Boppard im Oberen Mittelrheintal, einer Landschaft mit seit 2002 zertifiziertem UNESCO-Welterbe-Status: Im Frühstückssaal des 4-Sterne-Hotels »Bellevue« in der Rheinallee ist gedämpfte Klaviermusik vom Band zu hören. Bedirndelte Frauen räumen die Tische ab, die sich nicht in Bayern oder so befinden, sondern in Rheinland-Pfalz. Überfluss am Frühstücksbuffet, was mit den Resten passiert, möchte man gar nicht wissen. Das Hotel zehrt vom Klischee der »guten alten Zeit«, es ist ein beliebtes Geschäftsmodell am »Romantischen Rhein«, was natürlich nicht verboten ist. Das Hotel wirbt mit der »Eleganz der Belle Époque«, die allerdings eher zahlungskräftigen Gästen vorbehalten ist. Und so hat in diesem Traditions-Hotel schon der ein oder andere Politiker aus Bonn oder Berlin sowie ein japanisches Kaiserpaar residiert. Historische Möbel auf schweren Teppichen prunken in den Fluretagen, der Eingang zur hauseigenen Gartenterrasse ist eisenumrankt. Schwerfällige Geranien schmoren in großen Blumenkästen auf verspielten Tischdecken in der prallen Sonne. Rheinromantik at its best. Das »Problem« mit solchen »Träumereien an preußischen Kaminen« ist, dass die eigentlichen Orte, an denen sie sich befinden, mit der grauen Realität nicht immer ganz mithalten können, der einstige Glanz bröckelt, bedingt zum Beispiel durch das deutschlandweit grassierende Ladensterben.
Vor allem die schmale Oberstraße in der Bopparder Fußgängerzone, hat schon bessere Zeiten gesehen. »Bin bis Sonntag 20.7. im Urlaub! Komme vielleicht zurück!?« vermeldet ein resignierter Besitzer eines extrem kitschigen Geschenkeladens mit Gothic touch am Rheinufer. Ein paar Häuser weiter stöbern Touristinnen begeistert in billiger Ramschware aus China, während ihre Männer sich langweilen und Ausflugsschiffe den Rhein hoch- und runterschippern und an Bord überteuerte Getränke und Snacks verkaufen. Die Kleiderstangen mit dem Mode-Potpourri des Grauens reichen der Autorin, um zu wissen, dass ihr Portemonnaie an dieser Stelle definitiv zu bleibt. Da ist sie tatsächlich eisern, ebenso wie der gleichgesinnte Gustav Hartmann – der »Eiserne Gustav« –, der im April 1928 mit seiner Droschke von Berlin nach Paris fuhr, um gegen die steigende Zahl der Automobile und dem damit verbundenen Niedergang des Droschkengewerbes aufmerksam zu machen. Der Eiserne Gustav machte auch in Boppard Halt, wo er im Bellevue eine (Wein-)Stärkung zu sich nahm und mit einem großen Blumenstrauß und dem Hoteldirektor des Bellevues an seiner Seite für die Kameras posierte. Ein Held, der für seinen ehrbaren Berufsstand kämpfte und sich nicht unterkriegen ließ, dann aber für Werbezwecke missbraucht wurde. Und derweil floss der Rhein weiter, immer weiter, so wie seit uralten Zeiten. Was er schon alles im Laufe der Jahre gesehen hat, bleibt sein Geheimnis. Bereits die Kelten siedelten nachweislich in dem von ihnen so getauften »Baudobriga«. Julius Cäsar sorgte schließlich durch seine Eroberungsfeldzüge in Germanien dafür, dass auch diese Region in den Einzugsbereich Roms gelangte: Das circa Mitte des 4. Jahrhunderts erbaute mächtige »Bodobrica«, ein 308 m x 154 m umfassendes Kastell, dessen Reste heute noch zu besichtigen sind, wird schon den ein oder anderen glücklosen Krieger eingeschüchtert haben. Aus Bodobrica wurde irgendwann Boppard.
Zeitsprung in das 18. Jahrhundert. Die Binger Gasse mündet in den »Balz«, einem dreieckigen beschaulichen Platz in einem kleinen Stadtviertel, in dem früher vor allem Winzer und Bauern wohnten. An diesem Ort, in dem Fremde von Einheimischen noch freundlich gegrüßt werden, scheint die Zeit stehengeblieben zu sein. Dort lebte die Familie Thonet, die noch nicht ahnte, dass sie einmal der Ursprung einer Weltfirma werden würde. Es war der Tischlermeister Michael Thonet (1796-1871), der unter anderem den Wiener Caféhausstuhl erschuf und damit den Weltruhm der Firma begründete. Noch heute zeugt eine Sonder-Ausstellung im Bopparder Stadtmuseum von diesem berühmten Sohn der Stadt. Und er war offenbar rechtzeitig in die Welt und vor allem nach Wien hinausgezogen, weil er in Boppard »immer ein armer Mann geblieben« wäre, so ein überlieferter Ausspruch des Fürsten von Metternich zu Thonet im Jahr 1841. Stadtauswärts in der Mainzer Straße ist von Armut jedoch gar nichts zu spüren. Weiße gediegene Villen reihen sich wie Perlen aneinander. An einer besonders schönen Villa mit der Hausnummer 17 wird man unfreiwillig an den Nationalsozialismus erinnert. Was für ein Kontrast. Es ist das Geburtshaus der Widerstandskämpferin Maria Terwiel, die am 7. Juni 1910 in Boppard geboren wurde und die man 5. August 1943 in Plötzensee hinrichtete. Ein Gedenkstein am Haus erinnert heute an die junge Frau, die Mitglied der »Roten Kapelle« war.
Zurück in das Hier und Jetzt. Ein glückloses Musikduo, bestehend aus einem eher talentfreien Panflötenspieler sowie einem ebensolchen Kontrabassspieler, der sein schweres Musikinstrument auf dem Rücken durch die Gegend tragen muss, versucht sich für ein paar Münzen an irren Freestyle-Jazzversionen von bekannten musikalischen Rührstücken. Gheorghe Zamfir würde sich im Grabe herumdrehen. Die Autorin, die kurz zuvor die wenig ansprechenden Geschäfte passiert hat, ergreift ungerührt die Flucht. Und zwar stante pede in das nächste Weinlokal in der Rheinallee, wo man sich ganz vorzüglich mit den hervorragenden Weinen der Steillage des Bopparder Hamm, einer weit ausladenden Rheinschleife, trösten kann.
Nicht-Wein-Kenner können sich dort eine kleine Weinprobe, bestehend aus 3 x 0,1 l, bestellen, und dann entscheiden, ob der Bopparder Wein und sie ewige Freunde werden. Dabei ist Vorsicht angeraten: »Als der Wirt mich heimgebracht, wankten mir die Beine. Hatt‘ durchprobt die ganze Nacht: Weine, Weine, Weine!«, dichtete einst der aus Ostpreußen stammende Berliner Redakteur Josef Wiener-Braunsberg (1866-1929), der im ca. 44 Kilometer von Boppard entfernt gelegenen Bingen Verwandte hatte – sein Onkel Philipp Wiener führte dort eine Salamander-Filiale. 1922 verarbeitete er in einem seiner Vers-Bücher unter anderem sein ganz persönliches Weinprobendesaster in der Rüdesheimer Drosselgasse.
Am nächsten Morgen ist die Weinprobe längst Geschichte. Die Sonne geht auf und die Besucherin wähnt sich inmitten einer großartigen Landschaft, die den Titel UNESCO-Welterbe zu Recht erhalten hat. Und dann geht es zunächst zwecks Wanderung mit der 1908 eröffneten Hunsrückbahn aus der Stadt hinaus in Richtung Emmelshausen. Fast 25 Minuten schnauft das Bähnchen wacker durch den Wald, überwindet dabei einen Höhenunterschied von 330 Metern und überquert zwei Viadukte, die spektakuläre Fotomotive abgeben. Dann steht natürlich auch irgendwann die obligatorische Schiffstour auf dem Rhein an, zum Beispiel bis zur Loreley und zurück. Gemächlich zieht die Landschaft und die ein oder andere grandiose Burg an einem vorbei, bis man den Ort der legendären Tragödie um die schöne Loreley erreicht hat. Und wieder hat Josef Wiener-Braunsberg einen wohlgemeinten Rat, den er in seinem Gedicht namens »Die bedrängte Loreley (eine Rheinballade)« kundtat: »Drum, Ihr Nixchen ohne Zahl, merkt daraus Euch die Moral: kämmt euch nur im Kämmerlein, doch nicht nackt und nicht am Rhein!«
Vollständig bekleidet erreicht der Besucher schließlich wieder Boppard und trollt sich in Richtung Innenstadt. Mit seinen kleinen Fachwerkhäuschen, dem schmucken Marktplatz und der St. Severus-Kirche, die zu den hervorragendsten Bauten der Spätromanik am Mittelrhein zählt sowie zur ehemaligen Klosterkirche der Karmeliter »Unserer Lieben Frau«, der 1262 gegründeten drittältesten deutschen Ordensniederlassung nach Köln und Würzburg. Tempus fugit, doch nicht an diesem heiligen Ort, so datiert zum Beispiel das Chorgestühl aus dem Jahr 1460 (ca.). Steht man davor, kommt man sich doch sehr klein vor, was vielleicht nicht ganz ohne Absicht der Erbauer war. Und während tief unten ein imaginäres Höllenfeuer brodelt, sucht die Touristin schleunigst Trost bei einem irdischen Glas Wein, wie ungezählte Menschen vor ihr. Die Sonne lässt das Glas mit seinem kostbaren Inhalt funkeln, während der Panflötenspieler und sein Freund müde vorbeiziehen, weil sie an diesem Tag nicht viel eingenommen haben. Sie versuchen es schließlich auf der Gartenterrasse des Bellevues. Drei! Vier! Musike! Bis so manch einer sein Portemonnaie öffnet – so auch die Autorin –, man aber nicht genau weiß, ob nun aus Großherzigkeit oder damit sie endlich aufhören zu spielen.
Auch Josef Wiener-Braunsberg beklagte sich damals, wenn auch auf hohem Niveau, weil er sich nie als armer Straßenmusiker durchschlagen musste. Sein »Luxus-Problem« waren damals eher die hohen Weinpreise. Und so dichtete er – auch in »Schnurriges und Knurriges. Lustige Vortragsstücke in Vers und Prosa« (Berlin 1922) enthalten – »Heute, heil’ger Dionys, du der Zecher Schutzherr, kriegt man selbst für massig Kies nur noch Rachenputzer.« Rachenputzer in Boppard? Undenkbar! Hier gibt es die besten Weine der Region. Und da kann man sich so Einiges schön trinken, wenn man will. Kulturhistorisch Interessierte, Naturliebhaber und Wanderer haben das in dieser Gegend aber gar nicht nötig.