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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Die Macht des Wortes

»Am Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort« – so wird es vom Johan­nes-Evan­ge­li­um über­lie­fert. Indem der »Urei­ne« (ob er nun Jah­we, Allah oder Gott genannt wird) den Ele­men­ten Namen gab, dadurch Him­mel von Erde, Land von Was­ser, Licht von Dun­kel­heit trenn­te und das Urcha­os in Ord­nung wan­del­te, rief er das Nicht­sei­en­de ins Sein, erschuf er die Welt und das Leben. Kraft sei­nes Wor­tes: »Es wer­de Licht«, sprach der Herr, »und es ward Licht« (1. Mose 1).

Von sol­cher Schöp­fer­macht des Wor­tes berich­ten alle hei­li­gen Schrif­ten, nicht nur die Tho­ra, das Alte und das Neue Testa­ment und der Koran, son­dern auch die Veden des alten Indi­en, die fünf Ching der chi­ne­si­schen Reichs­re­li­gi­on oder das baby­lo­ni­sche Schöp­fungs­epos »Enumae­lisch«. Die­se Schrif­ten gel­ten des­halb als hei­lig, kano­nisch und also unfehl­bar, weil sie ent­we­der unmit­tel­bar von Gott dik­tiert – »Und Jah­we sprach zu mir: ›Nimm vor dich eine gro­ße Tafel und schrei­be dar­auf!‹« – oder von einem Boten über­mit­telt wur­den: Moham­med emp­fing den Koran aus dem Mund des Erz­engels Gabriel.

Die ersten Wor­te stam­men also vom Wel­ten­schöp­fer. Und da die­ser die Men­schen nach sei­nem Eben­bild geformt hat­te, waren auch sie mit (sei­ner) Spra­che geseg­net, die des­halb in fast allen Reli­gio­nen gött­li­chen Ursprungs ist, eine Got­tes­ga­be. Es muss daher zu Beginn unter­schieds­los auch ein und die­sel­be Spra­che gewe­sen sein. So berich­tet Moses, dass der Herr den Men­schen zunächst »einer­lei Zun­ge und Spra­che« in den Mund gelegt und die­se Gemein­sam­keit erst spä­ter im Zorn »ver­wirrt« habe, als sei­ne Geschöp­fe der Grö­ßen­wahn pack­te und sie im Turm­bau zu Babel dem Him­mel­reich zuzu­stre­ben trach­te­ten. Zur Stra­fe für ihre lästern­de Tat schlug er die Men­schen mit Fremd­heit, so dass sie sich nur noch mit Mühe ver­stän­di­gen konn­ten, weil sie fort­an mit vie­ler­lei Zun­gen spra­chen. Baby­lo­ni­sche Zustände.

Nicht nur das Wort, auch die Schrift wur­de in vie­len Völ­kern als Got­tes Werk ange­se­hen, das geschrie­be­ne Wort als hei­lig betrach­tet. Schon die Ägyp­ter hat­ten ihre Hie­ro­gly­phen als »hei­li­ge Ein­gra­bun­gen« ver­ehrt, durch die allein die Erin­ne­rung an die ver­gäng­li­chen, zu Staub zer­fal­len­den Men­schen wach­ge­hal­ten wer­den kön­ne. Und dies galt spä­ter umso mehr für die gött­li­chen Offen­ba­run­gen: Erst als geschrie­be­nes Wort wur­de Reli­gi­on zu einer vom Wer­den und Ver­ge­hen unab­hän­gi­gen Instanz; sie hat­te somit teil an der Ewig­keit Got­tes und konn­te von Gene­ra­ti­on zu Gene­ra­ti­on nahe­zu unver­än­dert wei­ter­ge­ge­ben werde.

So viel zur kul­tur­stif­ten­den Vor­ge­schich­te. Die alle­go­ri­sche Kraft sol­cher Mythen und Geschich­ten ist kaum zu über­bie­ten. Die Erzäh­lun­gen von der Macht der Spra­che, von den Schwä­chen und der Hybris, aber auch von der Lern- und Demuts­fä­hig­keit der Men­schen blei­ben des­halb »wahr«, auch wenn die Welt­ent­ste­hung, wie wir heu­te wis­sen kön­nen, nicht ganz so ver­lau­fen ist, wie es die reli­giö­se »Lite­ra­tur« seit weni­gen Jahr­tau­sen­den überliefert.

Um nur vom Wort zu spre­chen: Zum einen voll­zog sich die bis­lang bekann­te Ent­wick­lungs­ge­schich­te des Men­schen, um es poin­tiert zu for­mu­lie­ren, über lan­ge evo­lu­tio­nä­re Zei­ten hin eben­so sprach- wie gott­los. Zum ande­ren liegt die Erfin­dung der Schrift deut­lich län­ger zurück als der histo­risch defi­nier­ba­re Zeit­raum der gött­li­chen Offen­ba­run­gen; so spre­chen alle Indi­zi­en dafür, dass bei­spiels­wei­se die Reli­gi­ons­stif­ter Abra­ham und Moses, sofern es sich um histo­ri­sche Gestal­ten gehan­delt hat, im zwei­ten vor­christ­li­chen Jahr­tau­send gelebt haben müs­sen, und das heißt, mehr als tau­send Jah­re nach­dem sich etwa in Chi­na, Sumer oder Alt­ägyp­ten bereits eine Schrift­kul­tur her­aus­ge­bil­det hatte.

Selbst­ver­ständ­lich bewei­sen oder wider­le­gen sol­che Schul­weis­hei­ten zunächst ein­mal gar nichts. Sie geben jedoch einen Vor­ge­schmack dar­auf, in welch gleich­sam baby­lo­ni­sches Dickicht sich begibt, wer über das Phä­no­men der Spra­che, über ihre Viel­falt und ihren Ursprung nach­zu­den­ken beginnt. Wie kommt die Spra­che in die Welt, die­se eigen­sin­ni­ge Befä­hi­gung zum Dia­log, die uns Men­schen wie kein ande­res Merk­mal sonst von den ande­ren Lebe­we­sen unter­schei­det? Und wie ist die kaum über­schau­ba­re Viel­falt der »natür­li­chen« Spra­chen mit die­ser Ein­zig­ar­tig­keit der zur Spra­che fähi­gen Spe­zi­es Mensch in Ein­klang zu brin­gen? Nicht zuletzt: Wozu, außer zum prag­ma­tisch moti­vier­ten Wort­wech­sel, zum Zäh­len und Erzäh­len, ist die Spra­che mäch­tig? Wer sich auf die Suche nach Ant­wor­ten in die Obhut der inzwi­schen inter­dis­zi­pli­nä­ren Sprach­wis­sen­schaft begibt, wird zwar um eini­ges schlau­er, aber nicht wirk­lich klug. Das wach­sen­de Wis­sen über die Sprach­ent­wick­lung, die Sprach­er­zeu­gung und das Sprach­ver­ständ­nis zer­fällt nach wie vor in Puz­zle­tei­le, die sich noch längst nicht zu einem Gesamt­bild fügen.

Die Spra­che und erst recht die Schrift sind gleich­sam brand­neue Phä­no­me­ne in der nun­mehr vier bis sechs Mil­lio­nen Jah­re wäh­ren­den Evo­lu­ti­ons­ge­schich­te der Gat­tung »Homo«. Durch Gen­ana­ly­sen und Com­pu­ter­si­mu­la­tio­nen konn­ten Mole­ku­lar­bio­lo­gen die Erkennt­nis­se der Paläo­an­thro­po­lo­gie inzwi­schen bestä­ti­gen, wonach sich die Sprach­fä­hig­keit des Men­schen vor frü­he­stens 200.000 Jah­ren aus­ge­bil­det hat. Etwa zu die­sem Zeit­punkt setz­te nicht nur die Ent­ste­hung des ana­to­misch moder­nen Men­schen ein und damit die Aus­bil­dung der kör­per­li­chen Vor­aus­set­zun­gen für die Spra­che, wie etwa ein ver­grö­ßer­ter Rachen­raum und eine Absen­kung des Kehl­kopfs, zugleich fan­den gene­ti­sche Ände­run­gen statt, die das Hirn­vo­lu­men wie auch die spe­zi­fi­schen Hirn­re­gio­nen wach­sen lie­ßen, die nach heu­ti­gem Kennt­nis­stand für die »moto­ri­sche« Sprach­bil­dung und das »sen­so­ri­sche« Sprach­ver­ständ­nis zustän­dig sind. Die­se Regio­nen wie auch bestimm­te Gen­se­quen­zen, die unse­re Sprach­ent­wick­lung steu­ern, wer­den immer bes­ser erforscht.

Hier müs­sen wir aller­dings klein­laut ein­räu­men: Das ist alles hoch­in­ter­es­sant, aber Metho­den und Schluss­fol­ge­run­gen des wis­sen­schaft­li­chen Durch­bruchs sind zu ver­wir­rend für uns Lai­en, als dass wir sie ange­mes­sen wür­di­gen und ent­spre­chend ein­ord­nen könn­ten. Eines hin­ge­gen lässt sich unbe­schei­den anmer­ken: Die oben auf­ge­wor­fe­nen Fra­gen blei­ben auch nach sol­chen Fort­schrit­ten offen. Die Ver­er­bung der Fähig­keit zur Sprach­an­eig­nung fixiert allen­falls die »mate­ri­el­len«, die bio­che­mi­schen Vor­aus­set­zun­gen, damit Spra­che aus­ge­bil­det wer­den kann; das Wis­sen um die­se »Anla­ge« erwei­tert aber noch nicht unser Ver­ständ­nis vom kon­kre­ten Sprach­er­werb, zumal das Erb­gut ganz sicher kein gene­ti­sches Pro­gramm ent­hält, um eine ganz bestimm­te natür­li­che Spra­che aus­zu­bil­den. Das heißt, sowohl der Ursprung der Spra­che als auch ihre Viel­falt blei­ben uner­klärt – dabei dürf­te es doch, sofern wir von einer har­mo­ni­schen Bezie­hung zwi­schen Spra­che und Welt aus­ge­hen, unmög­lich so vie­le ver­schie­de­ne Wör­ter für ein und den­sel­ben Gegen­stand oder Sach­ver­halt geben. Wie­so als gibt es Tau­sen­de ver­schie­de­ne Sprachen?

Wie bis­her kön­nen wir nach alle­dem wohl auch bis auf wei­te­res davon aus­ge­hen, dass die spe­zi­fi­schen sprach­li­chen Fähig­kei­ten, unser Spre­chen und unse­re Wör­ter, unse­re Ideen und Gedan­ken, Kul­tur­pro­duk­te sind, die zwar eine bio­lo­gi­sche Aus­stat­tung zur Vor­aus­set­zung haben, aber nur in einer (inter-)aktiven Bezie­hung zur Welt her­vor­ge­bracht wer­den kön­nen. Und die, indem sie her­vor­ge­bracht wer­den, ihrer­seits wie­der­um auf die­se Welt ein­wir­ken – womit wir zu der in kul­tu­rel­ler, sozia­ler und poli­ti­scher Hin­sicht wohl zen­tra­len Fra­ge vor­sto­ßen: Wozu sind das Wort und die Spra­che mäch­tig? Und zwar heute?

Mag am Anfang das Wort Got­tes gewe­sen sein, so sind heu­te jedem Men­schen bis zum Ein­tritt ins Erwach­se­nen­al­ter bereits rund 50 Mil­lio­nen Wör­ter über die Lip­pen gekom­men. Als blie­be nichts mehr unge­sagt. Und die­ses gan­ze Gere­de wur­de und wird auch noch durch die rasan­ten Fort­schrit­te aller Kom­mu­ni­ka­ti­ons­tech­ni­ken bis ins Uner­mess­li­che ver­viel­fäl­tigt, so dass uns Zeit­ge­nos­sen zuneh­mend das Gefühl bedrückt, in einem gigan­ti­schen Oze­an von Wör­tern und Sät­zen zu ver­sin­ken. Wel­cher Stel­len­wert kommt dem Wort ange­sichts sei­ner elek­tro­ni­schen Repro­du­zier­bar­keit eigent­lich noch zu? Und was heißt »ein Oze­an«? Gibt es nicht so vie­le Ozea­ne, wie es Spra­chen gibt?

Die Zustän­de blei­ben baby­lo­nisch. Zumal »das Wort«, mag es auch durch infla­tio­nä­ren Gebrauch an Bedeu­tung ver­lie­ren, einen hohen »Frei­heits­grad« behält, ganz gleich in wel­cher Spra­che es aus­ge­spro­chen wird: Es kann Lie­be stif­ten und Hass säen, es kann Recht spre­chen und Unrecht set­zen, es kann Trost spen­den und ein Todes­ur­teil ver­kün­den. In die­ser Frei­heit, die oft genug miss­braucht wur­de und wird, liegt zugleich sei­ne sub­ver­si­ve Kraft, die all jene fürch­ten müs­sen, die sich im Besitz der Wahr­heit wäh­nen, Das Wort gefähr­det die auf Selbst­ge­wiss­heit grün­den­de Macht: Es öff­net die Gren­zen des Bekann­ten, lässt uns Gewohn­tes in Fra­ge stel­len, es kann Irr­tü­mer auf­klä­ren, Sehn­süch­te wecken, Wider­stand ent­fa­chen, es schult den Mög­lich­keits­sinn und kann das Bewusst­sein wach hal­ten, dass das Vor­herr­schen­de weder das Ein­zi­ge noch Alles ist, son­dern veränderbar.

Sol­che Wort­macht möch­te im Ide­al­fall auch die­se Zeit­schrift ent­fal­ten, wie es unse­rem Vor­bild, der Weltbühne, in den 1920er Jah­ren immer wie­der gelun­gen ist, bis sie 1933 von den Nazis ver­bo­ten wur­de – mit gedruck­ten Tex­ten, die das, was ist und wie es ist, einer kri­ti­schen, streit­ba­ren Betrach­tung unter­zie­hen, Tex­te, die den Hori­zont erwei­tern. Denn all­zu oft bleibt das Reden, bleibt auch ein die Sprach­gren­zen über­schrei­ten­des Spre­chen im gedan­ken­ver­lo­re­nen, sich sei­ner eige­nen Wir­kun­gen und Bedingt­hei­ten unbe­wuss­ten Dun­kel. Das stum­me Lesen von Geschrie­be­nem hin­ge­gen schafft die besten Vor­aus­set­zun­gen für Refle­xi­on, kogni­ti­ves Ver­ste­hen und kri­ti­sche Distanz. Es löst den Men­schen aus der augen­blicksge­bun­de­nen Kom­mu­ni­ka­ti­on wie aus sei­nen situa­ti­ven Bezü­gen und ani­miert zu einem Wech­sel der Per­spek­ti­ve, es for­dert und för­dert die Aus­ein­an­der­set­zung mit Neu­em, es hilft, Urteils­ver­mö­gen zu ent­wickeln, Wer­te zu set­zen, Unter­schei­dun­gen und Ent­schei­dun­gen zu tref­fen. Wer liest, lernt! Denn das Geschrie­be­ne, des­sen war sich bei­spiels­wei­se Franz Kaf­ka sicher und hat es mit vie­len Tex­ten bewie­sen, ist von erhel­len­der Potenz: Es »beleuch­tet die Welt«. Illu­mi­na­ti­on. Aufklärung.