Was sich in Italien seit dem 22. September entwickelt hat, war noch wenige Monate zuvor nicht absehbar: eine auf mehrere Millionen anwachsende Menschenmenge, die sich zuerst am 22.9. auf Initiative der Basisgewerkschaften (USB) und in der darauffolgenden Woche spontan von unten aus unzähligen Bürgerinitiativen und Gruppen bildete und am 3. Oktober mit dem auch von der CGIL ausgerufenen Generalstreik anwuchs auf über 2 Mio. Demonstranten in 100 Städten des Landes. Am 4. Oktober brachte ein Aufruf palästinensischer Basisorganisationen eine weitere Million Italiener nach Rom.
Zwar gab es seit langem schon lokale Protestaktionen gegen die lautstarke offizielle Stille gegenüber den täglich in den Medien vorgeführten Horrorbildern der Zerstörungen und Verwüstungen im Gazastreifen. Zerschossene Häuser und Menschen hatte man ja bereits seit einem Jahr tagtäglich in der Ukraine gesehen – aber was sich in Gaza abzeichnete, war dann doch schwerer zu ertragen, und das Leid der Opfer legte sich wie eine bleierne Decke über alles.
Die bei Protesten bereits vorgebrachten Forderungen nach einem Stopp der militärischen Zusammenarbeit mit und der Waffenlieferungen an Israel waren ungehört verhallt – die Regierung stand fest an der Seite Israels –, gut und böse waren unumstößlich festgelegt. Wer daran zweifelte, war Antisemit.
Doch die Realität ist nie schwarz-weiß sondern komplex, und die meisten Menschen wissen das. Als zunehmend wiederholte Vertreibungen, Schüsse auf das Rote Kreuz, bzw. die Zerstörung aller medizinischen und existenziellen Infrastrukturen die Bevölkerung Gazas bis in den Hungertod zwangen, war es für viele nicht mehr möglich, das einfach hinzunehmen. Auch die Nachrichten aus dem Westjordanland, wo die illegale Siedlungspolitik der Israelis brutal militärisch flankiert wurde, provozierten zunehmende Empörung.
Es war dann im August die Nachricht von der Konstituierung einer privaten Boots-Flotte von überwiegend jungen Menschen aus insgesamt 44 Ländern, die ein politisches Signal setzen und Hilfsgüter an die Küste Gazas bringen wollten – dabei die seit 2007 durch Israel verhängte Blockade des palästinensischen Seegebietes durchbrechend. Denn diese war und ist völkerrechtlich illegitim – andere Versuche, sie zu durchbrechen, waren in der Vergangenheit am Widerstand Israels gescheitert, doch nun sollte noch einmal versucht werden, die Welt politisch aufzuwecken.
Seit Ende August gab es in Italien vielerorts Sammelinitiativen für Geld und Lebensmittel nach Gaza, zur Unterstützung der insgesamt knapp 50 Schiffe und Boote, die an verschiedenen Häfen im Mittelmeer im September in See stechen sollten. Hafenarbeiter in Genua, Neapel, Livorno, Ravenna und Venedig kündigten ihrerseits an, Waffenexporte zu boykottieren und sogar die Häfen zu blockieren, falls die Global Sumud Flotilla vom israelischen Militär blockiert werden sollte, womit ja zu rechnen war. Und sie wurde blockiert: Nach ersten Vorwarnungen mit Drohnen und Wasserwerfern wurden in der Nacht des 2. Oktober dann die meisten Boote in Beschlag genommen und die insgesamt fast 500 Besatzungsmitglieder im israelischen Hafen Aschdod vorübergehend inhaftiert.
Die Menschenströme, die Jung und Alt in den letzten Tagen in Italien friedlich bei sonnigem Wetter zusammengeführt haben, waren auch ein Aufbruch aus der ohnmächtig-lähmenden Stille, die sich seit zwei Jahren über die rechte Meloni-Regierung gelegt hat, die trotz leerer Kassen die Rüstungspolitik der Nato bisher zumindest verbal unterstützt, sich der Trump-Unmoral unterordnet und demokratische Spielräume entsprechend einengt.
Auch von daher wetterte die Regierung gegen diesen großen politischen Generalstreik vom 3. Oktober, der nach ihrer Lesart nicht rechtzeitig angesagt war – und droht mit Sanktionen. Entsprechend hoben auch die regierungstreuen Medien die verschwindend wenigen Gewaltübergriffe hervor, die am Ende der Demos an einigen Orten durch vermummte Schlägertypen provoziert wurden – ein nur allzu bekanntes Szenario aus alten Zeiten.
Man darf gespannt sein, was sich aus diesem Aufbruch so vieler Menschen in Italien entwickelt, die sich jenseits der politischen Institutionen und Parteien zusammenfanden. Man atmet freier in diesen Tagen.