Der Bildhauer und Zeichner Gustav Seitz, der 25 Jahre – von Reisen und kriegsbedingten Unterbrechungen abgesehen – in Berlin verbrachte, war 1958 nach Hamburg gegangen, wo ihm dann nur noch ein gutes Lebensjahrzehnt blieb. Er, der an den Kunsthochschulen in West- wie in Ostberlin gearbeitet hatte und wegen seiner Ostkontakte im Westen scharf kritisiert wurde, repräsentierte die gegenständliche Bildhauerei in der DDR wie in der Bundesrepublik. Er ging vom Naturstudium aus und strebte in Respekt vor der klassischen Antike nach einer Verbindung von lebendiger Sinnlichkeit und zwangloser Form. Der französische Meister Aristide Maillol war sein dominierendes Vorbild. Doch während dessen Frauenakte als Animationen der Elemente verstanden werden können, ging es Seitz mehr um den einzigen »eigentlichen Moment« im kreatürlich-sinnlichen Leben des Menschen.
In einer Doppelausstellung konfrontiert das Gustav-Seitz-Museum im ostbrandenburgischen Trebnitz, das über den Nachlass des Bildhauers verfügt, Plastiken und Zeichnungen von Seitz mit solchen des Zeichners, Malers, Bildhauers, Musikers und Performers Helge Leiberg, der in Berlin und Werbig bei Seelow seinen Wohnsitz hat. Für Seitz war schon 1947 die lebensgroße Bronze »Eva« ein großer Wurf gewesen, ein Werk von archaischer Strenge wie leiblicher Lebendigkeit, das eine innere Haltung, eine Lebenseinstellung vorprägte. In ihrem verhaltenen Bewegungsmoment sollte sich dann die »Gefesselte« (1949) von der statuarischen »Eva« unterscheiden: Sie verharrt im Schritt, hat die Arme vor dem Körper übereinandergelegt und hält den Kopf leicht gesenkt – eine Passionsfigur, deren Fesselungsmotiv bisher vornehmlich in Männerakten gestaltet wurde. Mit jeweils anders verschränkten Gliedern seiner weiblichen Aktfiguren hat Seitz dann immer wieder neue plastische Kompositionen gefunden – in sinnlicher Ausstrahlung, in sich versunken oder in der traditionellen Würdeformel des Sitzens und Thronens. Das maßstabsetzende Käthe-Kollwitz-Denkmal, das die Künstlerin als vorgebeugt sitzende alte Frau, mit einer Zeichenmappe neben sich und der rechten Hand mit dem Kohlestift auf dem Schoß, zeigt, ist 1960 auf dem Käthe-Kollwitz-Platz in Berlin Prenzlauer Berg aufgestellt worden. Ganz anders der überlebensgroße, menetekelhaft wirkende »Geschlagene Catcher« (1966), ein in seiner Menschenwürde verletzter, zum Torso verstümmelter Kämpfer, der Täter und Opfer zugleich in einer Gestalt ist. Die monumentale Liegefigur »Große Danae« (1968) im Museumsgarten wiederum ist ganz Erwartung und Hingebung, spirituell ebenso wie sinnlich – die Glieder scheinen frei über dem Steinsockel zu schweben.
In seinem zeichnerischen wie plastischen Spätwerk scheint Seitz dann nahezu vom Eros überwältigt worden zu sein – er hat die menschliche Gestalt als Torso, als aufsteigende Vertikale, als männliche und weibliche Form, als Gegensätze wie sich ergänzende Paare, in der intimen Begegnung, als Idole geformt, auf die Brüste, die Hüfte und das Gesäß konzentriert, mit einem hohen Abstraktionsgrad, dabei die Grundformen Quadrat und Kreis, Kubus und Kugel bevorzugend. Die »Porta d’amore«, eine zweiflügelige Bronzetür am Museum für Kunst und Gewerbe in Hamburg, ist nach Seitz’ Tod 1969 von seinem Schüler Edgar Augustin selbständig aus vorhandenen kleinformatigen Reliefs zusammengefügt worden: 41 Akt-Darstellungen in einem ungeheuren Erfindungsreichtum, der auch höchst intime Posen miteinschließt.
Seitz war auch einer der großen Porträtisten seiner Zeit. Er hat viele Auftragsarbeiten für historische Persönlichkeiten, für Politiker und bedeutende Künstler seiner Gegenwart geschaffen. Bei manchen ist unser Bild von ihnen durch seine Arbeiten geprägt worden. Nachdem er im Auftrag der Ostberliner Akademie der Künste das Porträt von Heinrich Mann vollendet hatte, machte er sich an das Porträt des Bruders Thomas, der ihm 1954 in seinem Haus in Kilchberg in der Schweiz Modell saß. Thomas Mann war zwar mit der dritten, stilisierten Fassung, die den repräsentativen Schriftsteller zeigte, zufrieden. Doch erst 1961 gelang Seitz das, was er eigentlich wollte: die Darstellung des inneren Wesens des Schriftstellers, verbunden mit seiner eigenen Individualität. Dagegen hat sich Seitz jahrelang mit dem Kopf Brechts beschäftigt, begann aber die Arbeit an dessen Porträt erst nach dem Tode Brechts im Jahre 1956. Was macht eigentlich den wahren Brecht aus? Seitz wollte keinen vorübergehenden Moment festhalten, sondern das Typische, das Gültige, das Ureigentliche in der Haltung des verehrten Freundes. 1967 entstand sein letztes Brecht-Porträt: Der klaren Form wurde jetzt durch die schrundige, aufgekratzte »Haut«, die »Verletzungen« und »Verwundbarkeit« bezeugen, ein unruhiges Element entgegengesetzt. Mit Francois Villon wiederum hat er ein imaginäres Bildnis des französischen Renaissancepoeten geschaffen, der sich gegen die Gesetze der Gesellschaft gestellt hatte. Brecht und Villon flossen für Seitz ineinander, daraus formte er schrittweise sein Villon-Bildnis, das für ihn das wahre war.
Dem Seitzschen Werk, in dem der Menschenleib tektonisch von innen her aufgebaut wird, stehen die gestisch expressiven Bildschöpfungen Helge Leibergs gegenüber, auch er figürlicher Künstler, aber einer anderen Generation angehörend. In den 1970er Jahren hatte er bei Gerhard Kettner in Dresden studiert und war 1984 von Ost- nach West-Berlin übergesiedelt. Seine intensive Beschäftigung mit anderen Medien, Free Jazz, Neue Musik, Film, Tanz und deren simultaner Einsatz in Performances, hat ihre bildnerische Entsprechung in seinen Bronzen und Zeichnungen gefunden. Der Tanz wird hier zum Lebenstanz: In ekstatischer Lebensfreude bewegen sich seine zeichenhaften Figuren mit ihren überlangen Gliedern in ausladender Gestik, in Rhythmen, die der Jazzmusik vergleichbar scheinen. Sie bewegen sich allein in selbstvergessener Hingabe, tanzen zu zweit den »Pas de deux« (2011) – in ausgelassener Gebärde wie intimer Zuneigung, sie steigern sich zur Ekstase, sie biegen, drehen, wenden sich, verrenken den Körper, rennen, hüpfen, springen, wirbeln durch den Raum, sie wachsen über sich hinaus. Ja, sie tanzen für das Leben, tanzen – so ist treffend gesagt worden – ihre Absichten, Träume und Visionen wach. Ein ganzes Vokabular an Bewegungs- und Ausdrucksstudien vom Ausdruckstanz bis zum Jazz Dance steht Leiberg zur Verfügung. Aber letztlich ist es dann doch nur der eine Moment, der von den »bewegenden« Figuren bleibt, fixiert in Bronze, als Lithografie oder mit Acrylfarbe auf Leinwand. Hier werden die Figuren konterkariert mit Farbfeldern, die aber keine räumliche Illusion vermitteln wollen, sondern allenfalls einen malerischen Raum andeuten. Und sind sie jetzt auch auf diesen einen Moment fixiert, erwecken sie doch den Eindruck, dass sie jeden Augenblick wieder in Bewegung übergehen werden.
Leibergs Bronzefiguren, die auf das Wesentliche konzentriert sind, berühren auch deshalb, weil sie in ihrer Zerbrechlichkeit gefährdet wirken. Aber sie behaupten ihren eigenen Raum – Leiberg denkt immer den Raum mit, in dem er seine Figuren agieren lässt. Seine Figuren sind zu Zeichen des Menschen geworden, in ihrer Haltung und Bewegung sind auch ihre Gefühle, Unterbewusstes ablesbar.
Der Mensch und seine Körpersprache – das ist das gemeinsame Thema von Seitz und Leiberg, dass sie aber auf höchst unterschiedliche Weise angehen.
Die Kunst der Liebe – Zeichnungen und Plastik von Gustav Seitz. – Pas de deux. Zeichnungen und Bronzen von Helge Leiberg. Gustav-Seitz-Museum und Museumsgarten, Platz der Jugend 3a, 15374 Müncheberg OT Trebnitz, Mi-So 11-17 Uhr und nach Vereinbarung unter 033477-549770 oder info@gustav-seitz-museum.de, bis 22. Februar 2026.