Im Netz habe ich gelesen: »Migration ist die Bewegung von Menschen von einem Ort zum anderen, um sich an einem neuen Ort niederzulassen. Sie kann freiwillig oder unfreiwillig sein …«
Die Hintergründe, Anlässe und Umstände eines solchen gewichtigen Schrittes sind vielfältiger Natur. Migration ist ein Menschenrecht, welches ganz besonders dann bedeutsam ist, wenn Menschen an ihrem bisherigen Aufenthaltsort verfolgt, bedroht und misshandelt werden oder ihr Leben gefährdet ist. Selbstverständliche Hilfe und Unterstützung ergeben sich bereits aus dem humanistischen Anspruch der Solidarität. Die aktuelle Diskussion über Migration mit all ihren Kontroversen und rigorosen Positionen zeigt jedoch viel zu wenig Interesse für die individuellen Menschenschicksale. Und erinnert mich immer wieder an eine andere Zeit des vergangenen Jahrhunderts, die dunkelste Periode deutscher Geschichte.
Viele Menschen mussten vor den Nazis flüchten, um drohender Verfolgung und Ermordung zu entkommen. Sie waren dankbar, dass andere Länder sie aufnahmen und ihnen eine neue Heimat boten. Das Schicksal meines Mentors, Friedrich Karl Kaul, ist ein Beispiel dafür. Dieser studierte ab 1925 Rechtswissenschaften – zunächst in Heidelberg, dann in Berlin. Nach der NS-Machtübernahme wurde Kaul schon im Februar 1933 wegen seiner linksliberalen und linken Ansichten und seiner jüdischen Abstammung aus dem Referendariat entlassen, so dass er die für April 1933 angesetzte mündliche Prüfung des Zweiten Staatsexamens nicht ablegen konnte. Damit war Kauls berufliche Karriere zerstört. Er konnte weder Anwalt werden noch in den Justizdienst gehen. Kaul wandte sich linken oppositionellen Gruppen zu und durch den von ihm bewunderten, auf politische Verfahren spezialisierten Anwalt Paul Levi auch der 1924 gegründeten Roten Hilfe Deutschlands. 1935 wurde Kaul bei einer Versammlung der Roten Hilfe von der Gestapo verhaftet. Zunächst verbrachte man ihn in das Konzentrationslager Lichtenburg in Sachsen und später in das KZ Dachau.
Nur durch den Einfluss eines seiner früheren Strafrechtsprofessoren an der Berliner Universität gelang es, dass Kaul 1937 entlassen wurde – unter der Bedingung, dass sogenannte Reichsgebiet zu verlassen, nach Übersee zu gehen und nie wieder nach Deutschland zurückzukehren. Die einzige Alternative wäre der Verbleib in KZ-Haft gewesen – ein andauerndes Martyrium. Letztlich hätte er sein Leben riskiert. So entschied sich Kaul für den schweren Schritt der Ausreise in eine komplett fremde Welt. Das einzige Land, welches ihm sofort die Einreise gewährte, war Kolumbien in Südamerika. Bald fand er sich auf einem Hochseeschiff wieder und reiste in eine völlig ungewisse Zukunft. Er war auf dem Weg in ein Land, wo er niemanden kannte und auch nicht die Landessprache beherrschte. Eine solche Situation bringt zunächst neue Ängste und mögliche Gefahren mit sich. Dennoch war Kaul froh, den Nazihäschern entkommen zu können. In Kolumbien und später auch in Panama und Nicaragua schlug er sich als Bauarbeiter, Büroangestellter oder Tellerwäscher durch bis er später als »feindlicher Ausländer« in ein amerikanisches Anti-Nazicamp verbracht wurde. Von dort kehrte er nach der Zerschlagung des Hitlerfaschismus nach Deutschland zurück, um am Aufbau einer neuen antifaschistisch-demokratischen Gesellschaft mitzuwirken. Die Jahre bis dahin waren zweifellos nicht leicht, bewahrten ihn aber vor dem sicheren Tod. Spätestens Ende der 1930er Jahre hätte ihm in Dachau die Deportation in das Konzentrationslager Auschwitz gedroht. Friedrich Karl Kaul war im Jargon der Nazis ein sogenannter »Halbjude«, weil seine Mutter Jüdin war. Nahe Angehörige von ihm wurden in Auschwitz ermordet. Noch rechtzeitig gelang es, dass Kauls Eltern von Deutschland nach New York übersiedelten und so ebenfalls der späteren Ermordung entkamen.
Friedrich Karl Kaul wurde nach seiner Rückkehr nach Deutschland zunächst Justiziar des Berliner Rundfunks und erhielt im Jahr 1948 eine Zulassung als Rechtsanwalt. Vor allem in dieser Eigenschaft war er über 30 Jahre tätig. Als Nebenklagevertreter von Hinterbliebenen der in Konzentrationslagern Ermordeten setzte sich Kaul in zahlreichen Prozessen gegen nazistische Gewaltverbrecher dafür ein, dass die Täter bestraft werden. Zu seinem antifaschistischen Engagement gehörte auch der langjährige Kampf für die gerichtliche Bestrafung des Mordes an Ernst Thälmann. Darüber schrieb er auch ein Buch. Von 1971 bis 1974 verteidigte er Beate Klarsfeld im Strafprozess wegen der versuchten Entführung des Kriegsverbrechers Kurt Lischka nach Frankreich. Es entstanden zahlreiche Bücher, viele Vorlagen für Fernseh-Pitaval-Filme, die erste Krimireihe der DDR, sowie Rechtsratgebersendungen im Rundfunk und im Fernsehen.
Auf diese Weise erwarb er sich Friedrich Karl Kaul bleibende Verdienste. All das wäre nicht möglich gewesen, wenn er nicht zum Zeitpunkt höchster Not Zuflucht in Kolumbien erhalten hätte.