Schon mal etwas von Krasny Bereg gehört? Vermutlich nicht. Das Dorf liegt etwa zweihundert Kilometer südöstlich von Minsk. Es wurde am 5. Juli 1941 von der faschistischen Wehrmacht überrannt, zwei Wochen nach dem Überfall auf die Sowjetunion. Im dortigen Gutshaus wurde ein Lazarett installiert. Deutsche Soldaten, die – wie ihre Heerführer – nicht nur vom heftigen Widerstand der Roten Armee überrascht, sondern auch von deren Kugeln getroffen worden waren, sollten dort wieder kriegstüchtig gemacht werden. Für Operationen benötigten die Feldärzte Blut. Und da man das Blut von Kindern für besonders wertvoll hielt, fing man sie in der Umgebung ein und nahm ihnen den Lebenssaft. 1943, nach Stalingrad, brauchte man immer mehr davon, weshalb man im Ort ein Lager einrichtete. Dort wurden junge Menschen zwischen acht und fünfzehn Jahren interniert, vorzugsweise Mädchen mit der Blutgruppe A positiv. Das war die unter deutschen Soldaten am häufigsten verbreitete Blutgruppe. Und auch die mit Blutgruppe AB positiv konnten damit versorgt werden.
Dieses Kinder-KZ war die Blutreserve der »sauberen« Wehrmacht. Die Kinder wurden in Krasny Bereg ausgepresst, ausgesaugt, und anschließend wie Abfall entsorgt: Ihre Leichen wurden verbrannt. Es heißt, dass mindestens zweitausend Mädchen und Jungen als »Donorkinder« in Krasny Bereg starben.
Die medizinisch konnotierte Bezeichnung – »donor« steht für Blut- und Organspende – lässt kaum die Barbarei erahnen, die sich in diesem belorussischen Dorf zugetragen hat. Jahrelang. Viele der aus verschiedenen Landesteilen der Sowjetunion zusammengeraubten Kinder wurden auch nach Deutschland deportiert, wo sie Zwangsarbeit leisten mussten. So weiß man heute, dass etwa zwölftausend junge Menschen durch dieses Lager gingen. Im Unterschied zu Katja Susanina aus Ljosna, einem Rayon im Osten von Belarus, weiß man aber nicht einmal ihre Namen.
Nachdem Katjas Mutter erschlagen worden war, weil sie über ihren Mann – der vermutlich bei den Partisanen war – beharrlich geschwiegen hatte, war die vierzehnjährige Susanina nach Krasny Bereg verschleppt worden. Sie versuchte zwei Mal aus dem Lager zu fliehen, wurde jedoch von Kollaborateuren eingefangen. Als sie daraufhin ins Reich verbracht werden sollte, legte sie Hand an sich. Sie wolle, wie sie ihrem Vater in einem Abschiedsbrief am 12. März 1943 mitteilte, nicht in der »verfluchten Hölle« sterben, sondern auf heimischem Boden. »Leb wohl, gutes Väterchen. Ich gehe, um den ewigen Schlaf zu finden«, endete ihre Nachricht.
In Krasny Bereg erinnert seit 2007 eine Gedenkstätte an dieses Kinder-KZ. Sie wurde von Leonid Lewin (1931-2014) entworfen, einem namhaften Architekten, seit 1991 auch Vorsitzender des Verbandes der jüdischen Gemeinden und Organisationen in Belarus. Von ihm stammen mehrere bedeutende Mahnmale für die Opfer von Völkermord und Antisemitismus in Belarus, Russland, in der Ukraine und in Usbekistan. Dieses hier besticht durch seine Schlichtheit. Weiße Blöcke, die nackte Unschuld, Schulbänken und -tischen gleich, aufgereiht wie in einem Klassenzimmer. Leer. Zum Gedenkkomplex auf dem Gelände des Lagers, gesäumt von einem Hain aus Apfelbäumen, gehört auch eine Bronzefigur: ein ausgemergeltes Mädchen reckt seine dünnen Ärmchen klagend in den Himmel …
Dieser Ort und seine Geschichte kamen am Jahrestag des Überfalls Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion zur Sprache. Eingeladen zu einer Zusammenkunft anlässlich des 22. Juni hatte die Tageszeitung junge Welt. Die Anregung für die Veranstaltung in der Berliner Maigalerie hatte Sevim Dagdelen geliefert, die außenpolitische Sprecherin des BSW. Sie hielt es für angezeigt, der Kriegsbesoffenheit der Regierenden mit der Erinnerung an die Politik ihrer Vorgänger zu begegnen.
Dieser Tenor beherrschte denn auch die Ausführungen der anderen Redner. Der langjährige jW-Chefredakteur Arnold Schölzel bekannte, bis dato noch nie etwas vom Kinder-KZ in Krasny Bereg gehört zu haben. Der Journalist Hartmut Sommerschuh berichtete über das größte Lager für sowjetische Kriegsgefangene in Deutschland, über Zeithain, wo Zehntausende Rotarmisten an Unterernährung und Krankheiten zugrunde gegangen waren. Er erinnerte daran, dass – nächst den Juden – Sowjetsoldaten die größte Opfergruppe Nazideutschlands darstellten. Von den 5,7 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen wurden weit mehr als die Hälfte systematisch zu Tode gebracht. Man geht von mindestens 3,3 Millionen aus. Und Konstantin Pivovarov, Vorsitzender des Vereins »Integral«, machte darauf aufmerksam, dass es ein vergleichbares Kinder-KZ auch im lettischen Salaspils gegeben hatte, wo ebenfalls grausame medizinische und chemische Experimente vorgenommen worden waren. Mit Verweis auf ausschließlich westliche Quellen gab er an, dass dem Genozid an den Völkern der Sowjetunion – »ein planvoller Vernichtungskrieg auf Basis rassistischer Ideologie« – vierzehn Millionen Menschen zum Opfer gefallen seien: durch Zwangsarbeit, Hunger (in Lagern und belagerten Städten, zum Beispiel Leningrad mit einer Million Toten) und Mord (etwa aufgrund des Bandenbekämpfungserlasses vom 16. Juli 1941, mit dem Partisanen wie Zivilisten sofort erschossen werden durften, sofern sie im Verdacht der Gegenwehr standen).
Warum?
Ein Foto an der Stirnseite zeigte lachende Männer in deutscher Uniform hinter einer Schultafel, die sie am 2. Oktober 1941 in die Herbstsonne getragen und darauf mit Kreide geschrieben hatten: »Der Russe muss sterben, damit wir leben. Die stramme 6. Kompanie.«
Beklemmendes Schweigen im Saal.