Die palästinensische Kinderärztin Dr. Alaa al-Najjar behandelte Opfer israelischer Angriffe im Gazastreifen. Dabei musste sie schockiert die Einlieferung der verbrannten Leichen von neun ihrer zehn Kinder erleben. Das jüngste war sechs Monate alt, das älteste zwölf Jahre. Ihr Mann hatte beim Bombenangriff auf das Haus der Familie schwere Verletzungen erlitten.
Der kurze Bericht über die Tragödie macht fassungslos. Können wir mitfühlen, wenigstens eine Minute schweigend nachdenken? Die Tragödie der Opfer ist das Verbrechen der Täter. Genauer: Ein Staatsverbrechen, dem inzwischen zehntausende Menschen, vom Säugling bis zum Greis, zum Opfer gefallen sind. Eigentlich müsste jeder Tote einen Namen, eine Geschichte bekommen, um betrauert werden zu können. Doch dazu fehlen Zeit und seelische Kraft, denn das Morden geht tagtäglich weiter. Die Menschen in Palästina sind nicht nur Opfer eines Völkermordes seitens Israels, sondern auch der deutschen Waffen, der deutschen Staatsräson. Über die verbrannten Kinder von Alaa al-Najjar berichtet Maha Hussaini aus Gaza-Stadt im Onlinemagazin Sicht vom Hochblauen von Evelyn Hecht-Galinski, deren Vater Heinz Galinski früher Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland war.
Die staatstragenden Medien »verschonen« uns mit solchen Berichten. Meldungen der Nachrichtenagentur dpa wirken wie offizielle Verlautbarungen der Pressestelle der IDF, der israelischen Streitkräfte, die dpa meist auch ungeprüft übernimmt. Das klingt dann so: »Die israelische Armee soll nach dem Willen der Regierung den Gazastreifen erobern und auf Dauer besetzt halten (…). (Das Sicherheitskabinett um Ministerpräsident Netanjahu beschloss einen Plan,) die palästinensische Bevölkerung vom Norden in den Süden zu bewegen (…), zu ihrem eigenen Schutz« (dpa, 6.5.). Unmenschlichkeit in Form banaler Sachlichkeit. Die Lügen der israelischen Regierung werden ungeprüft übernommen; die großen Medien fungieren als Sprachrohr einer faschistischen Regierung. Sind Palästinenser für die Leitmedien keine gleichwertigen Menschen, haben uns ihre Rechte, ihr Schicksal nicht zu kümmern? Israel hat ein Existenzrecht – die Palästinenser nicht? Deutschland hat eine Schutzverantwortung? Offensichtlich nicht für Palästinenser gegen Kriegsverbrechen, Völkermord und ethnische Säuberung durch Israel.
Die Wochenzeitung der Freitag hat eine Untersuchung zur Berichterstattung der Tagesschau (ARD) veröffentlicht: Was erfahren wir über Gaza, wer kommt zu Wort? Danach sind offizielle Vertreter Israels die mit Abstand häufigsten Gäste in den 20-Uhr-Nachrichten. Nur Israel bekommt regelmäßig Gelegenheit, die eigenen Kriegsziele zu erläutern, ihre Deutung der Militäraktionen zu präsentieren. Wieso nehmen wir es einfach hin, dass wir einer ständigen Manipulation und Indoktrination unterworfen sind – auch und gerade in den Öffentlich-Rechtlichen? Palästinenser kommen seit dem 7. Oktober 2023 als Experten in der Tagesschau nicht vor. Übrigens: Nach einer aktuellen Umfrage lehnen 80 Prozent der Bevölkerung Israels Kriegsführung ab – aber die Bundesregierung liefert weiterhin Waffen.
Bericht über die Aussage des in Gaza tätigen amerikanischen Unfallchirurgen Dr. Feroze Sidhwa vor dem UN-Sicherheitsrat (übernommen von den NachDenkSeiten vom 31.5.): Er »beschrieb Operationen, die ohne Betäubung auf schmutzigen Böden durchgeführt wurden, und Kinder, die aufgrund der Blockade von medizinischen Hilfsgütern durch Israel an vermeidbaren Ursachen starben. Mit erschütternden Details berichtete er von der Behandlung schwangerer Frauen, ›deren Becken zerstört und deren Föten in zwei Teile geschnitten worden waren‹, und enthüllte, dass 83 Prozent der amerikanischen Mediziner in Gaza von Kindern berichteten, die in den Kopf oder in die Brust geschossen worden waren.« Deutschland leistet weiter Beihilfe, militärisch, politisch und moralisch und macht sich damit schuldig an diesem Völkermord. Israel betreibt einen Vernichtungskrieg: Seit Anfang März wurden keine Nahrungsmittel, kein Trinkwasser, kein Strom nach Gaza geliefert – eine Totalblockade mit dem Ziel, die Bevölkerung auszuhungern. »Während in Gaza Palästinenser verhungern, begeht die deutsche Politik feierlich das 60-jährige Jubiläum diplomatischer Beziehungen zu Israel« (der Freitag). Außenminister Wadephul und Bundespräsident Steinmeier besuchten dazu den (mutmaßlichen) Kriegsverbrecher Netanjahu.
Die Kriegsverbrechen, der Völkermord sind hundertfach nachgewiesen, aber der Generalbundesanwalt weigert sich, Ermittlungen aufzunehmen. Ständige Bombardierung von Zivilisten auch und gerade in Schutzzonen, Einsatz von Hunger als Kriegswaffe, etwa 200 Journalisten und mindestens 1.400 Angehörige des Gesundheitspersonals bei israelischen Angriffen getötet, Verschleppung und Folter von mindestens 150 Ärzten, systematische Zerstörung der gesamten Infrastruktur und des Versorgungssystems, von Wohnhäusern, Kliniken und Schulen. Israel betreibt die Vernichtung einer wehrlosen Bevölkerung. »Während UN-Ermittler in Gaza Massengräber exekutierter Rettungskräfte ausheben – getötet vom israelischen Militär, das wochenlang über den Tathergang log –, berichtete Deutschlands größte Zeitung über ein angebliches Hamas-Strategiepapier, das so nie existiert hat. Die Bild streute damit gezielt Desinformation, die nachweislich aus dem Büro des israelischen Premiers stammte« (der Freitag).
Der Gazakrieg ist der Gipfel einer erbarmungslosen Unterdrückung der Palästinenser, auch in den völkerrechtswidrig besetzten Gebieten des Westjordanlandes. Deutschland leistet seit Jahrzehnten tätige Beihilfe, durch Waffenlieferungen und durch Unterdrückung von Protest. Laut Nationalstaatsgesetz, Teil der Verfassung Israels, ist »Israel der Nationalstaat des jüdischen Volkes« – Nichtjuden gehören nicht dazu. Das »Recht auf nationale Selbstbestimmung« im Staat gilt »einzig für das jüdische Volk«. Gibt es eine Kritik an diesem staatlichen Unrecht? Wird die Apartheidpolitik durch die Bundesregierung verurteilt? Der »jüdische Siedlungsbau« ist nach diesem Gesetz ein »nationaler Wert«. Der Staat »ermutigt und unterstützt den Bau und die Konsolidierung jüdischer Siedlungen« (alle Zitate aus dem Nationalstaatsgesetz). Völkerrecht, unzählige UN-Resolutionen sind dem Staat Israel vollkommen egal. Sein Ziel ist nicht erst seit dem Massaker in Gaza ein Großisrael. Israel beansprucht das ganze Land, »from the river to the sea«, einschließlich Teile von Syrien und Libanon – und zwar ohne Palästinenser. Welcher namhafte israelische Politiker trat in den letzten 25 Jahren für die Zwei-Staaten-Lösung ein, die von Deutschland und der EU verbal, aber ohne jeden Nachdruck favorisiert wird?
All diese Zumutungen, Verbrechen und Rechtsbrüche unterstützen nicht nur Deutschland, sondern auch die EU und natürlich die USA. Die Durchsetzung globaler Interessen und hegemonialer Ansprüche im Nahen Osten hat Vorrang. Natürlich hat Deutschland eine besondere Verantwortung. Eine Lehre aus dem monströsen Verbrechen der industriellen Vernichtung jüdischer Menschen sollte aber die unterschiedslose Beachtung der Menschenrechte und der Gleichwertigkeit aller Menschen sein – und sicher nicht die bedingungslose Unterstützung eines Staates, der Verbrechen begeht, dessen Minister die Vernichtung der Palästinenser verlangen, Menschen als Tiere bezeichnen, sie aushungern, vertreiben und bei der ethnischen Säuberung vor einem Vernichtungskrieg nicht zurückschrecken.
Noch einmal zu Dr. Sidhwa vor der UN: »Sein Bericht gipfelte in dem Massaker vom 18. März im Nasser-Krankenhaus, wo an einem Morgen 221 Traumapatienten eingeliefert wurden – 90 von ihnen waren bereits tot, fast die Hälfte davon Kinder. Eine solche Belastung konnte kein belagertes Gesundheitssystem bewältigen. ›Eltern merken sich die Kleidung ihrer Kinder, um ihre Überreste identifizieren zu können‹, sagte er und deckte die psychologischen Folgen des Krieges auf: Fast die Hälfte der Kinder in Gaza ist mittlerweile selbstmordgefährdet und fragt: ›Warum bin ich nicht mit meiner Familie gestorben?‹«
Während in Den Haag, Madrid, London Hunderttausende gegen diese verbrecherische Politik auf die Straße gehen, herrscht in Deutschland gespannte Ruhe. Denn man weiß um die repressiven Maßnahmen gegen alle, die es noch wagen, gegen Israels Massenmord Stellung zu nehmen, gegen propalästinensische Demonstranten, gegen WissenschaftlerInnen und KünstlerInnen. Für Israel ist ohnehin jede Person, jede Institution antisemitisch, die seine Politik kritisiert – ob UN-Generalsekretär oder Internationaler Gerichtshof. Der erbarmungslose Krieg ohne jede menschliche Rücksichtnahme zeigt der Weltöffentlichkeit ein erschreckendes Bild: Ist das die Demokratie und die Freiheit, die der Wertewesten meint?
Der Hass, den Israel züchtet, wird über Generationen wirken – so wie die Verbrechen, die von Deutschen an Juden verübt wurden. Die Grausamkeiten, die junge Soldaten und Soldatinnen begehen, deformiert auch ihre Seele. Und die Heuchelei und die Kumpanei der deutschen Politik zerstört noch mehr das Vertrauen in Staat und Medien. Die deutsche Staatsräson ist falsch und verlogen.