Eigentlich ist die konstituierende Sitzung eines Landtags nach der Wahl reine Routine: Das Parlament wählt einen Präsidenten oder eine Präsidentin und besetzt weitere wichtige Posten. In Thüringen endete die erste Sitzung des neugewählten Landtags im September 2024 jedoch in chaotischen Wortgefechten zwischen der AfD und den anderen Fraktionen. Nach parlamentarischer Sitte ist es Privileg der größten Fraktion, das Vorschlagsrecht für den Landtagspräsidenten zu haben. Das ist in Thüringen die AfD. Sie wurde erstmals in einem Bundesland stärkste Kraft. Doch die CDU und das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) wollten mit einem Antrag zur Geschäftsordnung das Verfahren ändern – und damit verhindern, dass die AfD den ersten Vorschlag für das präsidiale Amt machen kann.
Zu einer Abstimmung über den Antrag kam es nicht: AfD-Politiker Jürgen Treutler, der als ältester Abgeordneter die Sitzung leitete, weigerte sich, darüber abstimmen zu lassen. Er verbot Abgeordneten das Wort, ließ Mikrofone abstellen, erteilte Ordnungsrufe und unterbrach mehrfach die Sitzung. Es herrschte Chaos in Erfurter Parlament. Das nazi-kontaminierte Wort von der »Machtergreifung« waberte durchs Plenum. Nur ein Mann erkannte in diesem Tohuwabohu einen Heimvorteil: Björn Höcke, der AfD-Fraktions- und Landesparteichef. Mit strategischem Kalkül deutete er die Chaos-Sitzung als »einen Bruch mit jeder parlamentarischen Kultur«, für die allein die »Kartellparteien« verantwortlich seien.
Höcke kennt sich aus, wenn es um politische Kampfbegriffe geht. Nur wenige Monate zuvor war er im Juli 2024 wegen einer verbotenen Naziparole schuldig gesprochen worden. Das Landgericht Halle verurteilte ihn zu einer Geldstrafe von 130 Tagessätzen zu je 130 Euro wegen des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger und terroristischer Organisationen. Vor Gericht musste Höcke sich verantworten, weil er bei einem Wahlkampftermin am 12. Dezember 2023 seiner Partei im thüringischen Gera die Parole »Alles für Deutschland« angestimmt haben soll. Nach Darstellung der Staatsanwaltschaft sagte er die ersten beiden Worte und animierte durch Gesten das Publikum, den Spruch zu vervollständigen. Die Parole wurde einst von der Sturmabteilung (SA) verwendet, der paramilitärischen Kampforganisation der NSDAP – heute ist sie verboten. Die Staatsanwaltschaft hatte eine achtmonatige Bewährungsstrafe gefordert. Außerdem sollte Höcke 10.000 Euro an eine gemeinnützige Vereinigung, wie etwa die KZ-Gedenkstätte Buchenwald, zahlen. »Herr Höcke hat die Rede nur als Vorwand genutzt, um die Parole erneut zu verbreiten«, so der Staatsanwalt in seinem Plädoyer. Der Politiker habe gewusst, dass die Rede anschließend im Internet Verbreitung finden würde. Er habe die Grenzen des Sagbaren ausgetestet. Höcke hatte alle Vorwürfe zurückgewiesen und einen Freispruch gefordert.
Zuvor war er von dem Landgericht bereits verurteilt worden, weil er in einer Rede in Merseburg 2021 dieselbe verbotene Parole verwendet hatte. Das Gericht verurteilte ihn zu einer Geldstrafe über 13.000 Euro. Gegen das Urteil legte Höcke Revision ein – ohne Erfolg. Nun, im September 2025, bestätigte der Bundesgerichtshof letztinstanzlich die beiden Verurteilungen zu Geldstrafen. Der BGH folgte damit der Einschätzung des Landgerichts, wonach die Verwendung der Parole »Alles für Deutschland« strafbar ist. Die Meinungsfreiheit sei in diesem Fall zulässig eingeschränkt worden, da es sich um ein Kennzeichen einer nationalsozialistischen Organisation handelt.
Wusste Höcke nicht, was für eine Parole er da verwendet? Doch, er wusste es. Höcke hat Geschichte studiert und das Fach als Lehrer über viele Jahre unterrichtet, bevor er für die AfD in die Politik ging und einer ihrer radikalsten Vertreter wurde. Bemerkenswert ist, wie stark sich Höckes Wirken immer wieder direkt oder indirekt auf die NS-Zeit bezieht. Bereits in einem »Gesprächsband« hatte er 2018 moniert, dass »Hitler als absolut böse« dargestellt wird und das Holocaust-Mahnmal zur Erinnerung an die Ermordung von sechs Millionen europäischen Juden durch die Nationalsozialisten als »Mahnmal der Schande« bezeichnet. Die Erinnerungskultur in Deutschland möchte er in seinem Sinne verändern. Ein wichtiger Hebel dafür ist die Relativierung des Holocaust und der Kriegsschuld der Deutschen. »Die Deutschen, also unser Volk, sind das einzige Volk, das ein Denkmal der Schande in das Herz seiner Hauptstadt gepflanzt hat«, hatte er über das Mahnmal für die ermordeten Juden Europas gesagt. Und gefordert: »Wir brauchen nichts anderes als eine erinnerungspolitische Wende um 180 Grad!« Das sind allesamt keine rhetorischen »Ausrutscher«, sondern kalkulierte Tabubrüche. Damit generiert Höcke Aufmerksamkeit, um politischen Einfluss zu erlangen. Wer ist dieser Mann, der im ganzen Land Anhänger hat? Wie hat es Höcke geschafft, aus einer rechtskonservativen Partei eine vom Bundesamt für Verfassungsschutz als rechtsextremistisch eingestufte Bestrebung zu formen?
Frederik Schindler, Politikredakteur der Tageszeitung DIE WELT, hat über Jahre hinweg mit Höckes Weggefährten, Vertrauten, Kritikern und ihm selbst gesprochen, Reden analysiert und Netzwerke offengelegt – und darüber jetzt ein Buch geschrieben. Er zeigt, wie Björn Höcke systematisch Macht aufbaut – innerhalb der AfD und darüber hinaus. Schon als die AfD 2014 in den Thüringer Landtag einzog, war er der Wortführer. Einer der sich im Parlament und auf den Marktplätzen als extremer Demagoge entpuppte, der im sogenannten Flüchtlingsherbst in oft seltsam verquaster Sprache seinen Kampf gegen Überfremdung zur nationalen Mission verklärt und dazu aufruft, die AfD zu wählen, weil sie die »letzte evolutionäre Chance« Deutschlands sei. Das findet Zustimmung im Land. Nicht allein am rechten Rand, auch dort, wo sich die Mitte verortet.
Mit Präzision führt der Autor durch die Geschichte einer Familie, die tief geprägt ist durch die Vertreibung aus Ostpreußen nach dem Zweiten Weltkrieg. Schon Höckes Vater fällt auf, als er als Lehrer in der Schule NPD-Zeitungen liest. Hier wird klar, wie früh der Grundstein für späteres geschichtsrevisionistisches Denken gelegt wurde. Auch Höcke wird wie sein Vater Lehrer, ein bei seinen Schülern beliebter. Mehrfach wird er zum Vertrauenslehrer gewählt – trotz unübersehbar »gestriger« Ansichten. Im Buch heißt es: »Im Zimmer der Klasse, die er von der fünften bis zur 13. Klasse betreut, lässt er über einen langen Zeitraum eine Deutschlandkarte in den Grenzen von 1914 hängen, ähnlich wie bereits sein Vater. Als ein anderer Lehrer fragt, warum diese Karte dort noch hänge, antwortet ein Schüler: »Herr Höcke will uns einfach zeigen, wie Deutschland aussieht, wenn er uns führt!«
Heute führt Höcke nicht nur die AfD in Thüringen. Er ist der prominente Schattenmann der AfD, hinter Alice Weidel und Tino Chrupalla, die im Deutschen Bundestag der AfD-Fraktion, die mittlerweile 151 Abgeordneten umfasst, vorsitzen. Dabei hatte er nie eine Funktion in der Bundespartei. Aber das musste er auch nicht. Er prägte die AfD auch so, mit Parteitagsanträgen, mit Personalintrigen, mit weitläufigen Netzwerken wie dem »Flügel«. Er machte auf diese Weise die Partei mit zu dem, was sie heute überwiegend ist: rechtsextrem. Gegen Höcke ist bei der Besetzung von Posten und Positionen kaum noch etwas durchzubringen. Höcke hat die AfD in seinem Bundesland Thüringen so erfolgreich geführt, dass sie in Meinungsumfragen zur stärksten politischen Partei aufgestiegen ist.
Schindlers Recherchen lassen uns in die Niederungen der Partei blicken. Wir erfahren viel über Höckes engsten Kreis: seine Vordenker & Taktgeber, Strippenzieher, & Organisatoren, allesamt loyal und radikal. Mit 32,8 Prozent landet die von ihm geführte Partei bei der letzten Landtagswahl mit großem Abstand von über neun Prozent vor der CDU auf Platz Eins. Doch niemand will mit ihr regieren. Weil sie aber ein Drittel der Mandate erringt, kann sie künftig mittels Sperrminorität wichtige Entscheidung blockieren. So ist die AfD erstmals in einer Machtposition. Doch Höcke will mehr. Er will nicht nur eine homogene deutsche Gesellschaft errichten, er will Ministerpräsident werden. Und die Aussichten stehen nicht schlecht. Ein zukünftiger Ministerpräsident einer Partei, die der Verfassungsschutz als zu Teilen »gesichert rechtsextrem« einstuft? Das demokratische Parlament als Ort, die liberale Demokratie abzuschaffen?
Festzuhalten nach der Lektüre bleibt: Die AfD ist keine normale Partei, sondern vor allem eine spezielle Ausformung einer besonders rechten Partei, die immer weiter sich dorthin entwickelt, wo Höcke immer schon war.
Wer Höckes Wirkmacht verstehen will, sollte das Buch lesen. Frederik Schindler ist eine bemerkenswerte Mischung aus persönlicher Biografie und politischer Analyse des Lebens und des Denkens von Björn Höcke gelungen: faktenbasiert, nüchtern und erhellend. Die AfD hat sich mit Höcke versöhnt, sie braucht und nutzt ihn. Sein Aufstieg ist mehr als eine bloße Verschiebung parteipolitischer Kräfteverhältnisse. Er ist ein Symptom einer tieferliegenden Krise unserer Demokratie – und zugleich deren gefährlichster Beschleuniger.
Schindler, Frederik: Höcke – Ein Rechtsextremist auf dem Weg zur Macht, Herder, 272 S., 22 €.