Dass Literatur aus der Volksrepublik China schon lange nicht mehr auf einen sozialistischen Realismus, welcher Art auch immer, eingeschworen ist, habe ich schon im Sommer 2019 in Ossietzky (11/2019) beschrieben, als ich die Trisolaris-Trilogie des 1963 in Peking geborenen Science-Fiction-Schriftstellers Liu Cixin vorstellte. Auch die Kriminalromane um Oberinspektor Chen des 1953 in Shanghai geborenen und inzwischen an der Washington University St. Louis chinesische Literatur und Sprache lehrenden Schriftstellers Qiu Xiaolong führen uns in ein China zwischen Kommunismus und Kapitalismus. Bezeichnenderweise hieß der 2004 erschienene erste Band der Reihe »Tod einer roten Heldin«. Moderne chinesische Lyrik, die sich darüber hinaus noch mit der aktuellen Arbeits- und Warenwelt befasst, war mir bislang unbekannt.
Diese Lücke hat nun der Schweizer Verleger Urs Engeler gefüllt. Er landete mit seinem Verlag in diesem Sommer einen Coup, als er unter dem Titel »Erzählung von den Konsumgütern« Gedichte der 1980 in der Stadt Nanchong geborenen Lyrikerin Zheng Xiaoqiong veröffentlichte. Auf Anhieb gelangte der Band im September auf Platz 10 der monatlichen SWR-Bestenliste.
Xiaoqiong, die heute nordwestlich von Hongkong in der Hafenstadt Guangzhou lebt, war, wie sie in einem im Buch abgedruckten Interview darstellt, mit 21 Jahren als Wanderarbeiterin »aus einem alten, etwas rückständigen Dorf in der chinesischen Provinz Sichuan an die chinesische Küste« gezogen. Dort arbeitete sie in verschiedenen Fabriken. Sie suchte »nach einem besseren Leben, nach einem ökonomischen Auskommen«. Doch die junge Frau vom Land musste schon bald erkennen, »dass es eine eigene Ökonomie des ländlichen Raumes gibt, dass heute ein agrikulturelles und ein industrielles Zeitalter einander gegenüberstehen, die gleichzeitig als völlig getrennte Lebenswelten existieren«. Und sie sah, »zu welchen Verletzungen das Kapital und die industrielle Ausbeutung führen können, was die Arbeit in den Fabriken mit den Körpern anrichtet und welche Zerstörung der Umwelt damit einhergeht«.
Die Wanderarbeiterin begann Gedichte zu schreiben, die erfahrene Wirklichkeit in Lyrik umzusetzen, zum Beispiel in dem Gedicht »Fließband«: »Wie Fische schwimmen die Frauen zwischen Wanderarbeits- / und Warenströmen, ziehen Tag wie Nacht Produktionsaufträge / hinter sich her, Profite, das BIP, Jugend, Träume Visionen / Den ganzen Schwung des Industriezeitalters. / Einsam leben sie im Lärmen der Fließbänder, Frauen und Männer / treiben fremd aneinander vorbei, verschlucken sich unablässig, Schrauben / Plastikstücke, Eisennägel, Kleber verfangen sich in Händen, hustende / Lungen, die Körper gezeichnet von Berufskrankheiten, alles treibt / im Strom der Zeitarbeit.«
Für Xiaoqiong wurde Poesie »zu einem Kanal, um diese Realität zu ertragen und sich zu ihr verhalten zu können«. Wer den Gedichtband zur Hand nimmt, hat ein Titelbild vor sich, das im Hamburger Hafen aufgenommen sein könnte: Container reihen sich an Container. Vielleicht kommen sie ja aus der Provinz Guangdong und damit aus der Region, die auch als »Fabrik der Welt« bezeichnet wird. Jeder dritte Container, der hier landet, kommt aus der Volksrepublik China, dem wichtigsten Handelspartner des Hamburger Hafens,
Doch dieses Faktum sagt nichts über die Bedingungen, unter denen die weltweit vertriebenen Produkte aus China hergestellt werden. Rund 300 Millionen Wanderarbeiterinnen und Wanderarbeiter gibt es in der Volksrepublik. Für die Sinologin Lea Schneider, eine der fünf Übersetzerinnen und Übersetzer der Gedichte, handelt es sich dabei »um die größte Arbeitsmigrationswelle, die es in der Geschichte der Menschheit je gab«.
Xiaoqiong gab diesen Frauen und Männern eine Stimme, zum Beispiel mit dem Gedicht »Industriezeitalter«, das, wie sie erläutert, »von einer Frau spricht, die vom Land kommt und während ihrer Lohnarbeit auf das stößt, was wir heute Globalisierung nennen«. »Japanische Maschinen, finanziert von amerikanischem Kapital, drehen Eisen, gewonnen aus brasilianischen Minen; Drehstahl aus Deutschland formt / Frankreichs Küstenlinie neu; in Südkoreas Regalen stehen Marken aus Italien, / Belgien wartet in der Ecke auf den Ausverkauf, Spanien und Singapur werden / derweil inspiziert; der Transporteur verfrachtet Russland in die Lagerhalle; / halb Afrika liegt als Rohstoff unter freiem Himmel; die Auftragslisten von Chile sind schmal und lang wie sein Territorium …«
Ein fünfköpfiges Team hat in Gemeinschaftsarbeit die vorliegende Auswahl aus dem Gesamtwerk übersetzt. Es ist die erste Buchveröffentlichung auf Deutsch, Urs Engeler sei Dank. Ob die Gedichte auch im Original in dieser Mittellage zwischen Erzählgedicht und Kurzprosa liegen, kann ich nicht beurteilen. Wer jedoch der chinesischen Schrift mächtig ist, kann es selbst überprüfen: Die Buchausgabe ist zweisprachig. »Wohl dem, der das Original lesen kann«, urteilten aus diesem Grund die Kritikerinnen und Kritiker, die monatlich ihr Votum für die SWR-Bestenliste abgeben.
Zheng Xiaoqiong: Erzählung von den Konsumgütern, Gedichte. Übersetzt von Sara Landa, Maja Linnemann, Eva Schestag, Lea Schneider und Christian Filips, Engeler-Verlag, Schupfart/Schweiz 2025, 180 S., 22 €.