Nach der Wahl ist vor der Wahl. Wenn in der neuen Regierung niemand mit einem Dolch im Gewande herumläuft und hinterlistig einen D-Day plant, so könnte die neue Koalition bis 2029 halten, so sie denn zustande kommt. Bis dahin stehen wir alle vor der Aufgabe, möglichst viele jener Wählerinnen und Wähler für die Demokratie zurückzugewinnen, die am 23. Februar 2025 die AfD in allen fünf Flächenländern im Osten Deutschlands zur stärksten Kraft gemacht haben, ihr den Wahlsieg in 45 von 48 Wahlkreisen ermöglichten und damit die einstigen Hochburgen der CDU (Sachsen, Thüringen, Sachsen-Anhalt) und der SPD (Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern) geschleift haben. Im Westen der Republik wurden von der AfD zwar nur Wahlkreise in Gelsenkirchen und Kaiserslautern gewonnen, aber auch in den sogenannten alten Bundesländern fuhr die AfD derart fulminante Ergebnisse ein, dass sie sich nach der Auszählung aller Stimmen bundesweit als zweitstärkste Kraft bejubeln konnte.
Seit dem Wahlabend wird häufig die Frage gestellt, wie es dazu kommen konnte, dass so viele Millionen Wählerinnen und Wähler ihr Kreuz bei der rechten Partei machten, Nachbarn, Kolleginnen und Kollegen von der Arbeit oder aus Sportgruppen oder Vereinen, vielleicht gar Verwandte, Freunde.
Eine ähnliche Frage stellte sich im vergangenen Jahr aus besonderem Anlass auch der Dokumentarfilmer und Buchautor Stephan Lamby (65). Ausgangspunkt war das Fest zum 90. Geburtstag seiner Mutter, zu dem aus Connecticut in den USA auch Cousin Martin nebst Frau angereist war: »Ein liebenswerter Mensch, den ich sehr mag. Hilfsbereit, überaus charmant und mit einem durch nichts zu trübenden Selbstbewusstsein.«
Cousin Martin hat jedoch auch eine dunkle Seite. Er sympathisiert mit Trump. Während Lambys Sichtweise auf den Präsidenten in dessen erster Regierungszeit ab 2017 »Tausende Lügen, aberwitzige Verschwörungserzählungen, Hetze gegen ethnische Minderheiten« und all die Disharmonien zwischen Trump und den Regierenden anderer Staaten umfasst, Angela Merkel eingeschlossen, hat Cousin Martin einen ganz anderen Blick auf den 45. Präsidenten der USA. Volle vier Jahre lang hielt er treu zu ihm, denn: »Für Amerikaner wie ihn brachte Trump ein Gefühl alter Größe zurück, sie waren stolz auf ihr Land, auf ihren Präsidenten.«
Als dann im Herbst 2020 Trump die nächste Präsidentschaftswahl verloren hatte, entpuppte er sich in Lambys Augen »als hundsmiserabler Verlierer, der seinem Rivalen Betrug unterstellte und sich weigerte, dem rechtmäßigen Sieger Platz zu machen«. Cousin Martin dagegen verteidigte sein Idol. Und als Donald Trump seine Anhänger aufforderte, am 6. Januar 2021 zu einem Massenprotest nach Washington zu kommen, war Martin mittenmang als »Teil einer dumpfen, immer lauter und aggressiver werdenden Masse, die in Richtung des Kapitols zog«. »Eindrucksvoll schilderte er mir«, schreibt Lamby, »wie er vor dem Parlament Schüsse hörte.« Lambys Erstaunen »über den geliebten Cousin (wurde) immer größer. Wieso hat sich Martin so verändert, wieso hat sich Amerika so verändert?« Er beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen, Antworten zu suchen auf Fragen wie: »Was ist los in unserem Land? Was ist los in anderen Ländern?« Es wurden vier Reisen im Laufe des Jahres 2024.
Zuerst ging es in die USA, wo Lamby in einem Fernsehstudio, das von seinem Cousin betrieben wird, erlebte, wie Diskussionsteilnehmer »vor Wut schäumen«, weil Trump gerade von einem New Yorker Gericht verurteilt worden war. In Chattanooga/Tennessee kam er in einem mexikanischen Restaurant mit einer jungen Kellnerin ins Gespräch, die sich als Trump-Wählerin »aus vollem Herzen« vorstellte, weil dieser sich eindeutig gegen die Abtreibung einsetze, was sie als Katholikin begrüße. In Baton Rouge, der Hauptstadt des Bundesstaats Louisiana, begab er sich zu einem Gottesdienst in das Veranstaltungscenter der Evangelikalen-Kirche, groß wie ein Football-Feld. Einige tausend Menschen passen hinein. Lamby: »Die gesellschaftliche und politische Wirkung der Religionsgemeinschaft ist nicht zu unterschätzen, sie steht weitgehend geschlossen hinter den Republikanern und ist Donald Trumps kulturelle Heimatbasis.«
Nächste Station nach den USA war Argentinien, wo der Ökonom Javier Milei seit Dezember 2023 als Präsident regiert. Er ist ein Bewunderer Trumps, bezeichnet sich selbst als einen Anarchokapitalisten. Er will, wie er schon im Wahlkampf sagte, die Kettensäge an die Fundamente des Staates und damit auch an die Grundlagen des Sozialstaates legen. Er will den Staat so weit wie möglich zerstören, zugunsten des »freien Marktes«. Unter der »Rosskur leiden inzwischen weite Teile der Wirtschaft, und Millionen seiner Landsleute werden in die Armut getrieben«. Sein Wirken strahlt bis in die Bundesrepublik, wo FDP-Chef Lindner am 9. Dezember 2024 im Handelsblatt anregte, »mehr Milei oder Musk zu wagen«. Lamby sprach mit Anhängern (»Ja, der Mann sei etwas ›loco‹, aber was soll’s, die anderen Kandidaten seien alle korrupt, dieser Milei sei die letzte Hoffnung«) und Gegnern (»40 Jahre haben wir in unserem Land die Demokratie aufgebaut. Dieser Typ macht sich jetzt daran, sie innerhalb von vier Jahren niederzureißen«).
Weiter ging die Reise ins von Giorgia Meloni seit Oktober 2022 regierte Italien. Die Ministerpräsidentin ist auch Vorsitzende der Partei Fratelli d’Italia, einer politischen Strömung, die aus dem historischen Faschismus hervorgegangen ist. Lamby schildert, wie in einem Restaurant in Oberitalien plötzlich Marschmusik aus den Lautsprechern dröhnt, wie die junge Frau, die ihm gegenübersitzt, nach ein paar Takten zu summen anfängt: »Sie strahlt über das ganze Gesicht. Als ich sie frage, was das für ein Lied ist, antwortet sie, es sei ein uraltes Kampflied der Faschisten. Ist sie selber Faschistin? Sie wundert sich über meine Frage: Ja, selbstverständlich.«
Letzte Station war Deutschland, Thüringen, Höcke-Land: 38,6 Prozent AfD bei den Zweitstimmen am 23. Februar, 18,6 Prozent CDU (-20,6), 8,8 Prozent SPD (-10,0). In Halle beobachtete Lamby den Prozess gegen Björn Höcke, Oppositionsführer im Thüringer Landtag, angeklagt wegen Verwendung des heute verbotenen einstigen SA-Slogans »Alles für Deutschland« am Schluss einer AfD-Kundgebung. In Gera (40,5 Prozent AfD bei der Bundestagswahl 2025) traf Lamby einen ehemaligen Arzt, der Wahlkampf für die AfD machte und Anhänger Höckes ist. Auf die Negativschlagzeilen und Nazi-Vergleiche in Medien und Öffentlichkeit angesprochen, antwortete dieser: »Die Leute können diese Propaganda nicht mehr hören. Die haben ja ihren eigenen Verstand. Die Leute, die vor der Glotze hängen, werden natürlich vom Staatsfunk manipuliert.« Sobald seine Partei an der Macht sei, würde sie dem Staatsfunk ein Ende setzen.
Seinen Reisebericht in Länder, die auf der Kippe stehen, hat Lamby vor kurzem unter dem Titel Dennoch sprechen wir miteinander, Untertitel Wie ein Familientreffen zu einer Reise durch die Welt der Demagogen wurde, als Buch veröffentlicht. Ich zitiere daraus einige bemerkenswerte Beobachtungen und Schlussfolgerungen.
»Seit beinahe 40 Jahren beobachte ich politische Prozesse. Noch nie habe ich die Wut auf das herrschende System, die Sehnsucht nach Umsturz und ja, nach Zerstörung als so tiefgreifend und bedrohlich empfunden wie in den letzten Monaten.«
»Noch erleben wir eine Phase der Disruption, des Übergangs. Aber wohin, was soll nach dem Übergang folgen? Figuren, die noch vor wenigen Jahren kaum Chancen im politischen Betrieb hatten, erhalten plötzlich großen Zuspruch, weil sie versichern, alles andere zu sein, nur keine klassischen Politiker.«
»(Die etablierten Politiker) müssen wiederum feststellen, dass ihre Überzeugungskraft schwindet, dass ihnen die Zustimmung weiter Teile der Bevölkerung abhandenkommt. Liegt es an ihrer veralteten Form von Kommunikation? Liegt es daran, dass der Vorwurf, ›die da oben‹ seien allesamt korrupt, durch ständig neue Skandale Nahrung erhält? Liegt es daran, dass die Bürger den Versprechungen der Regierungen immer weniger glauben, weil sich an ihren Lebensverhältnissen eh nichts verbessert?«
»Immer hetzen sie gegen Journalisten, gegen eine vermeintliche Verschwörung etablierter Politiker und Medien, gegen eine behauptete ›Meinungsdiktatur‹. Oft machen sie Stimmung gegen Fremde, gegen Menschen aus anderen Ländern, mit anderer Hautfarbe und anderer Religion. Sie zerstören die Toleranz und somit den Wesenskern der Demokratie.«
»Die Angst vor (dem eigenen) Bedeutungsverlust schlägt zunehmend in Wut um. Demokratische Regierungen schaffen es immer weniger, dass Sicherheitsbedürfnis ihrer Bürger zu befriedigen. Koalitionen, deren Partner gegeneinander arbeiten, zerstören das Vertrauen nicht nur ihrer Wähler. Demagogen füllen das Vertrauensvakuum.«
Lambys Resümee: »Ich habe viele Menschen beobachtet, die einen Widerwillen gegen beinahe jegliche Form von Veränderungen empfinden. Besonders stark ist der Widerwillen gegen Veränderungen, die ihnen von außen aufgedrängt oder auch nur empfohlen werden, und seien sie noch so sinnvoll. Sie empfinden eine Aversion gegen klimaneutrales Reisen und klimaneutrales Wohnen, gegen fleischloses Essen oder gegen politisch korrekte Sprache. Sie wehren sich aus verständlichen Gründen gegen industrielle Veränderungen, sie fühlen sich als Opfer von Transformationsprozessen. Die tiefgreifendste Abwehrhaltung ist aber eine andere: Sie richtet sich gegen fremde Menschen.«
Und schließlich: »Wir leben nicht im Zeitalter des Postfaschismus, sondern im Zeitalter des Präfaschismus.«
Lambys lebendig geschriebenes Buch ist zwar keine tiefschürfende soziologische Analyse der aktuellen Situation, will es auch nicht sein. Stattdessen aber liefert es aktuelles Anschauungsmaterial zu der Frage, warum nach jahrelanger scheinbarer Gewissheit eines unaufhaltsamen gesellschaftlichen Fortschritts und eines Siegeszugs der Demokratie auf der Grundlage politischer Freiheit und Gleichheit und Gewaltenteilung so viele Menschen in Deutschland, in Europa, in aller Welt das Autoritäre wählen. Als wäre es eine Alternative.
Stephan Lamby: Dennoch sprechen wir miteinander, C.H.Beck, München 2025, 248 S., 25 €.