»Am Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort« – so wird es vom Johannes-Evangelium überliefert. Indem der »Ureine« (ob er nun Jahwe, Allah oder Gott genannt wird) den Elementen Namen gab, dadurch Himmel von Erde, Land von Wasser, Licht von Dunkelheit trennte und das Urchaos in Ordnung wandelte, rief er das Nichtseiende ins Sein, erschuf er die Welt und das Leben. Kraft seines Wortes: »Es werde Licht«, sprach der Herr, »und es ward Licht« (1. Mose 1).
Von solcher Schöpfermacht des Wortes berichten alle heiligen Schriften, nicht nur die Thora, das Alte und das Neue Testament und der Koran, sondern auch die Veden des alten Indien, die fünf Ching der chinesischen Reichsreligion oder das babylonische Schöpfungsepos »Enumaelisch«. Diese Schriften gelten deshalb als heilig, kanonisch und also unfehlbar, weil sie entweder unmittelbar von Gott diktiert – »Und Jahwe sprach zu mir: ›Nimm vor dich eine große Tafel und schreibe darauf!‹« – oder von einem Boten übermittelt wurden: Mohammed empfing den Koran aus dem Mund des Erzengels Gabriel.
Die ersten Worte stammen also vom Weltenschöpfer. Und da dieser die Menschen nach seinem Ebenbild geformt hatte, waren auch sie mit (seiner) Sprache gesegnet, die deshalb in fast allen Religionen göttlichen Ursprungs ist, eine Gottesgabe. Es muss daher zu Beginn unterschiedslos auch ein und dieselbe Sprache gewesen sein. So berichtet Moses, dass der Herr den Menschen zunächst »einerlei Zunge und Sprache« in den Mund gelegt und diese Gemeinsamkeit erst später im Zorn »verwirrt« habe, als seine Geschöpfe der Größenwahn packte und sie im Turmbau zu Babel dem Himmelreich zuzustreben trachteten. Zur Strafe für ihre lästernde Tat schlug er die Menschen mit Fremdheit, so dass sie sich nur noch mit Mühe verständigen konnten, weil sie fortan mit vielerlei Zungen sprachen. Babylonische Zustände.
Nicht nur das Wort, auch die Schrift wurde in vielen Völkern als Gottes Werk angesehen, das geschriebene Wort als heilig betrachtet. Schon die Ägypter hatten ihre Hieroglyphen als »heilige Eingrabungen« verehrt, durch die allein die Erinnerung an die vergänglichen, zu Staub zerfallenden Menschen wachgehalten werden könne. Und dies galt später umso mehr für die göttlichen Offenbarungen: Erst als geschriebenes Wort wurde Religion zu einer vom Werden und Vergehen unabhängigen Instanz; sie hatte somit teil an der Ewigkeit Gottes und konnte von Generation zu Generation nahezu unverändert weitergegeben werde.
So viel zur kulturstiftenden Vorgeschichte. Die allegorische Kraft solcher Mythen und Geschichten ist kaum zu überbieten. Die Erzählungen von der Macht der Sprache, von den Schwächen und der Hybris, aber auch von der Lern- und Demutsfähigkeit der Menschen bleiben deshalb »wahr«, auch wenn die Weltentstehung, wie wir heute wissen können, nicht ganz so verlaufen ist, wie es die religiöse »Literatur« seit wenigen Jahrtausenden überliefert.
Um nur vom Wort zu sprechen: Zum einen vollzog sich die bislang bekannte Entwicklungsgeschichte des Menschen, um es pointiert zu formulieren, über lange evolutionäre Zeiten hin ebenso sprach- wie gottlos. Zum anderen liegt die Erfindung der Schrift deutlich länger zurück als der historisch definierbare Zeitraum der göttlichen Offenbarungen; so sprechen alle Indizien dafür, dass beispielsweise die Religionsstifter Abraham und Moses, sofern es sich um historische Gestalten gehandelt hat, im zweiten vorchristlichen Jahrtausend gelebt haben müssen, und das heißt, mehr als tausend Jahre nachdem sich etwa in China, Sumer oder Altägypten bereits eine Schriftkultur herausgebildet hatte.
Selbstverständlich beweisen oder widerlegen solche Schulweisheiten zunächst einmal gar nichts. Sie geben jedoch einen Vorgeschmack darauf, in welch gleichsam babylonisches Dickicht sich begibt, wer über das Phänomen der Sprache, über ihre Vielfalt und ihren Ursprung nachzudenken beginnt. Wie kommt die Sprache in die Welt, diese eigensinnige Befähigung zum Dialog, die uns Menschen wie kein anderes Merkmal sonst von den anderen Lebewesen unterscheidet? Und wie ist die kaum überschaubare Vielfalt der »natürlichen« Sprachen mit dieser Einzigartigkeit der zur Sprache fähigen Spezies Mensch in Einklang zu bringen? Nicht zuletzt: Wozu, außer zum pragmatisch motivierten Wortwechsel, zum Zählen und Erzählen, ist die Sprache mächtig? Wer sich auf die Suche nach Antworten in die Obhut der inzwischen interdisziplinären Sprachwissenschaft begibt, wird zwar um einiges schlauer, aber nicht wirklich klug. Das wachsende Wissen über die Sprachentwicklung, die Spracherzeugung und das Sprachverständnis zerfällt nach wie vor in Puzzleteile, die sich noch längst nicht zu einem Gesamtbild fügen.
Die Sprache und erst recht die Schrift sind gleichsam brandneue Phänomene in der nunmehr vier bis sechs Millionen Jahre währenden Evolutionsgeschichte der Gattung »Homo«. Durch Genanalysen und Computersimulationen konnten Molekularbiologen die Erkenntnisse der Paläoanthropologie inzwischen bestätigen, wonach sich die Sprachfähigkeit des Menschen vor frühestens 200.000 Jahren ausgebildet hat. Etwa zu diesem Zeitpunkt setzte nicht nur die Entstehung des anatomisch modernen Menschen ein und damit die Ausbildung der körperlichen Voraussetzungen für die Sprache, wie etwa ein vergrößerter Rachenraum und eine Absenkung des Kehlkopfs, zugleich fanden genetische Änderungen statt, die das Hirnvolumen wie auch die spezifischen Hirnregionen wachsen ließen, die nach heutigem Kenntnisstand für die »motorische« Sprachbildung und das »sensorische« Sprachverständnis zuständig sind. Diese Regionen wie auch bestimmte Gensequenzen, die unsere Sprachentwicklung steuern, werden immer besser erforscht.
Hier müssen wir allerdings kleinlaut einräumen: Das ist alles hochinteressant, aber Methoden und Schlussfolgerungen des wissenschaftlichen Durchbruchs sind zu verwirrend für uns Laien, als dass wir sie angemessen würdigen und entsprechend einordnen könnten. Eines hingegen lässt sich unbescheiden anmerken: Die oben aufgeworfenen Fragen bleiben auch nach solchen Fortschritten offen. Die Vererbung der Fähigkeit zur Sprachaneignung fixiert allenfalls die »materiellen«, die biochemischen Voraussetzungen, damit Sprache ausgebildet werden kann; das Wissen um diese »Anlage« erweitert aber noch nicht unser Verständnis vom konkreten Spracherwerb, zumal das Erbgut ganz sicher kein genetisches Programm enthält, um eine ganz bestimmte natürliche Sprache auszubilden. Das heißt, sowohl der Ursprung der Sprache als auch ihre Vielfalt bleiben unerklärt – dabei dürfte es doch, sofern wir von einer harmonischen Beziehung zwischen Sprache und Welt ausgehen, unmöglich so viele verschiedene Wörter für ein und denselben Gegenstand oder Sachverhalt geben. Wieso als gibt es Tausende verschiedene Sprachen?
Wie bisher können wir nach alledem wohl auch bis auf weiteres davon ausgehen, dass die spezifischen sprachlichen Fähigkeiten, unser Sprechen und unsere Wörter, unsere Ideen und Gedanken, Kulturprodukte sind, die zwar eine biologische Ausstattung zur Voraussetzung haben, aber nur in einer (inter-)aktiven Beziehung zur Welt hervorgebracht werden können. Und die, indem sie hervorgebracht werden, ihrerseits wiederum auf diese Welt einwirken – womit wir zu der in kultureller, sozialer und politischer Hinsicht wohl zentralen Frage vorstoßen: Wozu sind das Wort und die Sprache mächtig? Und zwar heute?
Mag am Anfang das Wort Gottes gewesen sein, so sind heute jedem Menschen bis zum Eintritt ins Erwachsenenalter bereits rund 50 Millionen Wörter über die Lippen gekommen. Als bliebe nichts mehr ungesagt. Und dieses ganze Gerede wurde und wird auch noch durch die rasanten Fortschritte aller Kommunikationstechniken bis ins Unermessliche vervielfältigt, so dass uns Zeitgenossen zunehmend das Gefühl bedrückt, in einem gigantischen Ozean von Wörtern und Sätzen zu versinken. Welcher Stellenwert kommt dem Wort angesichts seiner elektronischen Reproduzierbarkeit eigentlich noch zu? Und was heißt »ein Ozean«? Gibt es nicht so viele Ozeane, wie es Sprachen gibt?
Die Zustände bleiben babylonisch. Zumal »das Wort«, mag es auch durch inflationären Gebrauch an Bedeutung verlieren, einen hohen »Freiheitsgrad« behält, ganz gleich in welcher Sprache es ausgesprochen wird: Es kann Liebe stiften und Hass säen, es kann Recht sprechen und Unrecht setzen, es kann Trost spenden und ein Todesurteil verkünden. In dieser Freiheit, die oft genug missbraucht wurde und wird, liegt zugleich seine subversive Kraft, die all jene fürchten müssen, die sich im Besitz der Wahrheit wähnen, Das Wort gefährdet die auf Selbstgewissheit gründende Macht: Es öffnet die Grenzen des Bekannten, lässt uns Gewohntes in Frage stellen, es kann Irrtümer aufklären, Sehnsüchte wecken, Widerstand entfachen, es schult den Möglichkeitssinn und kann das Bewusstsein wach halten, dass das Vorherrschende weder das Einzige noch Alles ist, sondern veränderbar.
Solche Wortmacht möchte im Idealfall auch diese Zeitschrift entfalten, wie es unserem Vorbild, der Weltbühne, in den 1920er Jahren immer wieder gelungen ist, bis sie 1933 von den Nazis verboten wurde – mit gedruckten Texten, die das, was ist und wie es ist, einer kritischen, streitbaren Betrachtung unterziehen, Texte, die den Horizont erweitern. Denn allzu oft bleibt das Reden, bleibt auch ein die Sprachgrenzen überschreitendes Sprechen im gedankenverlorenen, sich seiner eigenen Wirkungen und Bedingtheiten unbewussten Dunkel. Das stumme Lesen von Geschriebenem hingegen schafft die besten Voraussetzungen für Reflexion, kognitives Verstehen und kritische Distanz. Es löst den Menschen aus der augenblicksgebundenen Kommunikation wie aus seinen situativen Bezügen und animiert zu einem Wechsel der Perspektive, es fordert und fördert die Auseinandersetzung mit Neuem, es hilft, Urteilsvermögen zu entwickeln, Werte zu setzen, Unterscheidungen und Entscheidungen zu treffen. Wer liest, lernt! Denn das Geschriebene, dessen war sich beispielsweise Franz Kafka sicher und hat es mit vielen Texten bewiesen, ist von erhellender Potenz: Es »beleuchtet die Welt«. Illumination. Aufklärung.