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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Bis zum letzten Tropfen

Schon mal etwas von Kras­ny Bereg gehört? Ver­mut­lich nicht. Das Dorf liegt etwa zwei­hun­dert Kilo­me­ter süd­öst­lich von Minsk. Es wur­de am 5. Juli 1941 von der faschi­sti­schen Wehr­macht über­rannt, zwei Wochen nach dem Über­fall auf die Sowjet­uni­on. Im dor­ti­gen Guts­haus wur­de ein Laza­rett instal­liert. Deut­sche Sol­da­ten, die – wie ihre Heer­füh­rer – nicht nur vom hef­ti­gen Wider­stand der Roten Armee über­rascht, son­dern auch von deren Kugeln getrof­fen wor­den waren, soll­ten dort wie­der kriegs­tüch­tig gemacht wer­den. Für Ope­ra­tio­nen benö­tig­ten die Feld­ärz­te Blut. Und da man das Blut von Kin­dern für beson­ders wert­voll hielt, fing man sie in der Umge­bung ein und nahm ihnen den Lebens­saft. 1943, nach Sta­lin­grad, brauch­te man immer mehr davon, wes­halb man im Ort ein Lager ein­rich­te­te. Dort wur­den jun­ge Men­schen zwi­schen acht und fünf­zehn Jah­ren inter­niert, vor­zugs­wei­se Mäd­chen mit der Blut­grup­pe A posi­tiv. Das war die unter deut­schen Sol­da­ten am häu­fig­sten ver­brei­te­te Blut­grup­pe. Und auch die mit Blut­grup­pe AB posi­tiv konn­ten damit ver­sorgt werden.

Die­ses Kin­der-KZ war die Blut­re­ser­ve der »sau­be­ren« Wehr­macht. Die Kin­der wur­den in Kras­ny Bereg aus­ge­presst, aus­ge­saugt, und anschlie­ßend wie Abfall ent­sorgt: Ihre Lei­chen wur­den ver­brannt. Es heißt, dass min­de­stens zwei­tau­send Mäd­chen und Jun­gen als »Donor­kin­der« in Kras­ny Bereg starben.

Die medi­zi­nisch kon­no­tier­te Bezeich­nung – »donor« steht für Blut- und Organ­spen­de – lässt kaum die Bar­ba­rei erah­nen, die sich in die­sem bel­o­rus­si­schen Dorf zuge­tra­gen hat. Jah­re­lang. Vie­le der aus ver­schie­de­nen Lan­des­tei­len der Sowjet­uni­on zusam­men­ge­raub­ten Kin­der wur­den auch nach Deutsch­land depor­tiert, wo sie Zwangs­ar­beit lei­sten muss­ten. So weiß man heu­te, dass etwa zwölf­tau­send jun­ge Men­schen durch die­ses Lager gin­gen. Im Unter­schied zu Kat­ja Susa­ni­na aus Ljos­na, einem Ray­on im Osten von Bela­rus, weiß man aber nicht ein­mal ihre Namen.

Nach­dem Kat­jas Mut­ter erschla­gen wor­den war, weil sie über ihren Mann – der ver­mut­lich bei den Par­ti­sa­nen war – beharr­lich geschwie­gen hat­te, war die vier­zehn­jäh­ri­ge Susa­ni­na nach Kras­ny Bereg ver­schleppt wor­den. Sie ver­such­te zwei Mal aus dem Lager zu flie­hen, wur­de jedoch von Kol­la­bo­ra­teu­ren ein­ge­fan­gen. Als sie dar­auf­hin ins Reich ver­bracht wer­den soll­te, leg­te sie Hand an sich. Sie wol­le, wie sie ihrem Vater in einem Abschieds­brief am 12. März 1943 mit­teil­te, nicht in der »ver­fluch­ten Höl­le« ster­ben, son­dern auf hei­mi­schem Boden. »Leb wohl, gutes Väter­chen. Ich gehe, um den ewi­gen Schlaf zu fin­den«, ende­te ihre Nachricht.

In Kras­ny Bereg erin­nert seit 2007 eine Gedenk­stät­te an die­ses Kin­der-KZ. Sie wur­de von Leo­nid Lewin (1931-2014) ent­wor­fen, einem nam­haf­ten Archi­tek­ten, seit 1991 auch Vor­sit­zen­der des Ver­ban­des der jüdi­schen Gemein­den und Orga­ni­sa­tio­nen in Bela­rus. Von ihm stam­men meh­re­re bedeu­ten­de Mahn­ma­le für die Opfer von Völ­ker­mord und Anti­se­mi­tis­mus in Bela­rus, Russ­land, in der Ukrai­ne und in Usbe­ki­stan. Die­ses hier besticht durch sei­ne Schlicht­heit. Wei­ße Blöcke, die nack­te Unschuld, Schul­bän­ken und -tischen gleich, auf­ge­reiht wie in einem Klas­sen­zim­mer. Leer. Zum Gedenk­kom­plex auf dem Gelän­de des Lagers, gesäumt von einem Hain aus Apfel­bäu­men, gehört auch eine Bron­ze­fi­gur: ein aus­ge­mer­gel­tes Mäd­chen reckt sei­ne dün­nen Ärm­chen kla­gend in den Himmel …

Die­ser Ort und sei­ne Geschich­te kamen am Jah­res­tag des Über­falls Hit­ler­deutsch­lands auf die Sowjet­uni­on zur Spra­che. Ein­ge­la­den zu einer Zusam­men­kunft anläss­lich des 22. Juni hat­te die Tages­zei­tung jun­ge Welt. Die Anre­gung für die Ver­an­stal­tung in der Ber­li­ner Mai­ga­le­rie hat­te Sevim Dagde­len gelie­fert, die außen­po­li­ti­sche Spre­che­rin des BSW. Sie hielt es für ange­zeigt, der Kriegs­be­sof­fen­heit der Regie­ren­den mit der Erin­ne­rung an die Poli­tik ihrer Vor­gän­ger zu begegnen.

Die­ser Tenor beherrsch­te denn auch die Aus­füh­run­gen der ande­ren Red­ner. Der lang­jäh­ri­ge jW-Chef­re­dak­teur Arnold Schöl­zel bekann­te, bis dato noch nie etwas vom Kin­der-KZ in Kras­ny Bereg gehört zu haben. Der Jour­na­list Hart­mut Som­mer­schuh berich­te­te über das größ­te Lager für sowje­ti­sche Kriegs­ge­fan­ge­ne in Deutsch­land, über Zeit­hain, wo Zehn­tau­sen­de Rot­ar­mi­sten an Unter­ernäh­rung und Krank­hei­ten zugrun­de gegan­gen waren. Er erin­ner­te dar­an, dass – nächst den Juden – Sowjet­sol­da­ten die größ­te Opfer­grup­pe Nazi­deutsch­lands dar­stell­ten. Von den 5,7 Mil­lio­nen sowje­ti­schen Kriegs­ge­fan­ge­nen wur­den weit mehr als die Hälf­te syste­ma­tisch zu Tode gebracht. Man geht von min­de­stens 3,3 Mil­lio­nen aus. Und Kon­stan­tin Pivo­va­rov, Vor­sit­zen­der des Ver­eins »Inte­gral«, mach­te dar­auf auf­merk­sam, dass es ein ver­gleich­ba­res Kin­der-KZ auch im let­ti­schen Sal­as­pils gege­ben hat­te, wo eben­falls grau­sa­me medi­zi­ni­sche und che­mi­sche Expe­ri­men­te vor­ge­nom­men wor­den waren. Mit Ver­weis auf aus­schließ­lich west­li­che Quel­len gab er an, dass dem Geno­zid an den Völ­kern der Sowjet­uni­on – »ein plan­vol­ler Ver­nich­tungs­krieg auf Basis ras­si­sti­scher Ideo­lo­gie« – vier­zehn Mil­lio­nen Men­schen zum Opfer gefal­len sei­en: durch Zwangs­ar­beit, Hun­ger (in Lagern und bela­ger­ten Städ­ten, zum Bei­spiel Lenin­grad mit einer Mil­li­on Toten) und Mord (etwa auf­grund des Ban­den­be­kämp­fungs­er­las­ses vom 16. Juli 1941, mit dem Par­ti­sa­nen wie Zivi­li­sten sofort erschos­sen wer­den durf­ten, sofern sie im Ver­dacht der Gegen­wehr standen).

War­um?

Ein Foto an der Stirn­sei­te zeig­te lachen­de Män­ner in deut­scher Uni­form hin­ter einer Schul­ta­fel, die sie am 2. Okto­ber 1941 in die Herbst­son­ne getra­gen und dar­auf mit Krei­de geschrie­ben hat­ten: »Der Rus­se muss ster­ben, damit wir leben. Die stram­me 6. Kompanie.«

Beklem­men­des Schwei­gen im Saal.