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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Aus der Arbeits- und Warenwelt

Dass Lite­ra­tur aus der Volks­re­pu­blik Chi­na schon lan­ge nicht mehr auf einen sozia­li­sti­schen Rea­lis­mus, wel­cher Art auch immer, ein­ge­schwo­ren ist, habe ich schon im Som­mer 2019 in Ossietzky (11/​2019) beschrie­ben, als ich die Triso­la­ris-Tri­lo­gie des 1963 in Peking gebo­re­nen Sci­ence-Fic­tion-Schrift­stel­lers Liu Cixin vor­stell­te. Auch die Kri­mi­nal­ro­ma­ne um Ober­inspek­tor Chen des 1953 in Shang­hai gebo­re­nen und inzwi­schen an der Washing­ton Uni­ver­si­ty St. Lou­is chi­ne­si­sche Lite­ra­tur und Spra­che leh­ren­den Schrift­stel­lers Qiu Xiao­long füh­ren uns in ein Chi­na zwi­schen Kom­mu­nis­mus und Kapi­ta­lis­mus. Bezeich­nen­der­wei­se hieß der 2004 erschie­ne­ne erste Band der Rei­he »Tod einer roten Hel­din«. Moder­ne chi­ne­si­sche Lyrik, die sich dar­über hin­aus noch mit der aktu­el­len Arbeits- und Waren­welt befasst, war mir bis­lang unbekannt.

Die­se Lücke hat nun der Schwei­zer Ver­le­ger Urs Enge­ler gefüllt. Er lan­de­te mit sei­nem Ver­lag in die­sem Som­mer einen Coup, als er unter dem Titel »Erzäh­lung von den Kon­sum­gü­tern« Gedich­te der 1980 in der Stadt Nan­chong gebo­re­nen Lyri­ke­rin Zheng Xia­o­qi­ong ver­öf­fent­lich­te. Auf Anhieb gelang­te der Band im Sep­tem­ber auf Platz 10 der monat­li­chen SWR-Bestenliste.

Xia­o­qi­ong, die heu­te nord­west­lich von Hong­kong in der Hafen­stadt Guang­zhou lebt, war, wie sie in einem im Buch abge­druck­ten Inter­view dar­stellt, mit 21 Jah­ren als Wan­der­ar­bei­te­rin »aus einem alten, etwas rück­stän­di­gen Dorf in der chi­ne­si­schen Pro­vinz Sichu­an an die chi­ne­si­sche Küste« gezo­gen. Dort arbei­te­te sie in ver­schie­de­nen Fabri­ken. Sie such­te »nach einem bes­se­ren Leben, nach einem öko­no­mi­schen Aus­kom­men«. Doch die jun­ge Frau vom Land muss­te schon bald erken­nen, »dass es eine eige­ne Öko­no­mie des länd­li­chen Rau­mes gibt, dass heu­te ein agri­kul­tu­rel­les und ein indu­stri­el­les Zeit­al­ter ein­an­der gegen­über­ste­hen, die gleich­zei­tig als völ­lig getrenn­te Lebens­wel­ten exi­stie­ren«. Und sie sah, »zu wel­chen Ver­let­zun­gen das Kapi­tal und die indu­stri­el­le Aus­beu­tung füh­ren kön­nen, was die Arbeit in den Fabri­ken mit den Kör­pern anrich­tet und wel­che Zer­stö­rung der Umwelt damit einhergeht«.

Die Wan­der­ar­bei­te­rin begann Gedich­te zu schrei­ben, die erfah­re­ne Wirk­lich­keit in Lyrik umzu­set­zen, zum Bei­spiel in dem Gedicht »Fließ­band«: »Wie Fische schwim­men die Frau­en zwi­schen Wan­der­ar­beits- /​ und Waren­strö­men, zie­hen Tag wie Nacht Pro­duk­ti­ons­auf­trä­ge /​ hin­ter sich her, Pro­fi­te, das BIP, Jugend, Träu­me Visio­nen /​ Den gan­zen Schwung des Indu­strie­zeit­al­ters. /​ Ein­sam leben sie im Lär­men der Fließ­bän­der, Frau­en und Män­ner /​ trei­ben fremd anein­an­der vor­bei, ver­schlucken sich unab­läs­sig, Schrau­ben /​ Pla­stik­stücke, Eisen­nä­gel, Kle­ber ver­fan­gen sich in Hän­den, husten­de /​ Lun­gen, die Kör­per gezeich­net von Berufs­krank­hei­ten, alles treibt /​ im Strom der Zeitarbeit.«

Für Xia­o­qi­ong wur­de Poe­sie »zu einem Kanal, um die­se Rea­li­tät zu ertra­gen und sich zu ihr ver­hal­ten zu kön­nen«. Wer den Gedicht­band zur Hand nimmt, hat ein Titel­bild vor sich, das im Ham­bur­ger Hafen auf­ge­nom­men sein könn­te: Con­tai­ner rei­hen sich an Con­tai­ner. Viel­leicht kom­men sie ja aus der Pro­vinz Guang­dong und damit aus der Regi­on, die auch als »Fabrik der Welt« bezeich­net wird. Jeder drit­te Con­tai­ner, der hier lan­det, kommt aus der Volks­re­pu­blik Chi­na, dem wich­tig­sten Han­dels­part­ner des Ham­bur­ger Hafens,

Doch die­ses Fak­tum sagt nichts über die Bedin­gun­gen, unter denen die welt­weit ver­trie­be­nen Pro­duk­te aus Chi­na her­ge­stellt wer­den. Rund 300 Mil­lio­nen Wan­der­ar­bei­te­rin­nen und Wan­der­ar­bei­ter gibt es in der Volks­re­pu­blik. Für die Sino­lo­gin Lea Schnei­der, eine der fünf Über­set­ze­rin­nen und Über­set­zer der Gedich­te, han­delt es sich dabei »um die größ­te Arbeits­mi­gra­ti­ons­wel­le, die es in der Geschich­te der Mensch­heit je gab«.

Xia­o­qi­ong gab die­sen Frau­en und Män­nern eine Stim­me, zum Bei­spiel mit dem Gedicht »Indu­strie­zeit­al­ter«, das, wie sie erläu­tert, »von einer Frau spricht, die vom Land kommt und wäh­rend ihrer Lohn­ar­beit auf das stößt, was wir heu­te Glo­ba­li­sie­rung nen­nen«. »Japa­ni­sche Maschi­nen, finan­ziert von ame­ri­ka­ni­schem Kapi­tal, dre­hen Eisen, gewon­nen aus bra­si­lia­ni­schen Minen; Dreh­stahl aus Deutsch­land formt /​ Frank­reichs Küsten­li­nie neu; in Süd­ko­re­as Rega­len ste­hen Mar­ken aus Ita­li­en, /​ Bel­gi­en war­tet in der Ecke auf den Aus­ver­kauf, Spa­ni­en und Sin­ga­pur wer­den /​ der­weil inspi­ziert; der Trans­por­teur ver­frach­tet Russ­land in die Lager­hal­le; /​ halb Afri­ka liegt als Roh­stoff unter frei­em Him­mel; die Auf­trags­li­sten von Chi­le sind schmal und lang wie sein Territorium …«

Ein fünf­köp­fi­ges Team hat in Gemein­schafts­ar­beit die vor­lie­gen­de Aus­wahl aus dem Gesamt­werk über­setzt. Es ist die erste Buch­ver­öf­fent­li­chung auf Deutsch, Urs Enge­ler sei Dank. Ob die Gedich­te auch im Ori­gi­nal in die­ser Mit­tel­la­ge zwi­schen Erzähl­ge­dicht und Kurz­pro­sa lie­gen, kann ich nicht beur­tei­len. Wer jedoch der chi­ne­si­schen Schrift mäch­tig ist, kann es selbst über­prü­fen: Die Buch­aus­ga­be ist zwei­spra­chig. »Wohl dem, der das Ori­gi­nal lesen kann«, urteil­ten aus die­sem Grund die Kri­ti­ke­rin­nen und Kri­ti­ker, die monat­lich ihr Votum für die SWR-Besten­li­ste abgeben.

 Zheng Xia­o­qi­ong: Erzäh­lung von den Kon­sum­gü­tern, Gedich­te. Über­setzt von Sara Landa, Maja Lin­ne­mann, Eva Schestag, Lea Schnei­der und Chri­sti­an Filips, Enge­ler-Ver­lag, Schupfart/​Schweiz 2025, 180 S., 22 €.