Das Programmheft kauft man sich am Theaterabend, das ist so ein Fehler, man wäre doch besser beraten, es schon vorher zu lesen.
Es enthält wichtige Informationen über das Stück, über die Protagonisten und viele schöne Bilder, deren Sinn mir nicht ganz einleuchten. Bilder erzeugen eine Stimmung oder erinnern an eine: meistens beides. Also erinnern wir uns an die Schauspieler, das Bühnenbild und das Theater-Erlebnis. Anstandshalber gibt es auch etwas Text: eine »Synopsis« zu Beginn, eine Zusammenfassung deren Autorin sich der Gefahr bewusst ist, dass diese in Phrasen enden kann. Ist das unvermeidlich? Nun, immerhin, wir müssen bei dem Stück »unmittelbar an heutige Kriegsschauplätze denken«. Tatsächlich: »unmittelbar« – oder sind diese nicht durch genau jenen medialen Apparat (vor-)produziert, der Kraus immer wieder herausforderte?
Die Schwierigkeit des Regisseurs und der Synoptikerin besteht darin, den Inhalt des Stückes in die heutige Zeit einzupassen, damit niemand auf die Idee verfällt, dass es in der Geschichte schon mehrere Angriffe auf Russland gab. Also der Kampf um den Platz an der Sonne des deutschen (und österreichischen) Imperialismus/Kolonialismus Vorgänger und Vorläufer hat.
Wie macht man jemanden unschädlich? Indem man ihn zeitlos macht, d. h. die »Inszenierung (spürt) die Zeitlosigkeit von Kraus‹ Text auf«. Damit ist der Regisseur aus der Schusslinie der westlichen revanchistischen Regierungen, da er ja nicht konkret den 1. Weltkrieg, sondern den Krieg im Allgemeinen beschreibt. Wer sagt da Frau Wontorra, die uns synopsiert, käme ohne Phrasen aus? Was nicht passt, und das geht leider mit allen, wird angepasst im »Resonanzraum«, wo das schwingt, was wir hören sollen.
Herr Parizek, lesen wir, bekam 2007 und 2008 den MAX-Preis der Allianz Kulturstiftung, also den Preis einer jener Stiftungen, die das Geld, das die Stifter ihren Arbeitern, Angestellten und Kunden »vorenthalten« haben – wir sind hier ganz milde – nun dazu verwenden, dass es so bleibt, wie es ist. Dazu dient auch die entsprechend zurechtgemachte »Kultur«.
Parizek verwandelt die politische Krise, die wir eher als Akkumulationskrise sehen und dabei nicht nur an Rosa Luxemburg denken, in ein moralisches Dilemma. Da sind wir dann ganz zufrieden, denn aus diesem Dilemma führen uns die Salzburger Festspiele sicher nicht heraus. Übrigens sind es bei P. die 140 Millionen »Russ.innen«, die in erster Linie »geschichtsvergessen« sind, dann aber doch wir auch noch! Das ist das Ziel, daran hilft er mit. Und dabei dürfen die einfachen Menschen nicht fehlen, die doch auch mitverantwortlich sind, sie bekommen dafür im Stück einen Dialekt verpasst! Krause ist so schuld wie Krupp … Also erlaube ich mir folgende Modernisierung:
Denn Krupp ist Monopolherr / Und Krause ist Prolet / Das ist der Klassengegensatz / Den niemand mehr versteht! (Mein Original stammt von der Münchner Songgruppe.)
Herr P. sorgt sich um seine slowakischen Kollegen, die Angriffen ausgesetzt sind, und nun sehen wir, wie schrecklich diese sind: »homophob, nationalistisch, pro-russisch, anti-europäisch, persönlich« (unklar, ob das eine auf- oder absteigende Rangfolge ist). Also sind wir auf der Seite der Guten und freuen uns darüber, dass FPÖ-Mitglieder die Premiere nicht besuchen. Ich meine aber, sie hätten den Besuch dringend nötig gehabt.
Dann gibt es noch einen Text von Frau Hirn (sic), der den Niedergang des schreibenden Menschen beklagt und den Siegeszug des »Homo insipiens«. Nur, woher kommt der? Dummheit, wusste früher der lesende Mensch, ist ein Sozialprodukt.
Lesen Sie Karl Kraus, möglichst genau und dann schauen Sie sich um, vielleicht sehen Sie irgendwo Karl Liebknecht.