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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Der Mensch in seiner Körpersprache

Der Bild­hau­er und Zeich­ner Gustav Seitz, der 25 Jah­re – von Rei­sen und kriegs­be­ding­ten Unter­bre­chun­gen abge­se­hen – in Ber­lin ver­brach­te, war 1958 nach Ham­burg gegan­gen, wo ihm dann nur noch ein gutes Lebens­jahr­zehnt blieb. Er, der an den Kunst­hoch­schu­len in West- wie in Ost­ber­lin gear­bei­tet hat­te und wegen sei­ner Ost­kon­tak­te im Westen scharf kri­ti­siert wur­de, reprä­sen­tier­te die gegen­ständ­li­che Bild­haue­rei in der DDR wie in der Bun­des­re­pu­blik. Er ging vom Natur­stu­di­um aus und streb­te in Respekt vor der klas­si­schen Anti­ke nach einer Ver­bin­dung von leben­di­ger Sinn­lich­keit und zwang­lo­ser Form. Der fran­zö­si­sche Mei­ster Ari­sti­de Mail­lol war sein domi­nie­ren­des Vor­bild. Doch wäh­rend des­sen Frau­en­ak­te als Ani­ma­tio­nen der Ele­men­te ver­stan­den wer­den kön­nen, ging es Seitz mehr um den ein­zi­gen »eigent­li­chen Moment« im krea­tür­lich-sinn­li­chen Leben des Menschen.

In einer Dop­pel­aus­stel­lung kon­fron­tiert das Gustav-Seitz-Muse­um im ost­bran­den­bur­gi­schen Treb­nitz, das über den Nach­lass des Bild­hau­ers ver­fügt, Pla­sti­ken und Zeich­nun­gen von Seitz mit sol­chen des Zeich­ners, Malers, Bild­hau­ers, Musi­kers und Per­for­mers Hel­ge Lei­berg, der in Ber­lin und Wer­big bei See­low sei­nen Wohn­sitz hat. Für Seitz war schon 1947 die lebens­gro­ße Bron­ze »Eva« ein gro­ßer Wurf gewe­sen, ein Werk von archai­scher Stren­ge wie leib­li­cher Leben­dig­keit, das eine inne­re Hal­tung, eine Lebens­ein­stel­lung vor­präg­te. In ihrem ver­hal­te­nen Bewe­gungs­mo­ment soll­te sich dann die »Gefes­sel­te« (1949) von der sta­tua­ri­schen »Eva« unter­schei­den: Sie ver­harrt im Schritt, hat die Arme vor dem Kör­per über­ein­an­der­ge­legt und hält den Kopf leicht gesenkt – eine Pas­si­ons­fi­gur, deren Fes­se­lungs­mo­tiv bis­her vor­nehm­lich in Män­ner­ak­ten gestal­tet wur­de. Mit jeweils anders ver­schränk­ten Glie­dern sei­ner weib­li­chen Akt­fi­gu­ren hat Seitz dann immer wie­der neue pla­sti­sche Kom­po­si­tio­nen gefun­den – in sinn­li­cher Aus­strah­lung, in sich ver­sun­ken oder in der tra­di­tio­nel­len Wür­de­for­mel des Sit­zens und Thro­nens. Das maß­stab­set­zen­de Käthe-Koll­witz-Denk­mal, das die Künst­le­rin als vor­ge­beugt sit­zen­de alte Frau, mit einer Zei­chen­map­pe neben sich und der rech­ten Hand mit dem Koh­le­stift auf dem Schoß, zeigt, ist 1960 auf dem Käthe-Koll­witz-Platz in Ber­lin Prenz­lau­er Berg auf­ge­stellt wor­den. Ganz anders der über­le­bens­gro­ße, mene­te­kel­haft wir­ken­de »Geschla­ge­ne Cat­cher« (1966), ein in sei­ner Men­schen­wür­de ver­letz­ter, zum Tor­so ver­stüm­mel­ter Kämp­fer, der Täter und Opfer zugleich in einer Gestalt ist. Die monu­men­ta­le Lie­ge­fi­gur »Gro­ße Danae« (1968) im Muse­ums­gar­ten wie­der­um ist ganz Erwar­tung und Hin­ge­bung, spi­ri­tu­ell eben­so wie sinn­lich – die Glie­der schei­nen frei über dem Stein­sockel zu schweben.

In sei­nem zeich­ne­ri­schen wie pla­sti­schen Spät­werk scheint Seitz dann nahe­zu vom Eros über­wäl­tigt wor­den zu sein – er hat die mensch­li­che Gestalt als Tor­so, als auf­stei­gen­de Ver­ti­ka­le, als männ­li­che und weib­li­che Form, als Gegen­sät­ze wie sich ergän­zen­de Paa­re, in der inti­men Begeg­nung, als Ido­le geformt, auf die Brü­ste, die Hüf­te und das Gesäß kon­zen­triert, mit einem hohen Abstrak­ti­ons­grad, dabei die Grund­for­men Qua­drat und Kreis, Kubus und Kugel bevor­zu­gend. Die »Por­ta d’amore«, eine zwei­flü­ge­li­ge Bron­ze­tür am Muse­um für Kunst und Gewer­be in Ham­burg, ist nach Seitz’ Tod 1969 von sei­nem Schü­ler Edgar Augu­stin selb­stän­dig aus vor­han­de­nen klein­for­ma­ti­gen Reli­efs zusam­men­ge­fügt wor­den: 41 Akt-Dar­stel­lun­gen in einem unge­heu­ren Erfin­dungs­reich­tum, der auch höchst inti­me Posen miteinschließt.

Seitz war auch einer der gro­ßen Por­trä­ti­sten sei­ner Zeit. Er hat vie­le Auf­trags­ar­bei­ten für histo­ri­sche Per­sön­lich­kei­ten, für Poli­ti­ker und bedeu­ten­de Künst­ler sei­ner Gegen­wart geschaf­fen. Bei man­chen ist unser Bild von ihnen durch sei­ne Arbei­ten geprägt wor­den. Nach­dem er im Auf­trag der Ost­ber­li­ner Aka­de­mie der Kün­ste das Por­trät von Hein­rich Mann voll­endet hat­te, mach­te er sich an das Por­trät des Bru­ders Tho­mas, der ihm 1954 in sei­nem Haus in Kilch­berg in der Schweiz Modell saß. Tho­mas Mann war zwar mit der drit­ten, sti­li­sier­ten Fas­sung, die den reprä­sen­ta­ti­ven Schrift­stel­ler zeig­te, zufrie­den. Doch erst 1961 gelang Seitz das, was er eigent­lich woll­te: die Dar­stel­lung des inne­ren Wesens des Schrift­stel­lers, ver­bun­den mit sei­ner eige­nen Indi­vi­dua­li­tät. Dage­gen hat sich Seitz jah­re­lang mit dem Kopf Brechts beschäf­tigt, begann aber die Arbeit an des­sen Por­trät erst nach dem Tode Brechts im Jah­re 1956. Was macht eigent­lich den wah­ren Brecht aus? Seitz woll­te kei­nen vor­über­ge­hen­den Moment fest­hal­ten, son­dern das Typi­sche, das Gül­ti­ge, das Urei­gent­li­che in der Hal­tung des ver­ehr­ten Freun­des. 1967 ent­stand sein letz­tes Brecht-Por­trät: Der kla­ren Form wur­de jetzt durch die schrun­di­ge, auf­ge­kratz­te »Haut«, die »Ver­let­zun­gen« und »Ver­wund­bar­keit« bezeu­gen, ein unru­hi­ges Ele­ment ent­ge­gen­ge­setzt. Mit Fran­cois Vil­lon wie­der­um hat er ein ima­gi­nä­res Bild­nis des fran­zö­si­schen Renais­sance­poe­ten geschaf­fen, der sich gegen die Geset­ze der Gesell­schaft gestellt hat­te. Brecht und Vil­lon flos­sen für Seitz inein­an­der, dar­aus form­te er schritt­wei­se sein Vil­lon-Bild­nis, das für ihn das wah­re war.

Dem Seit­zschen Werk, in dem der Men­schen­leib tek­to­nisch von innen her auf­ge­baut wird, ste­hen die gestisch expres­si­ven Bild­schöp­fun­gen Hel­ge Lei­bergs gegen­über, auch er figür­li­cher Künst­ler, aber einer ande­ren Gene­ra­ti­on ange­hö­rend. In den 1970er Jah­ren hat­te er bei Ger­hard Kett­ner in Dres­den stu­diert und war 1984 von Ost- nach West-Ber­lin über­ge­sie­delt. Sei­ne inten­si­ve Beschäf­ti­gung mit ande­ren Medi­en, Free Jazz, Neue Musik, Film, Tanz und deren simul­ta­ner Ein­satz in Per­for­man­ces, hat ihre bild­ne­ri­sche Ent­spre­chung in sei­nen Bron­zen und Zeich­nun­gen gefun­den. Der Tanz wird hier zum Lebens­tanz: In eksta­ti­scher Lebens­freu­de bewe­gen sich sei­ne zei­chen­haf­ten Figu­ren mit ihren über­lan­gen Glie­dern in aus­la­den­der Gestik, in Rhyth­men, die der Jazz­mu­sik ver­gleich­bar schei­nen. Sie bewe­gen sich allein in selbst­ver­ges­se­ner Hin­ga­be, tan­zen zu zweit den »Pas de deux« (2011) – in aus­ge­las­se­ner Gebär­de wie inti­mer Zunei­gung, sie stei­gern sich zur Eksta­se, sie bie­gen, dre­hen, wen­den sich, ver­ren­ken den Kör­per, ren­nen, hüp­fen, sprin­gen, wir­beln durch den Raum, sie wach­sen über sich hin­aus. Ja, sie tan­zen für das Leben, tan­zen – so ist tref­fend gesagt wor­den – ihre Absich­ten, Träu­me und Visio­nen wach. Ein gan­zes Voka­bu­lar an Bewe­gungs- und Aus­drucks­stu­di­en vom Aus­drucks­tanz bis zum Jazz Dance steht Lei­berg zur Ver­fü­gung. Aber letzt­lich ist es dann doch nur der eine Moment, der von den »bewe­gen­den« Figu­ren bleibt, fixiert in Bron­ze, als Litho­gra­fie oder mit Acryl­far­be auf Lein­wand. Hier wer­den die Figu­ren kon­ter­ka­riert mit Farb­fel­dern, die aber kei­ne räum­li­che Illu­si­on ver­mit­teln wol­len, son­dern allen­falls einen male­ri­schen Raum andeu­ten. Und sind sie jetzt auch auf die­sen einen Moment fixiert, erwecken sie doch den Ein­druck, dass sie jeden Augen­blick wie­der in Bewe­gung über­ge­hen werden.

Lei­bergs Bron­ze­fi­gu­ren, die auf das Wesent­li­che kon­zen­triert sind, berüh­ren auch des­halb, weil sie in ihrer Zer­brech­lich­keit gefähr­det wir­ken. Aber sie behaup­ten ihren eige­nen Raum – Lei­berg denkt immer den Raum mit, in dem er sei­ne Figu­ren agie­ren lässt. Sei­ne Figu­ren sind zu Zei­chen des Men­schen gewor­den, in ihrer Hal­tung und Bewe­gung sind auch ihre Gefüh­le, Unter­be­wuss­tes ablesbar.

Der Mensch und sei­ne Kör­per­spra­che – das ist das gemein­sa­me The­ma von Seitz und Lei­berg, dass sie aber auf höchst unter­schied­li­che Wei­se angehen.

Die Kunst der Lie­be – Zeich­nun­gen und Pla­stik von Gustav Seitz. – Pas de deux. Zeich­nun­gen und Bron­zen von Hel­ge Lei­berg. Gustav-Seitz-Muse­um und Muse­ums­gar­ten, Platz der Jugend 3a, 15374 Mün­che­berg OT Treb­nitz, Mi-So 11-17 Uhr und nach Ver­ein­ba­rung unter 033477-549770 oder info@gustav-seitz-museum.de, bis 22. Febru­ar 2026.