Im Jahr 1948 wirbt das Waschmittel Persil mit einer Zeichentrick-Reklame, in der ein Marine-Matrose verdreckten Pinguinen die Bäuche wieder strahlend reinwäscht. Immer mehr Pinguine springen daraufhin an Bord und rufen im Chor »PERSIL – PERSIL – PERSIL!« Dabei recken sie die Flügel wie weit ausgestreckte Arme. Mit stolzgeschwellter Brust defilieren sie schließlich in Reih und Glied an Land, zu Marschmusik singend: »Ja, unsere weiße Weste verdanken wir PERSIL!« Die Deutschen haben ihren Humor also noch nicht verloren – oder schon wiedergefunden. In Fridolin Schleys Roman Die Verteidigung, in dem er die Ereignisse um den Nürnberger Wilhelmstraßen-Prozess in ein fesselndes Drama über Moral und Verantwortung verwandelt, taucht die Reklame für blütenweiße Wäsche kurz auf – als filmische Metapher, die veranschaulicht, wie die »Entnazifizierung« schon frühzeitig funktionierte.
Deutschland in den Nachkriegsjahren: Ein Volk müht sich, das zu vergessen, was es verschweigt – seine Bereitschaft zur Teilnahme an einem System der Barbarei. Geschichts-Verleugnung und Geschichts-Umdeutung haben Hochkonjunktur. So verlieren sich der Schrecken und die Einzigartigkeit, den der Zivilisationsbruch des Holocaust und die Vernichtungskriege bedeuten im kollektiven Verdrängen und Vergessen. Der nationalsozialistische Wahn wird zur austauschbaren Metapher des Bösen, persönliche Schuld relativiert. Hitler allein soll es gewesen sein, verantwortlich für das Verderben der Deutschen und ihre millionenfachen Verbrechen. Wenn nicht allein, dann allenfalls eine kleine verbrecherische Nazi-Elite und ihre Getreuen. Im Nachkriegs-Deutschland sind die einstigen Volksgenossen dabei, die »dunklen Jahre« von ihrem eigenen Erleben und Mit-Tun abzuspalten. Der kollektive Tenor: Wir wussten von nichts.
Dieser Mythologie wollen gerne viele glauben: den Legenden von der sauberen Wehrmacht, vom »Nichtwissen« und »Nicht-dabei-gewesen-Sein«. An Hitler war vor allem Hitler schuld, nicht wir. Dominiert wird die Nachkriegszeit von einem »kommunikativen Beschweigen« (Hermann Lübbe) der Schuldgefühle. Zu fest – und zu bequem – ist noch immer die Sichtweise von einer skrupellosen Machtelite und einem angeblich verführten Volk. So lässt sich persönliche Schuld gut entsorgen. Die Deutschen exkulpieren sich selbst. Sie vernichten Dokumente, verleugnen ihre Mit-Täterschaft und flüchten ins Vergessen. Zunächst benennen sie die Niederlage vom 8. Mai 1945 als »Zusammenbruch«. Danach erfinden sie den Begriff von der »Stunde null«, später ist die Rede vom »Neuanfang« – allesamt Begriffe, mit den Hitlers Deutsche versuchen, die begangen Verbrechen geschichtlich zu amputieren, das Grauen und die Tyrannei vergessen zu machen. Ein Volk auf der Flucht vor seiner Vergangenheit.
Der Berliner Historiker Götz Aly, geboren 1947, hat über diese Vergangenheit zahlreiche wichtige, wegweisende Publikationen vorgelegt, eindringliche und kluge Studien zur Geschichte des Nationalsozialismus, die Teile der Historiker-Zunft häufig zum Widerspruch herausforderten, darunter 2015 »Volk ohne Mitte« (2015), »Die Belasteten – ›Euthanasie‹ 1939-1945« sowie seine große Studie über die europäische Geschichte von Antisemitismus und Holocaust »Europa gegen die Juden 1880-1945«. Die Erforschung des Nationalsozialismus, des Holocaust und des Antisemitismus ist Alys Lebensthema. Mit dem Wissen jahrzehntelanger Quellenstudien und der umfassenden Kenntnis selbst abgelegener Detailforschung geht es ihm in seinen Arbeiten darum, die NS-Vergangenheit nicht zu »bewältigen«, sondern zu »vergegenwärtigen«.
Nun ist ein neues Buch von ihm erschienen. Das schwergewichtige Werk »Wie konnte das geschehen?« bringt es auf über 750 Seiten und darf als Opus magnum seines Schaffens gesehen werden. Im Mittelpunkt steht die Frage, was es mit diesem »Wie« auf sich hat. Für Aly gibt es darauf nicht eine, sondern mehrere Antworten. Die Erwartungen seiner Leserschaft dämpft er freilich gleich am Anfang des Buches mit dem Hinweis, dass seine Antworten allenfalls fragmentarisch sind. Was folgt, ist – das sei vorab resümiert – eine ebenso umfassende, wie detailreiche zeitgeschichtliche Wissens-Vermittlung. Oder nennen wir es Aufklärung, die dazu beitragen kann, die Voraussetzungen, Herrschaftspraktiken und Dynamiken der nationalsozialistischen Großverbrechen zu begreifen, zumindest besser zu verstehen. Aly erklärt, analysiert und beschreibt klug und erhellend, was schwer zu erklären ist: die massenhafte Gemeinschaft des Mitmachens und Wegsehens. Der kollektiven, rauschhaften Zustimmung zur Barbarei. Er verweist darauf, dass viele Deutsche, die bei diesen Verbrechen mitwirkten, keine NSDAP-Mitglieder waren, sie kamen »aus der Mitte der Gesellschaft«. Die Hitler-Regierung, die Staat und Gesellschaft zusehends verschmolz, konnte »auf Millionen von aktiven Unterstützern, von gleichgültigen, fungiblen Mitläufern und mehreren Hunderttausend an den Schreibtischen, in der Logistik und der Verwaltung sowie in den Stätten zur Menschenvernichtung tätigen Exekutoren« bauen, schreibt Aly.
Waren es nicht Hunderttausende Deutsche, die aktiv Menschheitsverbrechen ungeheuren Ausmaßes begingen, viele Millionen, die diese billigten oder geschehen ließen? Hitlers Deutsche, die Verfolgung und Ermordung von Juden, von Menschen mit Behinderung, von »Gemeinschaftsfremden«, (»A-Soziale«, wie Obdachlose u. a.), die Verhaftungen und Hinrichtungen von »Volksverrätern«, «Volksschädlingen« und »Wehrkraftzersetzern« gleichgültig hinnahmen, sich daran beteiligten, sich schuldig machten. Eine milieu-übergreifende Schweige-Gemeinschaft von Volk und Führung, die das Weitermachen bis zum Schluss ermöglichte.
Die Verbrechen und Mordtaten – ob an der Front oder im »Reich« – haben keine Außerirdischen verbrochen, die Mörder und Schergen waren ganz normale Menschen und kamen aus allen Schichten der Bevölkerung. Und Aly erinnert daran: Hitler war nicht über die Deutschen gekommen, die Deutschen waren zu Hitler gekommen. Sie hatten ihn gewählt, verehrt und bejubelt. Bald habe sich daraus eine identitäre Massenbewegung geformt, »die für das Ende erlittener Demütigungen eintrat, Denkmäler stürzte, Straßen umbenannte und ihre Anhänger als per se bessere Menschen qualifizierte, denen die Zukunft gehörte«.
Götz Aly weitet den Blick auf das gesamte Panorama nationalen Größenwahns und Barbarei. Viel- und tiefschichtig beschreibt er, was es mit dem »Wie?« auf sich hat, dass doch immer auch das »Wir« braucht – das große kollektive Einverständnis. Er entlarvt das »Wir haben nichts gewusst« nach 1945 als millionenfache Lebenslüge und zitiert als Fazit die Rede des (am 18. Oktober 2024 verstorbenen) israelischen Historikers Jehuda Bauer von 1998 vor dem Deutschen Bundestag: »Das Fürchterliche an der Shoah ist eben nicht, dass die Nazis unmenschlich waren, das Fürchterliche ist, dass sie menschlich waren – wie Sie und ich.« Wer begreifen möchte, »wie es möglich war«, warum so viele durchaus normale, moralisch gefestigt erscheinende Deutsche 1932 bis 1945 dem Wahn Hitlers folgten, der findet in Alys Buch erhellende Analysen, Beschreibungen und Belege.
Die Frage, die bleibt: Ist die heutige, die politisch und moralisch schuldlose Generation, nun endgültig entlassen aus der Auseinandersetzung mit der NS-Diktatur und seinem Erbe? Oder beginnt nicht die Verantwortung nachfolgender Generationen bei der Frage, ob sie sich erinnern will? Alys Buch kann als Plädoyer gegen jede Verharmlosung und Relativierung der NS-Vergangenheit gelesen werden, in einer Zeit, in der rechte Populisten und Parteien dafür sorgen, dass der Nationalismus seine Wiederkehr erlebt. Es geht um die Gegenwart der Vergangenheit – denn die nationalsozialistische Vergangenheit verjährt nicht. Und es gibt eine Verpflichtung: die des Erinnerns.
Götz Aly: Wie konnte das geschehen? Deutschland 1933 bis 1944, S. Fischer Verlag, Frankfurt 2025, 756 S., 34 €.