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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Die deutsche Staatsräson

Die palä­sti­nen­si­sche Kin­der­ärz­tin Dr. Alaa al-Naj­jar behan­del­te Opfer israe­li­scher Angrif­fe im Gaza­strei­fen. Dabei muss­te sie schockiert die Ein­lie­fe­rung der ver­brann­ten Lei­chen von neun ihrer zehn Kin­der erle­ben. Das jüng­ste war sechs Mona­te alt, das älte­ste zwölf Jah­re. Ihr Mann hat­te beim Bom­ben­an­griff auf das Haus der Fami­lie schwe­re Ver­let­zun­gen erlitten.

Der kur­ze Bericht über die Tra­gö­die macht fas­sungs­los. Kön­nen wir mit­füh­len, wenig­stens eine Minu­te schwei­gend nach­den­ken? Die Tra­gö­die der Opfer ist das Ver­bre­chen der Täter. Genau­er: Ein Staats­ver­bre­chen, dem inzwi­schen zehn­tau­sen­de Men­schen, vom Säug­ling bis zum Greis, zum Opfer gefal­len sind. Eigent­lich müss­te jeder Tote einen Namen, eine Geschich­te bekom­men, um betrau­ert wer­den zu kön­nen. Doch dazu feh­len Zeit und see­li­sche Kraft, denn das Mor­den geht tag­täg­lich wei­ter. Die Men­schen in Palä­sti­na sind nicht nur Opfer eines Völ­ker­mor­des sei­tens Isra­els, son­dern auch der deut­schen Waf­fen, der deut­schen Staats­rä­son. Über die ver­brann­ten Kin­der von Alaa al-Naj­jar berich­tet Maha Hussai­ni aus Gaza-Stadt im Online­ma­ga­zin Sicht vom Hoch­blau­en von Eve­lyn Hecht-Galin­ski, deren Vater Heinz Galin­ski frü­her Prä­si­dent des Zen­tral­ra­tes der Juden in Deutsch­land war.

Die staats­tra­gen­den Medi­en »ver­scho­nen« uns mit sol­chen Berich­ten. Mel­dun­gen der Nach­rich­ten­agen­tur dpa wir­ken wie offi­zi­el­le Ver­laut­ba­run­gen der Pres­se­stel­le der IDF, der israe­li­schen Streit­kräf­te, die dpa meist auch unge­prüft über­nimmt. Das klingt dann so: »Die israe­li­sche Armee soll nach dem Wil­len der Regie­rung den Gaza­strei­fen erobern und auf Dau­er besetzt hal­ten (…). (Das Sicher­heits­ka­bi­nett um Mini­ster­prä­si­dent Netan­ja­hu beschloss einen Plan,) die palä­sti­nen­si­sche Bevöl­ke­rung vom Nor­den in den Süden zu bewe­gen (…), zu ihrem eige­nen Schutz« (dpa, 6.5.). Unmensch­lich­keit in Form bana­ler Sach­lich­keit. Die Lügen der israe­li­schen Regie­rung wer­den unge­prüft über­nom­men; die gro­ßen Medi­en fun­gie­ren als Sprach­rohr einer faschi­sti­schen Regie­rung. Sind Palä­sti­nen­ser für die Leit­me­di­en kei­ne gleich­wer­ti­gen Men­schen, haben uns ihre Rech­te, ihr Schick­sal nicht zu küm­mern? Isra­el hat ein Exi­stenz­recht – die Palä­sti­nen­ser nicht? Deutsch­land hat eine Schutz­ver­ant­wor­tung? Offen­sicht­lich nicht für Palä­sti­nen­ser gegen Kriegs­ver­bre­chen, Völ­ker­mord und eth­ni­sche Säu­be­rung durch Israel.

Die Wochen­zei­tung der Frei­tag hat eine Unter­su­chung zur Bericht­erstat­tung der Tages­schau (ARD) ver­öf­fent­licht: Was erfah­ren wir über Gaza, wer kommt zu Wort? Danach sind offi­zi­el­le Ver­tre­ter Isra­els die mit Abstand häu­fig­sten Gäste in den 20-Uhr-Nach­rich­ten. Nur Isra­el bekommt regel­mä­ßig Gele­gen­heit, die eige­nen Kriegs­zie­le zu erläu­tern, ihre Deu­tung der Mili­tär­ak­tio­nen zu prä­sen­tie­ren. Wie­so neh­men wir es ein­fach hin, dass wir einer stän­di­gen Mani­pu­la­ti­on und Indok­tri­na­ti­on unter­wor­fen sind – auch und gera­de in den Öffent­lich-Recht­li­chen? Palä­sti­nen­ser kom­men seit dem 7. Okto­ber 2023 als Exper­ten in der Tages­schau nicht vor. Übri­gens: Nach einer aktu­el­len Umfra­ge leh­nen 80 Pro­zent der Bevöl­ke­rung Isra­els Kriegs­füh­rung ab – aber die Bun­des­re­gie­rung lie­fert wei­ter­hin Waffen.

Bericht über die Aus­sa­ge des in Gaza täti­gen ame­ri­ka­ni­schen Unfall­chir­ur­gen Dr. Fero­ze Sidhwa vor dem UN-Sicher­heits­rat (über­nom­men von den Nach­Denk­Sei­ten vom 31.5.): Er »beschrieb Ope­ra­tio­nen, die ohne Betäu­bung auf schmut­zi­gen Böden durch­ge­führt wur­den, und Kin­der, die auf­grund der Blocka­de von medi­zi­ni­schen Hilfs­gü­tern durch Isra­el an ver­meid­ba­ren Ursa­chen star­ben. Mit erschüt­tern­den Details berich­te­te er von der Behand­lung schwan­ge­rer Frau­en, ›deren Becken zer­stört und deren Föten in zwei Tei­le geschnit­ten wor­den waren‹, und ent­hüll­te, dass 83 Pro­zent der ame­ri­ka­ni­schen Medi­zi­ner in Gaza von Kin­dern berich­te­ten, die in den Kopf oder in die Brust geschos­sen wor­den waren.« Deutsch­land lei­stet wei­ter Bei­hil­fe, mili­tä­risch, poli­tisch und mora­lisch und macht sich damit schul­dig an die­sem Völ­ker­mord. Isra­el betreibt einen Ver­nich­tungs­krieg: Seit Anfang März wur­den kei­ne Nah­rungs­mit­tel, kein Trink­was­ser, kein Strom nach Gaza gelie­fert – eine Total­blocka­de mit dem Ziel, die Bevöl­ke­rung aus­zu­hun­gern. »Wäh­rend in Gaza Palä­sti­nen­ser ver­hun­gern, begeht die deut­sche Poli­tik fei­er­lich das 60-jäh­ri­ge Jubi­lä­um diplo­ma­ti­scher Bezie­hun­gen zu Isra­el« (der Frei­tag). Außen­mi­ni­ster Wade­phul und Bun­des­prä­si­dent Stein­mei­er besuch­ten dazu den (mut­maß­li­chen) Kriegs­ver­bre­cher Netanjahu.

Die Kriegs­ver­bre­chen, der Völ­ker­mord sind hun­dert­fach nach­ge­wie­sen, aber der Gene­ral­bun­des­an­walt wei­gert sich, Ermitt­lun­gen auf­zu­neh­men. Stän­di­ge Bom­bar­die­rung von Zivi­li­sten auch und gera­de in Schutz­zo­nen, Ein­satz von Hun­ger als Kriegs­waf­fe, etwa 200 Jour­na­li­sten und min­de­stens 1.400 Ange­hö­ri­ge des Gesund­heits­per­so­nals bei israe­li­schen Angrif­fen getö­tet, Ver­schlep­pung und Fol­ter von min­de­stens 150 Ärz­ten, syste­ma­ti­sche Zer­stö­rung der gesam­ten Infra­struk­tur und des Ver­sor­gungs­sy­stems, von Wohn­häu­sern, Kli­ni­ken und Schu­len. Isra­el betreibt die Ver­nich­tung einer wehr­lo­sen Bevöl­ke­rung. »Wäh­rend UN-Ermitt­ler in Gaza Mas­sen­grä­ber exe­ku­tier­ter Ret­tungs­kräf­te aus­he­ben – getö­tet vom israe­li­schen Mili­tär, das wochen­lang über den Tat­her­gang log –, berich­te­te Deutsch­lands größ­te Zei­tung über ein angeb­li­ches Hamas-Stra­te­gie­pa­pier, das so nie exi­stiert hat. Die Bild streu­te damit gezielt Des­in­for­ma­ti­on, die nach­weis­lich aus dem Büro des israe­li­schen Pre­miers stamm­te« (der Frei­tag).

Der Gaza­krieg ist der Gip­fel einer erbar­mungs­lo­sen Unter­drückung der Palä­sti­nen­ser, auch in den völ­ker­rechts­wid­rig besetz­ten Gebie­ten des West­jor­dan­lan­des. Deutsch­land lei­stet seit Jahr­zehn­ten täti­ge Bei­hil­fe, durch Waf­fen­lie­fe­run­gen und durch Unter­drückung von Pro­test. Laut Natio­nal­staats­ge­setz, Teil der Ver­fas­sung Isra­els, ist »Isra­el der Natio­nal­staat des jüdi­schen Vol­kes« – Nicht­ju­den gehö­ren nicht dazu. Das »Recht auf natio­na­le Selbst­be­stim­mung« im Staat gilt »ein­zig für das jüdi­sche Volk«. Gibt es eine Kri­tik an die­sem staat­li­chen Unrecht? Wird die Apart­heid­po­li­tik durch die Bun­des­re­gie­rung ver­ur­teilt? Der »jüdi­sche Sied­lungs­bau« ist nach die­sem Gesetz ein »natio­na­ler Wert«. Der Staat »ermu­tigt und unter­stützt den Bau und die Kon­so­li­die­rung jüdi­scher Sied­lun­gen« (alle Zita­te aus dem Natio­nal­staats­ge­setz). Völ­ker­recht, unzäh­li­ge UN-Reso­lu­tio­nen sind dem Staat Isra­el voll­kom­men egal. Sein Ziel ist nicht erst seit dem Mas­sa­ker in Gaza ein Groß­is­ra­el. Isra­el bean­sprucht das gan­ze Land, »from the river to the sea«, ein­schließ­lich Tei­le von Syri­en und Liba­non – und zwar ohne Palä­sti­nen­ser. Wel­cher nam­haf­te israe­li­sche Poli­ti­ker trat in den letz­ten 25 Jah­ren für die Zwei-Staa­ten-Lösung ein, die von Deutsch­land und der EU ver­bal, aber ohne jeden Nach­druck favo­ri­siert wird?

All die­se Zumu­tun­gen, Ver­bre­chen und Rechts­brü­che unter­stüt­zen nicht nur Deutsch­land, son­dern auch die EU und natür­lich die USA. Die Durch­set­zung glo­ba­ler Inter­es­sen und hege­mo­nia­ler Ansprü­che im Nahen Osten hat Vor­rang. Natür­lich hat Deutsch­land eine beson­de­re Ver­ant­wor­tung. Eine Leh­re aus dem mon­strö­sen Ver­bre­chen der indu­stri­el­len Ver­nich­tung jüdi­scher Men­schen soll­te aber die unter­schieds­lo­se Beach­tung der Men­schen­rech­te und der Gleich­wer­tig­keit aller Men­schen sein – und sicher nicht die bedin­gungs­lo­se Unter­stüt­zung eines Staa­tes, der Ver­bre­chen begeht, des­sen Mini­ster die Ver­nich­tung der Palä­sti­nen­ser ver­lan­gen, Men­schen als Tie­re bezeich­nen, sie aus­hun­gern, ver­trei­ben und bei der eth­ni­schen Säu­be­rung vor einem Ver­nich­tungs­krieg nicht zurückschrecken.

Noch ein­mal zu Dr. Sidhwa vor der UN: »Sein Bericht gip­fel­te in dem Mas­sa­ker vom 18. März im Nas­ser-Kran­ken­haus, wo an einem Mor­gen 221 Trau­ma­pa­ti­en­ten ein­ge­lie­fert wur­den – 90 von ihnen waren bereits tot, fast die Hälf­te davon Kin­der. Eine sol­che Bela­stung konn­te kein bela­ger­tes Gesund­heits­sy­stem bewäl­ti­gen. ›Eltern mer­ken sich die Klei­dung ihrer Kin­der, um ihre Über­re­ste iden­ti­fi­zie­ren zu kön­nen‹, sag­te er und deck­te die psy­cho­lo­gi­schen Fol­gen des Krie­ges auf: Fast die Hälf­te der Kin­der in Gaza ist mitt­ler­wei­le selbst­mord­ge­fähr­det und fragt: ›War­um bin ich nicht mit mei­ner Fami­lie gestorben?‹«

Wäh­rend in Den Haag, Madrid, Lon­don Hun­dert­tau­sen­de gegen die­se ver­bre­che­ri­sche Poli­tik auf die Stra­ße gehen, herrscht in Deutsch­land gespann­te Ruhe. Denn man weiß um die repres­si­ven Maß­nah­men gegen alle, die es noch wagen, gegen Isra­els Mas­sen­mord Stel­lung zu neh­men, gegen pro­pa­lä­sti­nen­si­sche Demon­stran­ten, gegen Wis­sen­schaft­le­rIn­nen und Künst­le­rIn­nen. Für Isra­el ist ohne­hin jede Per­son, jede Insti­tu­ti­on anti­se­mi­tisch, die sei­ne Poli­tik kri­ti­siert – ob UN-Gene­ral­se­kre­tär oder Inter­na­tio­na­ler Gerichts­hof. Der erbar­mungs­lo­se Krieg ohne jede mensch­li­che Rück­sicht­nah­me zeigt der Welt­öf­fent­lich­keit ein erschrecken­des Bild: Ist das die Demo­kra­tie und die Frei­heit, die der Wer­te­we­sten meint?

Der Hass, den Isra­el züch­tet, wird über Gene­ra­tio­nen wir­ken – so wie die Ver­bre­chen, die von Deut­schen an Juden ver­übt wur­den. Die Grau­sam­kei­ten, die jun­ge Sol­da­ten und Sol­da­tin­nen bege­hen, defor­miert auch ihre See­le. Und die Heu­che­lei und die Kum­pa­nei der deut­schen Poli­tik zer­stört noch mehr das Ver­trau­en in Staat und Medi­en. Die deut­sche Staats­rä­son ist falsch und verlogen.