Ganz im Gegenteil: Man läuft durchaus Gefahr, Wichtiges und Interessantes zu übersehen. Darum hier etwas über zwei Bücher, die sich lohnen, und zwar für »Insider« und für »Altbundesländler«. Sehr unterschiedlich in Herangehensweise und Gestaltung, vermögen sie doch präzise Befunde über jenes untergegangene Land zu geben, an dem sich zurzeit so viele Schreibende abarbeiten.
Darum also: »Deckweiß für alle« von Manfred Jendryschik und »Osten als Passage« von Tobias J. Knoblich.
Dass es etwas zu lachen gab im Land und über das Land DDR, machte mit dem nötigen und damals als wunderbar empfundenen Klamauk der Film »Sonnenallee« deutlich. Natürlich konnte es bei der Verulkung der Ostberliner DDR, wo man auf die »Provinz« milde herabsah, nicht bleiben, denn Lächerlichkeit wurde in jedem Bereich und in jedem Städtchen und Dörfchen des Landes nicht weniger produziert. Der durchreglementierte Kulturbereich ließ Possenspiele und Komik besonders üppig gedeihen. Es ist schön, dass sich der Schriftsteller und Lektor Manfred Jendryschik so viele der Widersinnigkeiten merken (oder notieren?) konnte, dass sie ein Buch füllen. Es wird sein letztes bleiben, denn Jendryschik starb im Juni 2025.
Dessen Titel »Deckweiß für alle!« ist natürlich eine der hier versammelten Anekdoten, die aber im Buch den Titel »FÜR EINE BESONDERS BEGEHRTE PIGMENT-VERBINDUNG führt. (Leider haben entweder Autor oder Verlag sich dafür entschieden, die seltsame Mode der Getrenntschreibung von Komposita mitzumachen.) Die Anekdote hat eine lange Literaturgeschichte, und schon lange nicht mehr ist sie die angeblich authentische Erzählung mit überraschenden Pointen in der Handlung oder in der Sprache, wie wir sie etwa von Heinrich von Kleist kennen, sondern ein Mittel des Promirummels. Jendryschiks Verdienst ist es, die Anekdoten im alten Sinne zu erzählen, so dass wirklich Schlaglichter fallen auf Personen und Umstände, dass die Kulturgeschichte eines Landes entsteht – natürlich mit besonderem Augenmerk auf Literatur. Jendryschik, vielleicht weil er sich der »alten« Anekdotenschreibtechnik souverän bedient, erreicht, was diese Gattung im besten Fall erreichen kann: Gelächter, Kopfschütteln, Schweigen, Lachen, das im Halse stecken bleibt, Einsicht, Reminiszenz, ja, den Gedanken, eigenes Verhalten zu überprüfen. Freilich gerät er dabei mitunter auch auf Nebensächliches; und da er zwangsläufig auch selbst »auftreten« muss, ist es nicht überzeugend, von ihm als J., der Lektor usw. zu lesen. Ein klares »Ich«, und zwar durchgängig, hätte wohl die Überzeugungskraft der mitgeteilten Geschichten sehr erhöht, die Gesamtheit hätte eine Geschichte der Verrücktheiten eines »Leselandes«, miterlebt von einem Einzelnen, ergeben.
Nun gut, »hätte« und »könnte« bei Anekdoten, das heißt, sie zu schmälern. Dabei geben gerade Anekdoten, und seien sie in Teilen erfunden oder zurechtfrisiert, immer Nachricht vom geistigen Zustand einer Zeit. So auch die einst (1967 und 1969) im Mitteldeutschen Verlag edierten Anekdotenbände von Eckart Krumbholz, worin neben Liebedienerischem auch mal etwas »Spitziges« zu lesen stand, und die sich deshalb großer Beliebtheit beim Publikum erfreuten. Warum nun Jendryschik den Autor Krumbholz als »Anekdotenaufklauber« verlästert, das erschließt auch die betreffende Anekdote, in der es hauptsächlich um den Lyriker Heinz Czechowski geht, nicht. »Aufklauben« bedeutet ja, dass man verstreut Umherliegendes aufsammelt – und nichts anderes tat Jendryschik auch. Begierig kaufte ich als Student 1971 sein Buch »Die Fackel und der Bart«, weil ich glaubte, es gehe um den »Spitzbart«, also Walter Ulbricht. Ich fand sehr lesenswerte Texte und erlebte eine Überraschung, denn der Titel nimmt Bezug auf Lichtenberg und seinen Aphorismus, dass es fast unmöglich sei, die Fackel der Wahrheit durch ein Gedränge zu tragen, ohne jemandem den Bart zu sengen.
Die Gefahr des Bartsengens besteht nicht mehr, wenn man Wahrheiten über die DDR mitteilt. Auf eine sehr feine und bisher so noch nicht gelesene Weise leistet dies das Buch »Osten als Passage« von Tobias J. Knoblich (Jahrgang 1971). Natürlich erinnert der Titel an Walter Benjamins berühmtes »Passagen-Werk«, aber der Untertitel »Essays aus dem Transitraum der Geschichte« verrät die Wirkungsabsicht klar und deutlich: die Beschreibung eines Landes und seiner Menschen während eines Wartezustandes. Im Transitraum sitzend, von wo aus es in eine (vielleicht erträumte?) Zukunft geht, hat man »Bedenkzeit«: Woher kommt man, wohin geht man? Also doch Passage – ein überaus treffender Grundgedanke für ein solches Buch. Seine philosophische Verankerung, die damit verbundenen autobiografischen Geschichten sind überzeugend, treffend, oft berührend und tragisch, aber auch fröhlich. Des Autors Diktum lautet: »Diese DDR kannst du nicht abwickeln, aufarbeiten, überwinden, sie ist in dein Leben eingeflochten, auf Dauer. Aufarbeiten kannst du Taten, Aktionen, Institutionen, nicht aber dein Selbst.« Das trifft es, und es wäre schön gewesen, wenn es damit sein Bewenden gehabt hätte. Denn wenn man etwas am Buch kritisieren muss, dann sind es die langen Vorsprüche (es werden Cees Nooteboom und Radjo Monk zitiert), die darauffolgenden »Vorbemerkungen«, eine »Einleitung«, am Ende noch eine »Nachbemerkung« (in fünf Absätzen zum Buche). Das ist zu viel des Guten und des Gutgemeinten. Denn als das Buch auf der Seite 29 richtig »losgeht«, da beginnt die atemberaubende Geschichte des selbstbestimmten Todes eines jungen Rohrschlossers in Zwickau, ausgerechnet an einem Ostersonntag, »die Christen feiern die Auferstehung ihres Gottessohnes Jesus Christus«. Und damit ist man mittendrin in den politisch hitzigen Jahren der DDR nach dem »Prager Frühling«, der Geheimnistuerei, der Verschleierung und Verdrehung von Tatsachen. Autobiografie, philosophisch fundiert – das gemahnt in seiner Intensität dann doch wieder an Benjamins »Passagen«. Die autobiografischen Erzählungen sind spannend in des Wortes bester Bedeutung, wer im Lande DDR aufgewachsen ist, wird sich darin wiederfinden, wird erkennen und begreifen. »Bockwurst«, »Simson«, »Omnibus Ikarus«, »Unser kleiner Trompeter« – und plötzlich ist man schon beim »Begrüßungsgeld« und dem, was daraus folgte.
Das beste Kapitel, begeisternd wegen seiner Stringenz und milden Ironie, ist: »Der Westen: Eine ostdeutsche Erfindung«. Klarsichtig und klare Sicht machend, wie man es nur selten zu lesen bekommt. Allein dieser Text lohnt die Anschaffung des Buches. Aber man findet noch sehr viel mehr, und es ist bemerkenswert, dass sich Tobias J. Knoblich der »Vertriebenen« annimmt – das Wort war in der DDR verpönt, eigentlich verboten. »Im Falle der Schlesier schimpfte man auf den Polen, der ihnen die Heimat genommen hatte, der Pole schimpfte auf den Russen. Die Deutschen aber schimpften auf die Schlesier und nannten sie Polacken.« Ein Satz zum Zitieren in aktuellen Debatten! Dies gilt nicht minder für des Autors kluge und mutige Worte über die Freien Sachsen.
Man liest das Buch also mit Gewinn, und Lob verdient die Eleganz, mit der aus autobiografischen oder Alltagsbetrachtungen ein philosophischer Hintergrund geschaffen wird. So etwa in dem köstlichen Kapitel über den Hang der Ostdeutschen zur »Garage« und zur Garagengemeinschaft, dort fand man sich zusammen, organisierte neue Beziehungen, besorgte sich Baumaterial oder Urlaubsplätze. Fazit des Autors: »Die Grenzen der Individualisierung wurden durch die Knappheit der Ressourcen vorgegeben.« Die erkennt man auch auf den oft sehr wirksamen Schwarz-Weiß-Fotografien von Mathias Kubitza, die einen Bogen in die Gegenwart ziehen.
Beide Bücher haben die wunderbare Eigenart, dass sie Analyse bieten, Klarheiten schaffen, und dies ruhig und tiefgründig. Jedes ist fesselnd auf seine Weise, sie lassen lachen oder schmunzeln und dabei etwas begreifen, das lang vorbei und doch ganz gegenwärtig ist.
Manfred Jendryschik: Deckweiß für alle! Oder: Eine plötzliche Liebe mit Hintergedanken. Anekdoten und Verwandtes aus anderer Zeit, Mitteldeutscher Verlag 2025, 252 S., 24 €.
Tobias J. Knoblich: Osten als Passage. Essays, Mitteldeutscher Verlag 2025, 379 S., 24 €.