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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Der Sound der frühen Jahre

Auch ich habe ein­mal mein Herz in Hei­del­berg ver­lo­ren, zumin­dest ein klit­ze­klei­nes biss­chen, als jun­ger Mann, in den frü­hen 1960ern. Mit Freun­den auf Fahr­rad­tour durch deut­sche Lan­de, lern­te ich in der Jugend­her­ber­ge ein Meis­je ken­nen, ein hol­län­di­sches Mäd­chen, das mit ihren Freun­din­nen die Stadt am Neckar besuch­te. Wir fan­den uns sym­pa­thisch, muss­ten uns aber bald wie­der tren­nen, unse­re jewei­li­gen Tou­ren gin­gen in ver­schie­de­ne Rich­tun­gen wei­ter. Zum Abschied ver­spra­chen wir uns, in Kon­takt zu blei­ben und regel­mä­ßig zu schrei­ben. »Brief­freund­schaft« nann­te man das damals.

Im fol­gen­den Jahr tramp­te ich durch West­eu­ro­pa. Erstes Ziel war Paris, wo die ursprüng­li­chen Markt­hal­len noch stan­den, von denen ich in dem Roman Der Bauch von Paris von Émi­le Zola gele­sen hat­te. (Heu­te befin­det sich auf dem Gelän­de eine Grün­flä­che, der Jar­din Nel­son Man­de­la.) Letz­te Sta­ti­on der Rei­se war nach zwei Wochen, wie ver­ab­re­det, die hol­län­di­sche Uni­ver­si­täts­stadt Lei­den, der Geburts­ort Rem­brandts, wo mei­ne Brief­freun­din wohn­te. Als ich bei ihr zu Hau­se klin­gel­te, öff­ne­te die Mut­ter. Sie sag­te mir barsch, ihre Toch­ter sei nicht da, und die Tür war wie­der zu. Ver­dat­tert stand ich da. Kur­ze Zeit spä­ter kam ein Brief aus Hol­land mit gro­ßer Ent­schul­di­gung, aber ihre Mut­ter wol­le, so schrieb mei­ne Brief­freun­din, aus ihrer Kriegs­er­fah­rung her­aus mit Deut­schen nichts mehr zu tun haben. So ende­te die klei­ne Roman­ze, bevor sie rich­tig begon­nen hatte.

Die­se Erin­ne­rung kam mir in den Sinn, als ich in dem Büch­lein Brie­fe an Gabri­el­la blät­ter­te, das im Juli im Hei­del­ber­ger (!) Flur Ver­lag erschie­nen ist: bezau­bern­de Lie­bes­brie­fe des 1943 im Reichs­gau Suden­ten­land gebo­re­nen, in Ham­burg auf­ge­wach­se­nen und 2024 in Ber­lin gestor­be­nen Sän­gers, Song­wri­ters und Poe­ten Kiev Stingl. Er hat­te mit meh­re­ren heu­te noch bekann­ten Musi­kern zusam­men­ge­ar­bei­tet, Achim Rei­chel (»The Ratt­les«) pro­du­zier­te mit ihm drei Musikal­ben. Das Cover des Buches nennt fünf Schall­plat­ten, vom Erst­ling »Teuf­lisch« aus dem Jahr 1974 bis zu einem Mini-Album aus 2022, und außer­dem eine Hand­voll Bücher mit Poe­sie und Kurzprosa.

Die Kul­tur­jour­na­li­stin und Lite­ra­tur­über­set­ze­rin Alex­an­dra Beil­harz hat sich in ihrem vor zwei Jah­ren gegrün­de­ten Flur Ver­lag des Poe­ten ange­nom­men und 2024 mit Mein Col­lier um Dei­nen Hals eine klei­ne Aus­wahl aus sei­ner Gedan­ken- und Ideen­welt vor­ge­legt. Dabei war sie in Kon­takt mit Gabrie­le Geli­nek gekom­men, der Gabri­el­la aus den Brie­fen. Die­se hat­te die Nach­richt vom Tod Stingls zufäl­li­ger­wei­se ent­deckt, die ehe­ma­li­ge Bekannt­schaft war ihr wie­der in den Sinn gekom­men, und in ihrem Kel­ler fand sie tat­säch­lich einen Kar­ton mit Fotos und Brie­fen von damals.

Wie war denn das damals, mit Gerd Stingl, der sich ab irgend­wann Kiev nann­te, und ihr? Im Nach­wort beschreibt sie den Beginn der Roman­ze: »Die klei­ne ›affai­re roman­tique‹ begann, als ich als 17-jäh­ri­ge Klo­ster­schü­le­rin im Zug von Osna­brück nach Hau­se, nach Ham­burg, dem kaum 20-jäh­ri­gen, damals schon impo­nie­ren­den – und ziem­lich gut­aus­se­hen­den! – Gerd begeg­ne­te. Wir stell­ten fest, dass wir bei­de aus den ein­zi­gen bei­den katho­li­schen Gym­na­si­en Ham­burgs geflo­gen waren. Er hat­te dabei eine etwas libe­ra­le­re Vari­an­te erwischt, ich das Non­nen­klo­ster. Wir tausch­ten unse­re Tele­fon­num­mern aus und tra­fen uns dann meh­re­re Male in Ham­burg. Und wir schrie­ben uns Briefe.«

Brie­fe wie die­ser von Stingl, geschrie­ben in Ham­burg an einem Abend, der »kalt und fin­ster und stür­misch« war (was ja die Aben­de in Ham­burg häu­fig sind): »CARA GABRIELLA, ver­zeih mir die poe­ti­sie­rung dei­nes mäd­chen­haf­ten namens, doch sie erin­nert mich an sel­te­ne koral­len­ar­ti­ge kri­stal­le, an libel­len­flüch­ti­ge son­nen­re­fle­xe, an hit­ze­ge­la­de­ne mit­ta­ge an wei­ßen strän­den… ich schrei­be dir nicht aus freund­lich­keit, aus lan­ge­wei­le oder aus ande­ren nich­ti­gen beweg­grün­den, son­dern weil du mir gefal­len hast, in den weni­gen minu­ten unse­rer zufäl­li­gen begeg­nung im zug, zwi­schen fen­ster und abteil, im licht des her­ein­bre­chen­den herbstabends.«

Habe ich damals so ähn­lich geschrie­ben, in jun­gem Überschwang?

In den Brie­fen geht es auch um das ein­engen­de Inter­nats­le­ben und um Moral­vor­stel­lun­gen in den frü­hen 1960er Jah­ren, einer Zeit, in der noch »der lei­ten­de Herr den lei­ten­den Herrn mit dem Gesang­buch abschoss« (Hans Magnus Enzens­ber­ger, 1962). Gabri­el­la war im Non­nen­klo­ster. Wie ent­gin­gen die Brie­fe »den unbarm­her­zi­gen Rönt­gen­au­gen der Pfor­ten- und Grup­pen­non­ne«? Zum Glück war ihre Mut­ter, »so streng sie auch sonst oft gewe­sen war«, bei Brie­fen tole­rant. Stingl schick­te daher sei­ne Brie­fe an die Mut­ter, die­se pack­te sie in einen and­ren Umschlag und sand­te sie unter ihrem Absen­der an die Toch­ter. Die Non­nen muss­ten ja das Brief­ge­heim­nis respektieren.

Die Lite­ra­tur-Ver­an­stal­tung in Ham­burg zur Erin­ne­rung an Kiev Stingl, durch die Gabrie­le Geli­nek nach sechs Jahr­zehn­ten auf ihren ehe­ma­li­gen Freund auf­merk­sam gewor­den war, wur­de von dem Ham­bur­ger Schrift­stel­ler und Jour­na­li­sten Dani­el Dub­be, Jahr­gang 1942, orga­ni­siert, ein Weg­ge­fähr­te des Ver­stor­be­nen und ande­rer Ham­bur­ger Zeit­ge­nos­sen der 1970er Jah­re, von denen ich eben­falls den einen oder ande­ren gekannt habe. Dub­be hat zahl­rei­che Roma­ne, Rei­se­re­por­ta­gen und Erzäh­lun­gen ver­öf­fent­licht, aus denen der Roman »Jung­fern­stieg oder Die Schüch­tern­heit« (2009) und die Bio­gra­fie über den Büch­ner-Preis­trä­ger Hans Erich Nossack (1901-1977) her­aus­ra­gen: eine »gründ­li­che und genaue und hoch­will­kom­me­ne Werk­be­schrei­bung« des Schrift­stel­lers, notier­te das Ham­bur­ger Abend­blatt im Juli 2021.

Drei Mona­te nach dem Stingl-Buch erschien im Okto­ber eben­falls im Flur Ver­lag eine Antho­lo­gie mit Gedich­ten Dub­bes aus den Jah­ren 1972 bis 2024. Kost­pro­be gefällig?

»Ob mei­ne Gedich­te gut sind? /​ Das kann ich nicht beur­tei­len. /​ Neu­lich las ich Lisa eines vor. /​ Sie hat­te noch nie eines von mir gehört. /​ Sie wuss­te nicht ein­mal, dass ich wel­che schrieb. /​ Als ich das Gedicht fer­tig­ge­le­sen hat­te, /​ war sie ganz still. ›Was ist denn?‹ frag­te ich sie /​ ›Ich bin über­rascht. /​ Ich hat­te das nicht von dir erwar­tet. /​ DAS HAUT MICH VOM HOCKER!‹ /​ Zum Glück saß sie auf einem Sofa.«

Wenn auch Sie wis­sen möch­ten, was Lisa vom Hocker gehau­en hat, grei­fen Sie zu: Die Ant­wort war­tet nur einen Buch­deckel ent­fernt. Und wenn Sie sich eine poe­ti­sche Ader bewahrt haben und ihn an die­sen trü­ben Novem­ber-Aben­den noch ein­mal spü­ren möch­ten, den Sound der frü­hen Jah­re: Gabri­el­la war­tet auf sie.

 Kiev Stingl: Brie­fe an Gabri­el­la, 72 S., 14 €. – Dani­el Dub­be: Stopps & Sta­tio­nen, 80 S., 14,40 €, bei­de Flur Ver­lag, Hei­del­berg 2025.