Auch ich habe einmal mein Herz in Heidelberg verloren, zumindest ein klitzekleines bisschen, als junger Mann, in den frühen 1960ern. Mit Freunden auf Fahrradtour durch deutsche Lande, lernte ich in der Jugendherberge ein Meisje kennen, ein holländisches Mädchen, das mit ihren Freundinnen die Stadt am Neckar besuchte. Wir fanden uns sympathisch, mussten uns aber bald wieder trennen, unsere jeweiligen Touren gingen in verschiedene Richtungen weiter. Zum Abschied versprachen wir uns, in Kontakt zu bleiben und regelmäßig zu schreiben. »Brieffreundschaft« nannte man das damals.
Im folgenden Jahr trampte ich durch Westeuropa. Erstes Ziel war Paris, wo die ursprünglichen Markthallen noch standen, von denen ich in dem Roman Der Bauch von Paris von Émile Zola gelesen hatte. (Heute befindet sich auf dem Gelände eine Grünfläche, der Jardin Nelson Mandela.) Letzte Station der Reise war nach zwei Wochen, wie verabredet, die holländische Universitätsstadt Leiden, der Geburtsort Rembrandts, wo meine Brieffreundin wohnte. Als ich bei ihr zu Hause klingelte, öffnete die Mutter. Sie sagte mir barsch, ihre Tochter sei nicht da, und die Tür war wieder zu. Verdattert stand ich da. Kurze Zeit später kam ein Brief aus Holland mit großer Entschuldigung, aber ihre Mutter wolle, so schrieb meine Brieffreundin, aus ihrer Kriegserfahrung heraus mit Deutschen nichts mehr zu tun haben. So endete die kleine Romanze, bevor sie richtig begonnen hatte.
Diese Erinnerung kam mir in den Sinn, als ich in dem Büchlein Briefe an Gabriella blätterte, das im Juli im Heidelberger (!) Flur Verlag erschienen ist: bezaubernde Liebesbriefe des 1943 im Reichsgau Sudentenland geborenen, in Hamburg aufgewachsenen und 2024 in Berlin gestorbenen Sängers, Songwriters und Poeten Kiev Stingl. Er hatte mit mehreren heute noch bekannten Musikern zusammengearbeitet, Achim Reichel (»The Rattles«) produzierte mit ihm drei Musikalben. Das Cover des Buches nennt fünf Schallplatten, vom Erstling »Teuflisch« aus dem Jahr 1974 bis zu einem Mini-Album aus 2022, und außerdem eine Handvoll Bücher mit Poesie und Kurzprosa.
Die Kulturjournalistin und Literaturübersetzerin Alexandra Beilharz hat sich in ihrem vor zwei Jahren gegründeten Flur Verlag des Poeten angenommen und 2024 mit Mein Collier um Deinen Hals eine kleine Auswahl aus seiner Gedanken- und Ideenwelt vorgelegt. Dabei war sie in Kontakt mit Gabriele Gelinek gekommen, der Gabriella aus den Briefen. Diese hatte die Nachricht vom Tod Stingls zufälligerweise entdeckt, die ehemalige Bekanntschaft war ihr wieder in den Sinn gekommen, und in ihrem Keller fand sie tatsächlich einen Karton mit Fotos und Briefen von damals.
Wie war denn das damals, mit Gerd Stingl, der sich ab irgendwann Kiev nannte, und ihr? Im Nachwort beschreibt sie den Beginn der Romanze: »Die kleine ›affaire romantique‹ begann, als ich als 17-jährige Klosterschülerin im Zug von Osnabrück nach Hause, nach Hamburg, dem kaum 20-jährigen, damals schon imponierenden – und ziemlich gutaussehenden! – Gerd begegnete. Wir stellten fest, dass wir beide aus den einzigen beiden katholischen Gymnasien Hamburgs geflogen waren. Er hatte dabei eine etwas liberalere Variante erwischt, ich das Nonnenkloster. Wir tauschten unsere Telefonnummern aus und trafen uns dann mehrere Male in Hamburg. Und wir schrieben uns Briefe.«
Briefe wie dieser von Stingl, geschrieben in Hamburg an einem Abend, der »kalt und finster und stürmisch« war (was ja die Abende in Hamburg häufig sind): »CARA GABRIELLA, verzeih mir die poetisierung deines mädchenhaften namens, doch sie erinnert mich an seltene korallenartige kristalle, an libellenflüchtige sonnenreflexe, an hitzegeladene mittage an weißen stränden… ich schreibe dir nicht aus freundlichkeit, aus langeweile oder aus anderen nichtigen beweggründen, sondern weil du mir gefallen hast, in den wenigen minuten unserer zufälligen begegnung im zug, zwischen fenster und abteil, im licht des hereinbrechenden herbstabends.«
Habe ich damals so ähnlich geschrieben, in jungem Überschwang?
In den Briefen geht es auch um das einengende Internatsleben und um Moralvorstellungen in den frühen 1960er Jahren, einer Zeit, in der noch »der leitende Herr den leitenden Herrn mit dem Gesangbuch abschoss« (Hans Magnus Enzensberger, 1962). Gabriella war im Nonnenkloster. Wie entgingen die Briefe »den unbarmherzigen Röntgenaugen der Pforten- und Gruppennonne«? Zum Glück war ihre Mutter, »so streng sie auch sonst oft gewesen war«, bei Briefen tolerant. Stingl schickte daher seine Briefe an die Mutter, diese packte sie in einen andren Umschlag und sandte sie unter ihrem Absender an die Tochter. Die Nonnen mussten ja das Briefgeheimnis respektieren.
Die Literatur-Veranstaltung in Hamburg zur Erinnerung an Kiev Stingl, durch die Gabriele Gelinek nach sechs Jahrzehnten auf ihren ehemaligen Freund aufmerksam geworden war, wurde von dem Hamburger Schriftsteller und Journalisten Daniel Dubbe, Jahrgang 1942, organisiert, ein Weggefährte des Verstorbenen und anderer Hamburger Zeitgenossen der 1970er Jahre, von denen ich ebenfalls den einen oder anderen gekannt habe. Dubbe hat zahlreiche Romane, Reisereportagen und Erzählungen veröffentlicht, aus denen der Roman »Jungfernstieg oder Die Schüchternheit« (2009) und die Biografie über den Büchner-Preisträger Hans Erich Nossack (1901-1977) herausragen: eine »gründliche und genaue und hochwillkommene Werkbeschreibung« des Schriftstellers, notierte das Hamburger Abendblatt im Juli 2021.
Drei Monate nach dem Stingl-Buch erschien im Oktober ebenfalls im Flur Verlag eine Anthologie mit Gedichten Dubbes aus den Jahren 1972 bis 2024. Kostprobe gefällig?
»Ob meine Gedichte gut sind? / Das kann ich nicht beurteilen. / Neulich las ich Lisa eines vor. / Sie hatte noch nie eines von mir gehört. / Sie wusste nicht einmal, dass ich welche schrieb. / Als ich das Gedicht fertiggelesen hatte, / war sie ganz still. ›Was ist denn?‹ fragte ich sie / ›Ich bin überrascht. / Ich hatte das nicht von dir erwartet. / DAS HAUT MICH VOM HOCKER!‹ / Zum Glück saß sie auf einem Sofa.«
Wenn auch Sie wissen möchten, was Lisa vom Hocker gehauen hat, greifen Sie zu: Die Antwort wartet nur einen Buchdeckel entfernt. Und wenn Sie sich eine poetische Ader bewahrt haben und ihn an diesen trüben November-Abenden noch einmal spüren möchten, den Sound der frühen Jahre: Gabriella wartet auf sie.
Kiev Stingl: Briefe an Gabriella, 72 S., 14 €. – Daniel Dubbe: Stopps & Stationen, 80 S., 14,40 €, beide Flur Verlag, Heidelberg 2025.