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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Cogito ergo Sumud

Was sich in Ita­li­en seit dem 22. Sep­tem­ber ent­wickelt hat, war noch weni­ge Mona­te zuvor nicht abseh­bar: eine auf meh­re­re Mil­lio­nen anwach­sen­de Men­schen­men­ge, die sich zuerst am 22.9. auf Initia­ti­ve der Basis­ge­werk­schaf­ten (USB) und in der dar­auf­fol­gen­den Woche spon­tan von unten aus unzäh­li­gen Bür­ger­initia­ti­ven und Grup­pen bil­de­te und am 3. Okto­ber mit dem auch von der CGIL aus­ge­ru­fe­nen Gene­ral­streik anwuchs auf über 2 Mio. Demon­stran­ten in 100 Städ­ten des Lan­des. Am 4. Okto­ber brach­te ein Auf­ruf palä­sti­nen­si­scher Basis­or­ga­ni­sa­tio­nen eine wei­te­re Mil­li­on Ita­lie­ner nach Rom.

Zwar gab es seit lan­gem schon loka­le Pro­test­ak­tio­nen gegen die laut­star­ke offi­zi­el­le Stil­le gegen­über den täg­lich in den Medi­en vor­ge­führ­ten Hor­ror­bil­dern der Zer­stö­run­gen und Ver­wü­stun­gen im Gaza­strei­fen. Zer­schos­se­ne Häu­ser und Men­schen hat­te man ja bereits seit einem Jahr tag­täg­lich in der Ukrai­ne gese­hen – aber was sich in Gaza abzeich­ne­te, war dann doch schwe­rer zu ertra­gen, und das Leid der Opfer leg­te sich wie eine blei­er­ne Decke über alles.

Die bei Pro­te­sten bereits vor­ge­brach­ten For­de­run­gen nach einem Stopp der mili­tä­ri­schen Zusam­men­ar­beit mit und der Waf­fen­lie­fe­run­gen an Isra­el waren unge­hört ver­hallt – die Regie­rung stand fest an der Sei­te Isra­els –, gut und böse waren unum­stöß­lich fest­ge­legt. Wer dar­an zwei­fel­te, war Antisemit.

Doch die Rea­li­tät ist nie schwarz-weiß son­dern kom­plex, und die mei­sten Men­schen wis­sen das. Als zuneh­mend wie­der­hol­te Ver­trei­bun­gen, Schüs­se auf das Rote Kreuz, bzw. die Zer­stö­rung aller medi­zi­ni­schen und exi­sten­zi­el­len Infra­struk­tu­ren die Bevöl­ke­rung Gazas bis in den Hun­ger­tod zwan­gen, war es für vie­le nicht mehr mög­lich, das ein­fach hin­zu­neh­men. Auch die Nach­rich­ten aus dem West­jor­dan­land, wo die ille­ga­le Sied­lungs­po­li­tik der Israe­lis bru­tal mili­tä­risch flan­kiert wur­de, pro­vo­zier­ten zuneh­men­de Empörung.

Es war dann im August die Nach­richt von der Kon­sti­tu­ie­rung einer pri­va­ten Boots-Flot­te von über­wie­gend jun­gen Men­schen aus ins­ge­samt 44 Län­dern, die ein poli­ti­sches Signal set­zen und Hilfs­gü­ter an die Küste Gazas brin­gen woll­ten – dabei die seit 2007 durch Isra­el ver­häng­te Blocka­de des palä­sti­nen­si­schen See­ge­bie­tes durch­bre­chend. Denn die­se war und ist völ­ker­recht­lich ille­gi­tim – ande­re Ver­su­che, sie zu durch­bre­chen, waren in der Ver­gan­gen­heit am Wider­stand Isra­els geschei­tert, doch nun soll­te noch ein­mal ver­sucht wer­den, die Welt poli­tisch aufzuwecken.

Seit Ende August gab es in Ita­li­en vie­ler­orts Sam­mel­in­itia­ti­ven für Geld und Lebens­mit­tel nach Gaza, zur Unter­stüt­zung der ins­ge­samt knapp 50 Schif­fe und Boo­te, die an ver­schie­de­nen Häfen im Mit­tel­meer im Sep­tem­ber in See ste­chen soll­ten. Hafen­ar­bei­ter in Genua, Nea­pel, Livor­no, Raven­na und Vene­dig kün­dig­ten ihrer­seits an, Waf­fen­ex­por­te zu boy­kot­tie­ren und sogar die Häfen zu blockie­ren, falls die Glo­bal Sumud Flot­il­la vom israe­li­schen Mili­tär blockiert wer­den soll­te, womit ja zu rech­nen war. Und sie wur­de blockiert: Nach ersten Vor­war­nun­gen mit Droh­nen und Was­ser­wer­fern wur­den in der Nacht des 2. Okto­ber dann die mei­sten Boo­te in Beschlag genom­men und die ins­ge­samt fast 500 Besat­zungs­mit­glie­der im israe­li­schen Hafen Asch­dod vor­über­ge­hend inhaftiert.

Die Men­schen­strö­me, die Jung und Alt in den letz­ten Tagen in Ita­li­en fried­lich bei son­ni­gem Wet­ter zusam­men­ge­führt haben, waren auch ein Auf­bruch aus der ohn­mäch­tig-läh­men­den Stil­le, die sich seit zwei Jah­ren über die rech­te Melo­ni-Regie­rung gelegt hat, die trotz lee­rer Kas­sen die Rüstungs­po­li­tik der Nato bis­her zumin­dest ver­bal unter­stützt, sich der Trump-Unmo­ral unter­ord­net und demo­kra­ti­sche Spiel­räu­me ent­spre­chend einengt.

Auch von daher wet­ter­te die Regie­rung gegen die­sen gro­ßen poli­ti­schen Gene­ral­streik vom 3. Okto­ber, der nach ihrer Les­art nicht recht­zei­tig ange­sagt war – und droht mit Sank­tio­nen. Ent­spre­chend hoben auch die regie­rungs­treu­en Medi­en die ver­schwin­dend weni­gen Gewalt­über­grif­fe her­vor, die am Ende der Demos an eini­gen Orten durch ver­mumm­te Schlä­ger­ty­pen pro­vo­ziert wur­den – ein nur all­zu bekann­tes Sze­na­rio aus alten Zeiten.

Man darf gespannt sein, was sich aus die­sem Auf­bruch so vie­ler Men­schen in Ita­li­en ent­wickelt, die sich jen­seits der poli­ti­schen Insti­tu­tio­nen und Par­tei­en zusam­men­fan­den. Man atmet frei­er in die­sen Tagen.