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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Auf der Kippe

Nach der Wahl ist vor der Wahl. Wenn in der neu­en Regie­rung nie­mand mit einem Dolch im Gewan­de her­um­läuft und hin­ter­li­stig einen D-Day plant, so könn­te die neue Koali­ti­on bis 2029 hal­ten, so sie denn zustan­de kommt. Bis dahin ste­hen wir alle vor der Auf­ga­be, mög­lichst vie­le jener Wäh­le­rin­nen und Wäh­ler für die Demo­kra­tie zurück­zu­ge­win­nen, die am 23. Febru­ar 2025 die AfD in allen fünf Flä­chen­län­dern im Osten Deutsch­lands zur stärk­sten Kraft gemacht haben, ihr den Wahl­sieg in 45 von 48 Wahl­krei­sen ermög­lich­ten und damit die ein­sti­gen Hoch­bur­gen der CDU (Sach­sen, Thü­rin­gen, Sach­sen-Anhalt) und der SPD (Bran­den­burg und Meck­len­burg-Vor­pom­mern) geschleift haben. Im Westen der Repu­blik wur­den von der AfD zwar nur Wahl­krei­se in Gel­sen­kir­chen und Kai­sers­lau­tern gewon­nen, aber auch in den soge­nann­ten alten Bun­des­län­dern fuhr die AfD der­art ful­mi­nan­te Ergeb­nis­se ein, dass sie sich nach der Aus­zäh­lung aller Stim­men bun­des­weit als zweit­stärk­ste Kraft beju­beln konnte.

Seit dem Wahl­abend wird häu­fig die Fra­ge gestellt, wie es dazu kom­men konn­te, dass so vie­le Mil­lio­nen Wäh­le­rin­nen und Wäh­ler ihr Kreuz bei der rech­ten Par­tei mach­ten, Nach­barn, Kol­le­gin­nen und Kol­le­gen von der Arbeit oder aus Sport­grup­pen oder Ver­ei­nen, viel­leicht gar Ver­wand­te, Freunde.

Eine ähn­li­che Fra­ge stell­te sich im ver­gan­ge­nen Jahr aus beson­de­rem Anlass auch der Doku­men­tar­fil­mer und Buch­au­tor Ste­phan Lam­by (65). Aus­gangs­punkt war das Fest zum 90. Geburts­tag sei­ner Mut­ter, zu dem aus Con­nec­ti­cut in den USA auch Cou­sin Mar­tin nebst Frau ange­reist war: »Ein lie­bens­wer­ter Mensch, den ich sehr mag. Hilfs­be­reit, über­aus char­mant und mit einem durch nichts zu trü­ben­den Selbstbewusstsein.«

Cou­sin Mar­tin hat jedoch auch eine dunk­le Sei­te. Er sym­pa­thi­siert mit Trump. Wäh­rend Lam­bys Sicht­wei­se auf den Prä­si­den­ten in des­sen erster Regie­rungs­zeit ab 2017 »Tau­sen­de Lügen, aber­wit­zi­ge Ver­schwö­rungs­er­zäh­lun­gen, Het­ze gegen eth­ni­sche Min­der­hei­ten« und all die Dis­har­mo­nien zwi­schen Trump und den Regie­ren­den ande­rer Staa­ten umfasst, Ange­la Mer­kel ein­ge­schlos­sen, hat Cou­sin Mar­tin einen ganz ande­ren Blick auf den 45. Prä­si­den­ten der USA. Vol­le vier Jah­re lang hielt er treu zu ihm, denn: »Für Ame­ri­ka­ner wie ihn brach­te Trump ein Gefühl alter Grö­ße zurück, sie waren stolz auf ihr Land, auf ihren Präsidenten.«

Als dann im Herbst 2020 Trump die näch­ste Prä­si­dent­schafts­wahl ver­lo­ren hat­te, ent­pupp­te er sich in Lam­bys Augen »als hunds­mi­se­ra­bler Ver­lie­rer, der sei­nem Riva­len Betrug unter­stell­te und sich wei­ger­te, dem recht­mä­ßi­gen Sie­ger Platz zu machen«. Cou­sin Mar­tin dage­gen ver­tei­dig­te sein Idol. Und als Donald Trump sei­ne Anhän­ger auf­for­der­te, am 6. Janu­ar 2021 zu einem Mas­sen­pro­test nach Washing­ton zu kom­men, war Mar­tin mit­ten­mang als »Teil einer dump­fen, immer lau­ter und aggres­si­ver wer­den­den Mas­se, die in Rich­tung des Kapi­tols zog«. »Ein­drucks­voll schil­der­te er mir«, schreibt Lam­by, »wie er vor dem Par­la­ment Schüs­se hör­te.« Lam­bys Erstau­nen »über den gelieb­ten Cou­sin (wur­de) immer grö­ßer. Wie­so hat sich Mar­tin so ver­än­dert, wie­so hat sich Ame­ri­ka so ver­än­dert?« Er beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen, Ant­wor­ten zu suchen auf Fra­gen wie: »Was ist los in unse­rem Land? Was ist los in ande­ren Län­dern?« Es wur­den vier Rei­sen im Lau­fe des Jah­res 2024.

Zuerst ging es in die USA, wo Lam­by in einem Fern­seh­stu­dio, das von sei­nem Cou­sin betrie­ben wird, erleb­te, wie Dis­kus­si­ons­teil­neh­mer »vor Wut schäu­men«, weil Trump gera­de von einem New Yor­ker Gericht ver­ur­teilt wor­den war. In Chattanooga/​Tennessee kam er in einem mexi­ka­ni­schen Restau­rant mit einer jun­gen Kell­ne­rin ins Gespräch, die sich als Trump-Wäh­le­rin »aus vol­lem Her­zen« vor­stell­te, weil die­ser sich ein­deu­tig gegen die Abtrei­bung ein­set­ze, was sie als Katho­li­kin begrü­ße. In Baton Rouge, der Haupt­stadt des Bun­des­staats Loui­sia­na, begab er sich zu einem Got­tes­dienst in das Ver­an­stal­tungs­cen­ter der Evan­ge­li­ka­len-Kir­che, groß wie ein Foot­ball-Feld. Eini­ge tau­send Men­schen pas­sen hin­ein. Lam­by: »Die gesell­schaft­li­che und poli­ti­sche Wir­kung der Reli­gi­ons­ge­mein­schaft ist nicht zu unter­schät­zen, sie steht weit­ge­hend geschlos­sen hin­ter den Repu­bli­ka­nern und ist Donald Trumps kul­tu­rel­le Heimatbasis.«

Näch­ste Sta­ti­on nach den USA war Argen­ti­ni­en, wo der Öko­nom Javier Milei seit Dezem­ber 2023 als Prä­si­dent regiert. Er ist ein Bewun­de­rer Trumps, bezeich­net sich selbst als einen Anar­cho­ka­pi­ta­li­sten. Er will, wie er schon im Wahl­kampf sag­te, die Ket­ten­sä­ge an die Fun­da­men­te des Staa­tes und damit auch an die Grund­la­gen des Sozi­al­staa­tes legen. Er will den Staat so weit wie mög­lich zer­stö­ren, zugun­sten des »frei­en Mark­tes«. Unter der »Ross­kur lei­den inzwi­schen wei­te Tei­le der Wirt­schaft, und Mil­lio­nen sei­ner Lands­leu­te wer­den in die Armut getrie­ben«. Sein Wir­ken strahlt bis in die Bun­des­re­pu­blik, wo FDP-Chef Lind­ner am 9. Dezem­ber 2024 im Han­dels­blatt anreg­te, »mehr Milei oder Musk zu wagen«. Lam­by sprach mit Anhän­gern (»Ja, der Mann sei etwas ›loco‹, aber was soll’s, die ande­ren Kan­di­da­ten sei­en alle kor­rupt, die­ser Milei sei die letz­te Hoff­nung«) und Geg­nern (»40 Jah­re haben wir in unse­rem Land die Demo­kra­tie auf­ge­baut. Die­ser Typ macht sich jetzt dar­an, sie inner­halb von vier Jah­ren niederzureißen«).

Wei­ter ging die Rei­se ins von Gior­gia Melo­ni seit Okto­ber 2022 regier­te Ita­li­en. Die Mini­ster­prä­si­den­tin ist auch Vor­sit­zen­de der Par­tei Fra­tel­li d’Italia, einer poli­ti­schen Strö­mung, die aus dem histo­ri­schen Faschis­mus her­vor­ge­gan­gen ist. Lam­by schil­dert, wie in einem Restau­rant in Ober­ita­li­en plötz­lich Marsch­mu­sik aus den Laut­spre­chern dröhnt, wie die jun­ge Frau, die ihm gegen­über­sitzt, nach ein paar Tak­ten zu sum­men anfängt: »Sie strahlt über das gan­ze Gesicht. Als ich sie fra­ge, was das für ein Lied ist, ant­wor­tet sie, es sei ein uraltes Kampf­lied der Faschi­sten. Ist sie sel­ber Faschi­stin? Sie wun­dert sich über mei­ne Fra­ge: Ja, selbstverständlich.«

Letz­te Sta­ti­on war Deutsch­land, Thü­rin­gen, Höcke-Land: 38,6 Pro­zent AfD bei den Zweit­stim­men am 23. Febru­ar, 18,6 Pro­zent CDU (-20,6), 8,8 Pro­zent SPD (-10,0). In Hal­le beob­ach­te­te Lam­by den Pro­zess gegen Björn Höcke, Oppo­si­ti­ons­füh­rer im Thü­rin­ger Land­tag, ange­klagt wegen Ver­wen­dung des heu­te ver­bo­te­nen ein­sti­gen SA-Slo­gans »Alles für Deutsch­land« am Schluss einer AfD-Kund­ge­bung. In Gera (40,5 Pro­zent AfD bei der Bun­des­tags­wahl 2025) traf Lam­by einen ehe­ma­li­gen Arzt, der Wahl­kampf für die AfD mach­te und Anhän­ger Höckes ist. Auf die Nega­tiv­schlag­zei­len und Nazi-Ver­glei­che in Medi­en und Öffent­lich­keit ange­spro­chen, ant­wor­te­te die­ser: »Die Leu­te kön­nen die­se Pro­pa­gan­da nicht mehr hören. Die haben ja ihren eige­nen Ver­stand. Die Leu­te, die vor der Glot­ze hän­gen, wer­den natür­lich vom Staats­funk mani­pu­liert.« Sobald sei­ne Par­tei an der Macht sei, wür­de sie dem Staats­funk ein Ende setzen.

Sei­nen Rei­se­be­richt in Län­der, die auf der Kip­pe ste­hen, hat Lam­by vor kur­zem unter dem Titel Den­noch spre­chen wir mit­ein­an­der, Unter­ti­tel Wie ein Fami­li­en­tref­fen zu einer Rei­se durch die Welt der Dem­ago­gen wur­de, als Buch ver­öf­fent­licht. Ich zitie­re dar­aus eini­ge bemer­kens­wer­te Beob­ach­tun­gen und Schlussfolgerungen.

»Seit bei­na­he 40 Jah­ren beob­ach­te ich poli­ti­sche Pro­zes­se. Noch nie habe ich die Wut auf das herr­schen­de System, die Sehn­sucht nach Umsturz und ja, nach Zer­stö­rung als so tief­grei­fend und bedroh­lich emp­fun­den wie in den letz­ten Monaten.«

»Noch erle­ben wir eine Pha­se der Dis­rup­ti­on, des Über­gangs. Aber wohin, was soll nach dem Über­gang fol­gen? Figu­ren, die noch vor weni­gen Jah­ren kaum Chan­cen im poli­ti­schen Betrieb hat­ten, erhal­ten plötz­lich gro­ßen Zuspruch, weil sie ver­si­chern, alles ande­re zu sein, nur kei­ne klas­si­schen Politiker.«

»(Die eta­blier­ten Poli­ti­ker) müs­sen wie­der­um fest­stel­len, dass ihre Über­zeu­gungs­kraft schwin­det, dass ihnen die Zustim­mung wei­ter Tei­le der Bevöl­ke­rung abhan­den­kommt. Liegt es an ihrer ver­al­te­ten Form von Kom­mu­ni­ka­ti­on? Liegt es dar­an, dass der Vor­wurf, ›die da oben‹ sei­en alle­samt kor­rupt, durch stän­dig neue Skan­da­le Nah­rung erhält? Liegt es dar­an, dass die Bür­ger den Ver­spre­chun­gen der Regie­run­gen immer weni­ger glau­ben, weil sich an ihren Lebens­ver­hält­nis­sen eh nichts verbessert?«

»Immer het­zen sie gegen Jour­na­li­sten, gegen eine ver­meint­li­che Ver­schwö­rung eta­blier­ter Poli­ti­ker und Medi­en, gegen eine behaup­te­te ›Mei­nungs­dik­ta­tur‹. Oft machen sie Stim­mung gegen Frem­de, gegen Men­schen aus ande­ren Län­dern, mit ande­rer Haut­far­be und ande­rer Reli­gi­on. Sie zer­stö­ren die Tole­ranz und somit den Wesens­kern der Demokratie.«

»Die Angst vor (dem eige­nen) Bedeu­tungs­ver­lust schlägt zuneh­mend in Wut um. Demo­kra­ti­sche Regie­run­gen schaf­fen es immer weni­ger, dass Sicher­heits­be­dürf­nis ihrer Bür­ger zu befrie­di­gen. Koali­tio­nen, deren Part­ner gegen­ein­an­der arbei­ten, zer­stö­ren das Ver­trau­en nicht nur ihrer Wäh­ler. Dem­ago­gen fül­len das Vertrauensvakuum.«

Lam­bys Resü­mee: »Ich habe vie­le Men­schen beob­ach­tet, die einen Wider­wil­len gegen bei­na­he jeg­li­che Form von Ver­än­de­run­gen emp­fin­den. Beson­ders stark ist der Wider­wil­len gegen Ver­än­de­run­gen, die ihnen von außen auf­ge­drängt oder auch nur emp­foh­len wer­den, und sei­en sie noch so sinn­voll. Sie emp­fin­den eine Aver­si­on gegen kli­ma­neu­tra­les Rei­sen und kli­ma­neu­tra­les Woh­nen, gegen fleisch­lo­ses Essen oder gegen poli­tisch kor­rek­te Spra­che. Sie weh­ren sich aus ver­ständ­li­chen Grün­den gegen indu­stri­el­le Ver­än­de­run­gen, sie füh­len sich als Opfer von Trans­for­ma­ti­ons­pro­zes­sen. Die tief­grei­fend­ste Abwehr­hal­tung ist aber eine ande­re: Sie rich­tet sich gegen frem­de Menschen.«

Und schließ­lich: »Wir leben nicht im Zeit­al­ter des Post­fa­schis­mus, son­dern im Zeit­al­ter des Präfaschismus.«

Lam­bys leben­dig geschrie­be­nes Buch ist zwar kei­ne tief­schür­fen­de sozio­lo­gi­sche Ana­ly­se der aktu­el­len Situa­ti­on, will es auch nicht sein. Statt­des­sen aber lie­fert es aktu­el­les Anschau­ungs­ma­te­ri­al zu der Fra­ge, war­um nach jah­re­lan­ger schein­ba­rer Gewiss­heit eines unauf­halt­sa­men gesell­schaft­li­chen Fort­schritts und eines Sie­ges­zugs der Demo­kra­tie auf der Grund­la­ge poli­ti­scher Frei­heit und Gleich­heit und Gewal­ten­tei­lung so vie­le Men­schen in Deutsch­land, in Euro­pa, in aller Welt das Auto­ri­tä­re wäh­len. Als wäre es eine Alternative.

 Ste­phan Lam­by: Den­noch spre­chen wir mit­ein­an­der, C.H.Beck, Mün­chen 2025, 248 S., 25 €.