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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Bekanntschaft mit einem Großen Gopnik

»Groß« macht sich gut in Roman- und Film­ti­teln, zumal sich ohne gro­ßen Auf­wand mit die­sem Wort die gegen­tei­li­ge Bot­schaft trans­por­tie­ren lässt. So auch in Vik­tor Jero­fe­jews Roman (wenn man die­ses erzäh­le­ri­sche Sam­mel­su­ri­um denn so nen­nen möch­te) – denn »groß« und »Gop­nik« schlie­ßen sich aus. Der Gop­nik näm­lich ist ein halb­star­ker Row­dy, ein Hin­ter­hof­ban­dit, ein Banau­se sowie­so, der es viel­leicht in einem Mos­kau­er Milieu zu Anse­hen bringt. Aber in Jero­fe­jews Fan­ta­sie­stück steigt er bis in den Kreml auf, gelangt an die Staats­spit­ze und rich­tet sich dort auf lan­ge ein: »Im Jah­re 2007 been­de­te der Gro­ße Gop­nik die zwei­te Amts­zeit sei­ner mär­chen­haf­ten Regie­rung (…). Es war klar, dass der Gro­ße Gop­nik nie­mals ein­fach so die Macht abge­ben wür­de. Doch nach der dama­li­gen sehr wohl demo­kra­ti­schen Ver­fas­sung hät­te er den Kreml ver­las­sen müssen.«

Damit ist klar, wer gemeint ist. Das Gru­se­li­ge ist nun, dass kei­nes­falls nur Fan­ta­sie­er­zeug­nis­se prä­sen­tiert wer­den. Denn es spricht jemand, der es wis­sen muss. Jero­fe­jew stammt aus dem Dunst­kreis der Sowjet­macht, sein Vater war Fran­zö­sisch-Dol­met­scher, Über­set­zer Sta­lins, auch Kul­tur­at­ta­ché, die Fami­lie leb­te vie­le Jah­re in Frank­reich. Es sind also die Lebens­prä­gun­gen die­ses Wik­tor Wla­di­mi­ro­witsch nicht zu ver­glei­chen mit denen eines Wik­tor Wla­di­mi­ro­witsch, der viel­leicht aus der rus­si­schen Pro­vinz kommt. Denn Wik­tor Wla­di­mi­ro­witsch Jero­fe­jew gehör­te dazu und kann jetzt aus dem Vol­len schöp­fen. Her­kunft aus dem Funk­tio­närs- und Funk­tio­när­in­nen­mi­lieu und nach­fol­gen­de Abtrün­nig­keit haben sich im Schrift­stel­ler­ge­wer­be immer gut gemacht.

Zwar ver­lor sein Vater wegen eines auf­müp­fi­gen Tex­tes des Soh­nes sei­ne hoch­ran­gi­ge Stel­le – aber man leb­te gut und kul­ti­viert, weit über dem Niveau des »Durch­schnitts­rus­sen«. Mög­li­cher­wei­se speist sich die Arro­ganz sei­nes Urteils, zum Bei­spiel über Schrift­stel­ler­kol­le­gin­nen oder -kol­le­gen, auch aus die­ser Quel­le. Womit nicht gesagt sein soll, dass er unrecht hät­te, aber es schmeckt durch, für wie gedie­gen sich Jero­fe­jew hält. Rüpel­haf­tig­keit, von der auch sein Umgang mit Frau­en geprägt zu sein scheint, kann er haupt­säch­lich bei ande­ren fest­stel­len, vor allem natür­lich beim »Gro­ßen Gopnik«.

Ich glau­be, es wäre bes­ser gewe­sen, sich im Klap­pen­text des Wor­tes »Proll« zu ent­hal­ten. Zum einen, weil es dem Gemein­ten einen Teil sei­ner Gefähr­lich­keit und Bru­ta­li­tät nimmt. Zum ande­ren, weil der »Proll«, selbst der DUDEN macht es so, die Vor­stel­lung des Typen mit der Bier­do­se in der Hand evo­ziert. Und wo ist dann der Unter­schied zum Schrift­stel­ler, der genüss­lich eine aus­gie­bi­ge Wein­par­ty mit zwei Kol­le­gin­nen beschreibt, die in deren Ver­lauf ein Ent­klei­dungs­be­dürf­nis anwan­delt? Man muss des­we­gen nicht gleich vor­pre­schen wie Jero­fe­jews Mut­ter: »›Wie kön­nen Sie nur so einen Schwein­kram über­set­zen?‹, frag­te Mama mei­ne treue deut­sche Über­set­ze­rin Bea­te.« (Der Über­set­ze­rin Bea­te Rausch gebührt übri­gens gro­ßes Lob für ihre Arbeit, einen sol­chen Text ange­mes­sen ins Deut­sche zu über­tra­gen, das ist wirk­lich hohe Kunst!) Jero­fe­jew revan­chiert sich mit der aus­gie­bi­gen Schil­de­rung der Ver­füh­rung sei­ner Mut­ter durch den sei­ner­zei­ti­gen »Pop­star« der rus­si­schen Lite­ra­tur, Jew­ge­nij Jew­tu­schen­ko. Die mag so statt­ge­fun­den haben oder nicht – es drängt sich oft der Ein­druck auf, dass Jero­fe­jew frei­ge­big da erfin­det, wo er meint, die Rea­li­tät über­tref­fen zu müs­sen. Den­noch: Sein kaum zu bän­di­gen­der Impe­tus, aus allem einen sexu­el­len Gehalt zu extra­hie­ren, ist oft stö­rend. Er erin­nert dann an jene ner­vi­gen Zeit­ge­nos­sen, die noch aus dem gleich­gül­tig­sten Satz Sexan­spie­lun­gen pressen.

Doch wer an rus­si­scher Lite­ra­tur oder der Lite­ra­tur der Sowjet­uni­on inter­es­siert ist, der wird hier auf vie­len Sei­ten auch Span­nen­des fin­den, etwa über Juri Trif­o­now oder den genann­ten Jew­tu­schen­ko. Vik­tor Jero­fe­jew lässt die Crè­me de la Crè­me der rus­si­schen und sowje­ti­schen Lite­ra­tur auf­tre­ten, und zwar so, wie sich alle die Wys­soz­ki, Bitow, Axjo­now und vie­le ande­re wich­ti­ge Schrift­stel­ler in des Autors Kopf spie­geln. Nur sei­ne Ver­wechs­lung mit Wene­dikt Jero­fe­jew, dem Autor der irra­tio­na­len Sauf­tour »Die Rei­se nach Petusch­ki«, scheint er nicht gut weg­stecken zu können.

Zwar mögen die Kol­le­gen mit­un­ter mit Hoch­mut betrach­tet wer­den, zwar mag nicht alles sich hun­dert­pro­zen­tig so ereig­net haben, wie es geschil­dert wird: Die gei­sti­ge und poli­ti­sche Atmo­sphä­re der Sowjet­uni­on, die Ver­däch­ti­gun­gen, die Angst, die Anbie­de­rei, die im Grun­de kom­man­dier­te Kul­tur­po­li­tik und die Ver­su­che, die­se zu unter­lau­fen – das wird treff­lich und nicht ohne Humor geschil­dert. Die­se Pas­sa­gen des zer­klüf­tet auf­ge­bau­ten Wer­kes loh­nen die Lek­tü­re und erset­zen mit ihrer Unmit­tel­bar­keit man­che Lite­ra­tur­ge­schich­te. Denn in die See­le sei­ner »Prot­ago­ni­sten« zu schau­en, das ver­mag Jero­fe­jew durch­aus. So dürf­ten auch vie­le Aus­sa­gen über den »Gro­ßen Gop­nik« der Wahr­heit nahe­kom­men. Aber das wer­den erst künf­ti­ge Zei­ten erwei­sen und lehren.

Anzie­hend wird der Text immer da, wo die Selbst­ge­fäl­lig­keit, auch die Bes­ser­wis­se­rei unter­blei­ben, und Hilf­lo­sig­keit, etwa ange­sichts des Krie­ges gegen die Ukrai­ne, durch­klingt. Denn das Schlim­me ist, dass nicht, wie im Klap­pen­text behaup­tet, die Fra­ge obwal­tet, wie es nur so weit kom­men konn­te, son­dern dass sich einem der Ein­druck auf­drängt, dass es gar nicht anders kom­men konn­te in einem Land, wo ein »Gro­ßer Gop­nik« sich sozu­sa­gen als Alter­na­ti­ve zum Durch­ein­an­der, dem Suchen der Jel­zin-Zeit (»Jel­zin, der auch nicht so recht wuss­te, was anfan­gen mit der Frei­heit«) prä­sen­tie­ren und durch­set­zen konn­te. Jero­fe­jews, einem ande­ren in den Mund geleg­ter, Befund lau­tet: »Russ­land hat alles über­lebt. (…) Die Revo­lu­ti­on, Sta­lin, Bre­sch­new, die Pere­stroi­ka. Den betrun­ke­nen Jel­zin. (…) Aber der Gro­ße Gop­nik hat ihm den Rest gege­ben.« Doch: Auch ein klu­ger Schrift­stel­ler kann sich irren. Zwar ist der Gop­nik groß, aber das muss die Hoff­nung nicht klein machen.

Vik­tor Jero­fe­jew: Der Gro­ße Gop­nik. Roman. Aus dem Rus­si­schen von Bea­te Rausch, Matthes & Seitz, Ber­lin 2023, 624 S., 28 €.