»Groß« macht sich gut in Roman- und Filmtiteln, zumal sich ohne großen Aufwand mit diesem Wort die gegenteilige Botschaft transportieren lässt. So auch in Viktor Jerofejews Roman (wenn man dieses erzählerische Sammelsurium denn so nennen möchte) – denn »groß« und »Gopnik« schließen sich aus. Der Gopnik nämlich ist ein halbstarker Rowdy, ein Hinterhofbandit, ein Banause sowieso, der es vielleicht in einem Moskauer Milieu zu Ansehen bringt. Aber in Jerofejews Fantasiestück steigt er bis in den Kreml auf, gelangt an die Staatsspitze und richtet sich dort auf lange ein: »Im Jahre 2007 beendete der Große Gopnik die zweite Amtszeit seiner märchenhaften Regierung (…). Es war klar, dass der Große Gopnik niemals einfach so die Macht abgeben würde. Doch nach der damaligen sehr wohl demokratischen Verfassung hätte er den Kreml verlassen müssen.«
Damit ist klar, wer gemeint ist. Das Gruselige ist nun, dass keinesfalls nur Fantasieerzeugnisse präsentiert werden. Denn es spricht jemand, der es wissen muss. Jerofejew stammt aus dem Dunstkreis der Sowjetmacht, sein Vater war Französisch-Dolmetscher, Übersetzer Stalins, auch Kulturattaché, die Familie lebte viele Jahre in Frankreich. Es sind also die Lebensprägungen dieses Wiktor Wladimirowitsch nicht zu vergleichen mit denen eines Wiktor Wladimirowitsch, der vielleicht aus der russischen Provinz kommt. Denn Wiktor Wladimirowitsch Jerofejew gehörte dazu und kann jetzt aus dem Vollen schöpfen. Herkunft aus dem Funktionärs- und Funktionärinnenmilieu und nachfolgende Abtrünnigkeit haben sich im Schriftstellergewerbe immer gut gemacht.
Zwar verlor sein Vater wegen eines aufmüpfigen Textes des Sohnes seine hochrangige Stelle – aber man lebte gut und kultiviert, weit über dem Niveau des »Durchschnittsrussen«. Möglicherweise speist sich die Arroganz seines Urteils, zum Beispiel über Schriftstellerkolleginnen oder -kollegen, auch aus dieser Quelle. Womit nicht gesagt sein soll, dass er unrecht hätte, aber es schmeckt durch, für wie gediegen sich Jerofejew hält. Rüpelhaftigkeit, von der auch sein Umgang mit Frauen geprägt zu sein scheint, kann er hauptsächlich bei anderen feststellen, vor allem natürlich beim »Großen Gopnik«.
Ich glaube, es wäre besser gewesen, sich im Klappentext des Wortes »Proll« zu enthalten. Zum einen, weil es dem Gemeinten einen Teil seiner Gefährlichkeit und Brutalität nimmt. Zum anderen, weil der »Proll«, selbst der DUDEN macht es so, die Vorstellung des Typen mit der Bierdose in der Hand evoziert. Und wo ist dann der Unterschied zum Schriftsteller, der genüsslich eine ausgiebige Weinparty mit zwei Kolleginnen beschreibt, die in deren Verlauf ein Entkleidungsbedürfnis anwandelt? Man muss deswegen nicht gleich vorpreschen wie Jerofejews Mutter: »›Wie können Sie nur so einen Schweinkram übersetzen?‹, fragte Mama meine treue deutsche Übersetzerin Beate.« (Der Übersetzerin Beate Rausch gebührt übrigens großes Lob für ihre Arbeit, einen solchen Text angemessen ins Deutsche zu übertragen, das ist wirklich hohe Kunst!) Jerofejew revanchiert sich mit der ausgiebigen Schilderung der Verführung seiner Mutter durch den seinerzeitigen »Popstar« der russischen Literatur, Jewgenij Jewtuschenko. Die mag so stattgefunden haben oder nicht – es drängt sich oft der Eindruck auf, dass Jerofejew freigebig da erfindet, wo er meint, die Realität übertreffen zu müssen. Dennoch: Sein kaum zu bändigender Impetus, aus allem einen sexuellen Gehalt zu extrahieren, ist oft störend. Er erinnert dann an jene nervigen Zeitgenossen, die noch aus dem gleichgültigsten Satz Sexanspielungen pressen.
Doch wer an russischer Literatur oder der Literatur der Sowjetunion interessiert ist, der wird hier auf vielen Seiten auch Spannendes finden, etwa über Juri Trifonow oder den genannten Jewtuschenko. Viktor Jerofejew lässt die Crème de la Crème der russischen und sowjetischen Literatur auftreten, und zwar so, wie sich alle die Wyssozki, Bitow, Axjonow und viele andere wichtige Schriftsteller in des Autors Kopf spiegeln. Nur seine Verwechslung mit Wenedikt Jerofejew, dem Autor der irrationalen Sauftour »Die Reise nach Petuschki«, scheint er nicht gut wegstecken zu können.
Zwar mögen die Kollegen mitunter mit Hochmut betrachtet werden, zwar mag nicht alles sich hundertprozentig so ereignet haben, wie es geschildert wird: Die geistige und politische Atmosphäre der Sowjetunion, die Verdächtigungen, die Angst, die Anbiederei, die im Grunde kommandierte Kulturpolitik und die Versuche, diese zu unterlaufen – das wird trefflich und nicht ohne Humor geschildert. Diese Passagen des zerklüftet aufgebauten Werkes lohnen die Lektüre und ersetzen mit ihrer Unmittelbarkeit manche Literaturgeschichte. Denn in die Seele seiner »Protagonisten« zu schauen, das vermag Jerofejew durchaus. So dürften auch viele Aussagen über den »Großen Gopnik« der Wahrheit nahekommen. Aber das werden erst künftige Zeiten erweisen und lehren.
Anziehend wird der Text immer da, wo die Selbstgefälligkeit, auch die Besserwisserei unterbleiben, und Hilflosigkeit, etwa angesichts des Krieges gegen die Ukraine, durchklingt. Denn das Schlimme ist, dass nicht, wie im Klappentext behauptet, die Frage obwaltet, wie es nur so weit kommen konnte, sondern dass sich einem der Eindruck aufdrängt, dass es gar nicht anders kommen konnte in einem Land, wo ein »Großer Gopnik« sich sozusagen als Alternative zum Durcheinander, dem Suchen der Jelzin-Zeit (»Jelzin, der auch nicht so recht wusste, was anfangen mit der Freiheit«) präsentieren und durchsetzen konnte. Jerofejews, einem anderen in den Mund gelegter, Befund lautet: »Russland hat alles überlebt. (…) Die Revolution, Stalin, Breschnew, die Perestroika. Den betrunkenen Jelzin. (…) Aber der Große Gopnik hat ihm den Rest gegeben.« Doch: Auch ein kluger Schriftsteller kann sich irren. Zwar ist der Gopnik groß, aber das muss die Hoffnung nicht klein machen.
Viktor Jerofejew: Der Große Gopnik. Roman. Aus dem Russischen von Beate Rausch, Matthes & Seitz, Berlin 2023, 624 S., 28 €.