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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Ein deutscher Bestseller

»Als glück­li­che Bestim­mung gilt es mir heu­te, dass das Schick­sal mir zum Geburts­ort gera­de Brau­nau am Inn zuwies. Liegt doch die­ses Städt­chen an der Gren­ze jener zwei deut­schen Staa­ten, deren Wie­der­ver­ei­ni­gung min­de­stens uns Jün­ge­ren als eine mit allen Mit­teln durch­zu­füh­ren­de Lebens­auf­ga­be erscheint!« So beginnt das Buch »Mein Kampf«, das Adolf Hit­ler nach sei­nem geschei­ter­ten Putsch­ver­such 1924 im Lands­ber­ger Gefäng­nis ver­fasst. Hit­ler kann nicht ahnen, dass er schon neun Jah­re spä­ter Reichs­kanz­ler sein wür­de. Anson­sten hät­te er sich wohl nicht so frei­mü­tig über sei­ne Welt­an­schau­ung, sei­ne poli­ti­schen Zie­le und sei­ne poli­ti­schen Stra­te­gien geäu­ßert, die er sei­nem Chauf­feur und Duz-Freund Emil Mau­rice, frei­mü­tig und über­zeugt von sei­ner Mis­si­on, in den Block diktiert.

Mit 39 ande­ren Putsch­teil­neh­mern ist Hit­ler wäh­rend sei­ner Haft­zeit in der soge­nann­ten Festungs­ab­tei­lung unter­ge­bracht, in der die Put­schi­sten als eine von ande­ren Häft­lin­gen abge­trenn­te eige­ne, klei­ne Gemein­schaft unter aus­ge­spro­chen kom­for­ta­blen Bedin­gun­gen ihre Stra­fe ver­bü­ßen. Neben Emil Mau­rice hilft auch Rudolf Heß, Hit­lers ver­läss­li­cher poli­ti­scher Weg­ge­fähr­te und Pri­vat­se­kre­tär, bei der Nie­der­schrift des Manu­skripts. Sams­tags liest Hit­ler den mit­in­haf­tier­ten Kampf­ge­nos­sen aus den jeweils neu­en Kapi­teln. Alle sind begeistert.

Mit sei­ner Schrift will Hit­ler den Deut­schen einen geschlos­se­nen Gegen­ent­wurf zum Mar­xis­mus prä­sen­tie­ren, sei­nen Wer­de­gang zum idea­len Füh­rer des Natio­nal­so­zia­lis­mus sti­li­sie­ren, sei­nen Anspruch auf die Füh­rung der NSDAP unter­mau­ern, mit »Ver­rä­tern« des geschei­ter­ten Hit­ler­put­sches »abrech­nen« und alle Natio­na­li­sten auf die Juden als gemein­sa­men Feind ein­schwö­ren. Und schließ­lich: Hit­ler benö­tigt Geld. Er hofft dar­auf, mit den Erlö­sen aus dem Ver­kauf sei­nes Buches Anwalts­ko­sten beglei­chen zu können.

Am 18. Juli 1925 erscheint Hit­lers Pam­phlet. Im Fol­ge­jahr erscheint ein zwei­ter Band. Jetzt kön­nen nicht nur mit­in­haf­tier­te Par­tei­ka­me­ra­den lesen, wie Hit­ler denkt – und plant. Er kün­digt einen Erobe­rungs­krieg an, denn aus der »Beengt­heit des Lebens­rau­mes« des deut­schen Vol­kes ent­ste­he »das mora­li­sche Recht zur Erwer­bung frem­den Grund und Bodens«. Wort­reich schil­dert er, wie er wäh­rend sei­ner Zeit in Wien vor dem Ersten Welt­krieg zum glü­hen­den Anti­se­mi­ten wur­de. Auch die Gas­kam­mern klin­gen an: Hät­te man wäh­rend des Ersten Welt­krie­ges »zwölf- oder fünf­zehn­tau­send die­ser hebräi­schen Volks­ver­der­ber so unter Gift­gas gehal­ten, wie Hun­dert­tau­sen­de unse­rer aller­be­sten Arbei­ter aus allen Schich­ten und Beru­fen es im Fel­de erdul­den muss­ten, dann wäre das Mil­lio­nen­op­fer der Front nicht ver­geb­lich gewe­sen«. Hit­ler ent­wickelt dar­aus auch sei­ne men­schen­ver­ach­ten­de »Ras­sen­theo­rie«. Sei­ne wir­re Hetz­schrift drückt aus, was damals vie­le im völ­ki­schen und natio­nal­so­zia­li­sti­schen Lager gedacht haben.

Der NSDAP-Par­tei­ver­lag Franz Eher Nach­fol­ger GmbH preist das Buch in sei­ner Ver­lags­wer­bung als »Das Buch der Deut­schen« an. Doch die Nach­fra­ge ist eher zurück­hal­tend. Das deut­sche Volk stürmt nicht in die Buch­hand­lun­gen. Auch die öffent­li­che Reso­nanz über die Par­tei­gren­zen hin­aus bleibt über­schau­bar. Ledig­lich in eini­gen völ­ki­schen Buch­hand­lun­gen lässt der Ver­lag knall­ro­te Pla­ka­te im Sti­le der übli­chen Bekannt­ma­chun­gen natio­nal­so­zia­li­sti­scher Ver­an­stal­tun­gen auf­hän­gen. Selbst im par­tei­ei­ge­nen Völ­ki­schen Beob­ach­ter erscheint erst am 29. Juli, elf Tage nach der Aus­lie­fe­rung, eine Wer­be­an­zei­ge. Von einer »poli­ti­schen Sen­sa­ti­on«, wie spä­ter oft behaup­tet, kann also kei­ne Rede sein. Die gro­ßen deut­schen Zei­tun­gen igno­rie­ren das Buch, die libe­ra­len, lin­ken Blät­ter ohne­hin. Die bür­ger­li­che Frank­fur­ter Zei­tung atte­stiert Hit­lers Buch ein »natio­na­li­stisch-pro­le­ta­ri­sches Gedan­ken­ge­misch« und gleich­zei­tig eine »ter­ro­ri­sti­sche Dem­ago­gie«. Fazit des Rezen­sen­ten: »Die Freun­de kon­struk­ti­ver Poli­tik wer­den das Buch Hit­lers zur Hand neh­men und dar­aus sehen, wie recht sie mit allem hat­ten, was sie dach­ten. Die Zeit ist wei­ter­ge­schrit­ten; Hit­ler aber ist – voll­ends nach die­sem Selbst­be­kennt­nis – erledigt.«

Doch es gibt auch vie­le Bewun­de­rer. Zu den frü­hen Urtei­len über Hit­lers Buch gehö­ren meh­re­re Ein­trä­ge in Joseph Goeb­bels’ Tage­buch-Klad­de. Der jun­ge auf­stre­ben­de NSDAP-Funk­tio­när hat­te Hit­ler erst weni­ge Tage vor Erschei­nen per­sön­lich ken­nen­ge­lernt und am 14. Juli 1925 begei­stert notiert: »Welch eine Stim­me. Wel­che Gesten, wel­che Lei­den­schaft. Ganz wie ich ihn woll­te. Ich kann mich kaum hal­ten. Mir steht das Herz still. Ich war­te auf jedes Wort. Und jedes Wort gibt mir Recht.«

Trotz Goeb­bels Begei­ste­rung: Die erste Auf­la­ge von knapp 10.000 Exem­pla­ren ver­kauft sich nur schlep­pend. Zwar setzt der Ver­lag die Start­auf­la­ge bis Novem­ber 1925 ab und lässt noch ein­mal 8000 Exem­pla­re nach­drucken – doch es braucht drei Jah­re, bis sie Ende 1928 ver­kauft sind. Noch schlech­ter sieht es beim Ende 1926 erschie­ne­nen zwei­ten Band aus: Die 10.000 Exem­pla­re der Start­auf­la­ge wer­den erst Ende 1929 ver­kauft sein. Ab 1928 gibt es auch eine bibel­ähn­li­che »Volks­aus­ga­be«, in der bei­de Tei­le zusam­men­ge­fasst wer­den. Doch mit dem Erfolg der NSDAP bei der Reichs­tags­wahl 1930 stei­gen die Absatz­zah­len rasant. Von der ein­bän­di­gen Volks­aus­ga­be wer­den bis zur »Macht­er­grei­fung« Janu­ar 1933 knapp 300.000 Exem­pla­re ver­kauft. Heu­te wür­de man von einem Mega-Best­sel­ler spre­chen. Bis 1945 wer­den mehr als zwölf Mil­lio­nen Exem­pla­re ver­kauft – oder ver­schenkt, bei­spiels­wei­se an Braut­paa­re auf dem Stan­des­amt. In den mei­sten deut­schen Wohn­stu­ben fin­det sich das Werk des »Füh­rers« im Bücher­schrank. Min­de­stens jeder fünf­te Deut­sche wird das Buch bis 1945 ganz oder teil­wei­se gele­sen haben – so jeden­falls berich­tet es die NS-Pro­pa­gan­da. Hit­ler bringt das Buch Mil­lio­nen­ein­künf­te, die er nur – wie spä­ter fest­ge­stellt wird – unzu­rei­chend versteuert.

Histo­ri­ker sind den­noch der Mei­nung, man dür­fe die Wir­kung des Buches nicht über­schät­zen. Es sei nicht die Blau­pau­se für alles, was ab 1933 pas­siert sei. Und die NSDAP sei nicht wegen »Mein Kampf« an die Macht gekom­men. Hit­lers eigent­li­che Stär­ke sei die öffent­li­che Rede, der münd­li­che Vor­trag gewe­sen. Den­noch ist Hit­lers Buch mit mehr als 12 Mil­lio­nen gedruck­ten Exem­pla­ren (nicht gerech­net Über­set­zun­gen) bis heu­te der meist­ver­kauf­te Titel deut­scher Spra­che. Nur die Bibel über­trifft die Auflage.

Mit dem Kriegs­en­de und dem Zusam­men­bruch der NS-Dik­ta­tur ver­schwin­det auch »Mein Kampf« unter den Trüm­mern des »Tau­send­jäh­ri­gen Reichs«. Hit­lers Deut­sche üben sich nun im noto­ri­schen Beschwei­gen oder ver­lie­ren sich in ihren Aus­sa­gen und Aus­re­den im gewohn­ten rhe­to­ri­schen Schlei­er: Alle waren immer schon dage­gen und wuss­ten von nichts. Alle kann­ten das Buch, nie­mand aber will es wirk­lich gele­sen haben. Aus einem Volk von Jub­lern ist ein Volk von Stum­men geworden.

Für Ver­la­ge ist es nicht mög­lich, das Buch nach­zu­drucken. Die Alli­ier­ten über­tru­gen die Urhe­ber- und Ver­wer­tungs­rech­te des Buches auf das Land Bay­ern, da Hit­ler bis zu sei­nem Tod sei­nen offi­zi­el­len Wohn­sitz in Mün­chen hat­te. In Groß­bri­tan­ni­en und den USA durf­te das Buch wei­ter­hin gedruckt wer­den, weil der Mün­che­ner Eher-Ver­lag – in dem »Mein Kampf« ursprüng­lich erschien – in den 1930er Jah­ren die eng­lisch­spra­chi­gen Rech­te ver­kauft hat­te. Die baye­ri­sche Lan­des­re­gie­rung tat in den Fol­ge­jah­ren alles, um Neu­auf­la­gen des Buches mit straf­recht­li­chen Mit­teln zu ver­hin­dern – auch aus Respekt vor den Opfern des Natio­nal­so­zia­lis­mus. Frei­lich: Wer das Buch unbe­dingt haben woll­te, konn­te es ohne viel Auf­wand in Anti­qua­ria­ten und auf Floh­märk­ten besor­gen. Der Bun­des­ge­richts­hof hat­te 1979 ent­schie­den, dass der Besitz, Kauf und Ver­kauf anti­qua­ri­scher Exem­pla­re des Buches in Deutsch­land nicht straf­bar sind. Nur der Neu­druck des Buches war nach dem Urhe­ber­recht unzulässig.

Erst am 8. Janu­ar 2016, unmit­tel­bar nach dem Ablauf des Urhe­ber­rechts an Hit­lers Werk am 31. Dezem­ber 2015, erschien eine Neu­aus­ga­be von »Mein Kampf«eine ganz beson­de­re Aus­ga­be, eine »kri­ti­sche Edi­ti­on«, erstellt und her­aus­ge­ge­ben von Histo­ri­kern des Insti­tuts für Zeit­ge­schich­te in Mün­chen. Die etwa 2.000 Sei­ten star­ke zwei­bän­di­ge Neu­aus­ga­be »ord­net die histo­ri­schen Fak­ten ein, erklärt den Ent­ste­hungs­kon­text, legt Hit­lers gedank­li­che Vor­läu­fer offen und kon­tra­stiert sei­ne Ideen und Behaup­tun­gen mit den Ergeb­nis­sen der moder­nen For­schung«, heißt es dazu im Vorwort.

Mit der Edi­ti­on erfüll­te das Insti­tut eine dop­pel­te Auf­ga­be: Zum einen mach­te es »Mein Kampf« als unent­behr­li­che Quel­le zur Geschich­te Hit­lers und des Natio­nal­so­zia­lis­mus erst­mals in Form einer kri­tisch erschlos­se­nen und kom­men­tier­ten Gesamt­aus­ga­be der Öffent­lich­keit zugäng­lich. Zum ande­ren galt es der Gefahr ent­ge­gen­zu­tre­ten, dass Hit­lers Mach­werk unkom­men­tiert und gemein­frei vaga­bun­dier­te. Wie der Rück­blick zeigt, sind bei­de Zie­le erreicht wor­den. Nicht nur die Wis­sen­schaft ver­fügt nun über eine in der Tie­fe erschlos­se­ne Aus­ga­be des Ori­gi­nal­texts, die der Hit­ler-For­schung ein unent­behr­li­ches Arbeits­in­stru­ment zur Hand gibt. Zugleich erwies sich die zuvor häu­fig geäu­ßer­te Befürch­tung, Hit­lers ras­si­sti­sche Hetz­schrift kön­ne aktu­el­len rechts­ra­di­ka­len Ten­den­zen Auf­trieb geben, als unbe­grün­det. Die Erstel­lung des wis­sen­schaft­lich seriö­sen und öffent­lich sicht­ba­ren Refe­renz­werks, auf das sich von Beginn an die Auf­merk­sam­keit rich­te­te, hat ent­spre­chen­de Initia­ti­ven gar nicht erst auf­kom­men las­sen. Wer sich nicht durch die sei­ten­star­ken gedruck­ten Exem­pla­re wüh­len möch­te, für den gibt es seit Juli 2022 eine digi­ta­le Fas­sung kosten­los im Inter­net. Und es gibt ein Buch, das ver­ständ­lich und fak­ten­reich »die Kar­rie­re eines deut­schen Buches« beschreibt, das der Jour­na­list und Sach­buch­au­tor Sven Felix Kel­ler­hoff ver­fasst hat. Ein Auf­klä­rungs­buch im besten Sin­ne, das mit den bekann­ten Legen­den und Mythen um Hit­lers Mach­werk auf­räumt – und Hit­ler als Fäl­scher sei­ner eige­nen Bio­gra­fie entlarvt.

Ob ana­log oder digi­tal: Bei­den Büchern, kommt das Ver­dienst zu, die Debat­te um »die Bibel des Natio­nal­so­zia­lis­mus« inten­si­viert und zugleich ver­sach­licht zu haben. In Zei­ten, in der sich Erin­ne­rungs­kul­tur gegen leicht­fer­ti­ge, unwis­sen­de und beschä­men­de Nor­ma­li­sie­run­gen und Rela­ti­vie­run­gen der NS-Ver­gan­gen­heit weh­ren muss, eine wich­ti­ge und erhel­len­de Lek­tü­re. Sie kann vor allem der jün­ge­ren Gene­ra­ti­on ver­ge­gen­wär­ti­gen, dass es eine Ver­pflich­tung gibt: Sich zu erinnern!

Lese-Tipp:
Insti­tut für Zeit­ge­schich­te Mün­chen – Ber­lin: Hit­ler, Mein Kampf. Eine kri­ti­sche Edi­ti­on, https://www.mein-kampf-edition.de.
Sven Felix Kel­ler­hoff: »Mein Kampf“ – Die Kar­rie­re eines deut­schen Buches, Klett-Cot­ta, 336 S., 22,95 €.