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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Ehrfurcht vor dem Leben

Im Netz habe ich gele­sen: »Migra­ti­on ist die Bewe­gung von Men­schen von einem Ort zum ande­ren, um sich an einem neu­en Ort nie­der­zu­las­sen. Sie kann frei­wil­lig oder unfrei­wil­lig sein …«

Die Hin­ter­grün­de, Anläs­se und Umstän­de eines sol­chen gewich­ti­gen Schrit­tes sind viel­fäl­ti­ger Natur. Migra­ti­on ist ein Men­schen­recht, wel­ches ganz beson­ders dann bedeut­sam ist, wenn Men­schen an ihrem bis­he­ri­gen Auf­ent­halts­ort ver­folgt, bedroht und miss­han­delt wer­den oder ihr Leben gefähr­det ist. Selbst­ver­ständ­li­che Hil­fe und Unter­stüt­zung erge­ben sich bereits aus dem huma­ni­sti­schen Anspruch der Soli­da­ri­tät. Die aktu­el­le Dis­kus­si­on über Migra­ti­on mit all ihren Kon­tro­ver­sen und rigo­ro­sen Posi­tio­nen zeigt jedoch viel zu wenig Inter­es­se für die indi­vi­du­el­len Men­schen­schick­sa­le. Und erin­nert mich immer wie­der an eine ande­re Zeit des ver­gan­ge­nen Jahr­hun­derts, die dun­kel­ste Peri­ode deut­scher Geschichte.

Vie­le Men­schen muss­ten vor den Nazis flüch­ten, um dro­hen­der Ver­fol­gung und Ermor­dung zu ent­kom­men. Sie waren dank­bar, dass ande­re Län­der sie auf­nah­men und ihnen eine neue Hei­mat boten. Das Schick­sal mei­nes Men­tors, Fried­rich Karl Kaul, ist ein Bei­spiel dafür. Die­ser stu­dier­te ab 1925 Rechts­wis­sen­schaf­ten – zunächst in Hei­del­berg, dann in Ber­lin. Nach der NS-Macht­über­nah­me wur­de Kaul schon im Febru­ar 1933 wegen sei­ner links­li­be­ra­len und lin­ken Ansich­ten und sei­ner jüdi­schen Abstam­mung aus dem Refe­ren­da­ri­at ent­las­sen, so dass er die für April 1933 ange­setz­te münd­li­che Prü­fung des Zwei­ten Staats­examens nicht able­gen konn­te. Damit war Kauls beruf­li­che Kar­rie­re zer­stört. Er konn­te weder Anwalt wer­den noch in den Justiz­dienst gehen. Kaul wand­te sich lin­ken oppo­si­tio­nel­len Grup­pen zu und durch den von ihm bewun­der­ten, auf poli­ti­sche Ver­fah­ren spe­zia­li­sier­ten Anwalt Paul Levi auch der 1924 gegrün­de­ten Roten Hil­fe Deutsch­lands. 1935 wur­de Kaul bei einer Ver­samm­lung der Roten Hil­fe von der Gesta­po ver­haf­tet. Zunächst ver­brach­te man ihn in das Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger Lich­ten­burg in Sach­sen und spä­ter in das KZ Dachau.

Nur durch den Ein­fluss eines sei­ner frü­he­ren Straf­rechts­pro­fes­so­ren an der Ber­li­ner Uni­ver­si­tät gelang es, dass Kaul 1937 ent­las­sen wur­de – unter der Bedin­gung, dass soge­nann­te Reichs­ge­biet zu ver­las­sen, nach Über­see zu gehen und nie wie­der nach Deutsch­land zurück­zu­keh­ren. Die ein­zi­ge Alter­na­ti­ve wäre der Ver­bleib in KZ-Haft gewe­sen – ein andau­ern­des Mar­ty­ri­um. Letzt­lich hät­te er sein Leben ris­kiert. So ent­schied sich Kaul für den schwe­ren Schritt der Aus­rei­se in eine kom­plett frem­de Welt. Das ein­zi­ge Land, wel­ches ihm sofort die Ein­rei­se gewähr­te, war Kolum­bi­en in Süd­ame­ri­ka. Bald fand er sich auf einem Hoch­see­schiff wie­der und rei­ste in eine völ­lig unge­wis­se Zukunft. Er war auf dem Weg in ein Land, wo er nie­man­den kann­te und auch nicht die Lan­des­spra­che beherrsch­te. Eine sol­che Situa­ti­on bringt zunächst neue Äng­ste und mög­li­che Gefah­ren mit sich. Den­noch war Kaul froh, den Nazi­hä­schern ent­kom­men zu kön­nen. In Kolum­bi­en und spä­ter auch in Pana­ma und Nica­ra­gua schlug er sich als Bau­ar­bei­ter, Büro­an­ge­stell­ter oder Tel­ler­wä­scher durch bis er spä­ter als »feind­li­cher Aus­län­der« in ein ame­ri­ka­ni­sches Anti-Nazi­camp ver­bracht wur­de. Von dort kehr­te er nach der Zer­schla­gung des Hit­ler­fa­schis­mus nach Deutsch­land zurück, um am Auf­bau einer neu­en anti­fa­schi­stisch-demo­kra­ti­schen Gesell­schaft mit­zu­wir­ken. Die Jah­re bis dahin waren zwei­fel­los nicht leicht, bewahr­ten ihn aber vor dem siche­ren Tod. Spä­te­stens Ende der 1930er Jah­re hät­te ihm in Dach­au die Depor­ta­ti­on in das Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger Ausch­witz gedroht. Fried­rich Karl Kaul war im Jar­gon der Nazis ein soge­nann­ter »Halb­ju­de«, weil sei­ne Mut­ter Jüdin war. Nahe Ange­hö­ri­ge von ihm wur­den in Ausch­witz ermor­det. Noch recht­zei­tig gelang es, dass Kauls Eltern von Deutsch­land nach New York über­sie­del­ten und so eben­falls der spä­te­ren Ermor­dung entkamen.

Fried­rich Karl Kaul wur­de nach sei­ner Rück­kehr nach Deutsch­land zunächst Justi­zi­ar des Ber­li­ner Rund­funks und erhielt im Jahr 1948 eine Zulas­sung als Rechts­an­walt. Vor allem in die­ser Eigen­schaft war er über 30 Jah­re tätig. Als Neben­kla­ge­ver­tre­ter von Hin­ter­blie­be­nen der in Kon­zen­tra­ti­ons­la­gern Ermor­de­ten setz­te sich Kaul in zahl­rei­chen Pro­zes­sen gegen nazi­sti­sche Gewalt­ver­bre­cher dafür ein, dass die Täter bestraft wer­den. Zu sei­nem anti­fa­schi­sti­schen Enga­ge­ment gehör­te auch der lang­jäh­ri­ge Kampf für die gericht­li­che Bestra­fung des Mor­des an Ernst Thäl­mann. Dar­über schrieb er auch ein Buch. Von 1971 bis 1974 ver­tei­dig­te er Bea­te Klars­feld im Straf­pro­zess wegen der ver­such­ten Ent­füh­rung des Kriegs­ver­bre­chers Kurt Lisch­ka nach Frank­reich. Es ent­stan­den zahl­rei­che Bücher, vie­le Vor­la­gen für Fern­seh-Pita­val-Fil­me, die erste Kri­mi­rei­he der DDR, sowie Rechts­rat­ge­ber­sen­dun­gen im Rund­funk und im Fernsehen.

Auf die­se Wei­se erwarb er sich Fried­rich Karl Kaul blei­ben­de Ver­dien­ste. All das wäre nicht mög­lich gewe­sen, wenn er nicht zum Zeit­punkt höch­ster Not Zuflucht in Kolum­bi­en erhal­ten hätte.

 

 

Ausgabe 15.16/2025